George Orwell: 1984. George Orwell

George Orwell: 1984 - George Orwell


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Zigaretten knapp gewesen – nichts war billig und ausreichend vorhanden außer dem synthetischen Gin. Und obwohl es natürlich mit zunehmendem Alter immer schlimmer für einen wurde, war dies nicht doch ein Zeichen dafür, dass dies NICHT die natürliche Ordnung der Dinge war, wenn einem das Herz schwer wurde bei all der Unbehaglichkeit, dem Dreck und dem Mangel, den endlosen Wintern, der Klebrigkeit der eigenen Socken, den Aufzügen, die nie funktionierten, dem kalten Wasser, der grobkörnigen Seife, den zerbröselnden Zigaretten, dem Essen mit seinem merkwürdig üblen Geschmack? Warum sollte man das alles als unerträglich empfinden, wenn man nicht eine Art Urerinnerung daran hatte, dass die Dinge einmal anders gewesen waren?

      Er sah sich erneut in der Kantine um. Fast jeder hier war hässlich und wäre auch dann noch hässlich gewesen, wenn er etwas anderes als den blauen Einheitsoverall getragen hätte. Am anderen Ende des Raumes saß ein kleiner, seltsam käferartiger Mann allein an einem Tisch und trank eine Tasse Kaffee, wobei seine kleinen Augen argwöhnische Blicke von einer Seite zur anderen warfen. Wenn man sich nicht umsah, dachte Winston, war es leicht zu glauben, dass der von der Partei als Ideal aufgestellte Körpertyp – große muskulöse Jungen und vollbusige Mädchen, blond, vital, sonnenverbrannt, sorglos – wirklich existierte und sogar vorherrschte. Soweit er es beurteilen konnte, war die Mehrheit der Leute von Stützpunkt Eins klein, dunkelhaarig und hässlich. Es war merkwürdig, wie sich dieser käferähnliche Typ in den Ministerien vermehrte: kleine plumpe Männer, die bereits früh im Leben dick wurden, mit kurzen Beinen, schnellen, huschenden Bewegungen und schwabbeligen, undurchdringlichen Gesichtern mit sehr kleinen Augen. Genau dieser Typ schien unter der Herrschaft der Partei am besten zu gedeihen.

      Die Durchsage des Ministeriums für Fülle endete mit einem weiteren Trompetensignal und wich einer blechernen Musik. Parsons, bei dem das Zahlenbombardement vage Begeisterung entfacht hatte, nahm seine Pfeife aus dem Mund.

      »Das Ministerium für Fülle hat dieses Jahr echt gute Arbeit geleistet«, sagte er mit einem wissenden Kopfnicken. »Übrigens, Smith, alter Junge, Sie ham nicht zufällig ein paar Rasierklingen, die Sie mir überlassen könnten?«

      »Nicht eine«, sagte Winston. »Ich benutze selbst seit sechs Wochen dieselbe Klinge.«

      »Ah, na ja – ich dachte nur, ich könnt Sie ja mal fragen, alter Junge.«

      »Tut mir leid«, sagte Winston.

      Die quakende Stimme vom Nebentisch, die während der Ankündigung des Ministeriums vorübergehend verstummt war, erhob sich nun wieder so laut wie zuvor. Aus irgendeinem Grund dachte Winston plötzlich an Mrs. Parsons mit ihren strähnigen Haaren und dem Staub in den Falten ihres Gesichts. Innerhalb von zwei Jahren würden ihre Kinder sie bei der Gedankenpolizei denunzieren. Mrs. Parsons würde vaporisiert werden. Syme würde vaporisiert werden. Winston würde vaporisiert werden. O’Brien würde vaporisiert werden. Parsons hingegen würden niemals vaporisiert werden. Die augenlose Kreatur mit der quakenden Stimme würde niemals vaporisiert werden. Die kleinen käferähnlichen Männer, die so flink durch die labyrinthischen Korridore der Ministerien huschten, auch sie würden nie vaporisiert werden. Und das Mädchen mit den schwarzen Haaren, das Mädchen aus der Romanabteilung – sie würde ebenfalls nie vaporisiert werden. Es schien ihm, als wisse er instinktiv, wer überleben und wer umkommen würde; obwohl er nicht ohne Weiteres sagen konnte, was denn nun genau das Überleben sicherte.

      In diesem Moment wurde er mit einem heftigen Ruck aus seinen Träumereien gerissen. Das Mädchen am Nebentisch hatte sich etwas umgedreht und sah ihn an. Es war das Mädchen mit den schwarzen Haaren. Sie sah ihn mit einem verstohlenen Seitenblick, aber mit seltsamer Intensität an. In dem Moment, als sich ihre Blicke trafen, sah sie wieder weg.

      Winston brach der Schweiß aus allen Poren. Ein furchtbarer Schreck durchzuckte ihn. Er war fast sofort wieder verschwunden, hinterließ aber eine Art nagendes Unbehagen. Warum beobachtete sie ihn? Warum verfolgte sie ihn ständig? Leider konnte er sich nicht erinnern, ob sie bereits an diesem Tisch gesessen hatte, als er gekommen war, oder ob sie erst nach ihm gekommen war. Jedenfalls hatte sie sich gestern, während des Zwei-Minuten-Hasses, direkt hinter ihn gesetzt, wozu keine offensichtliche Notwendigkeit bestanden hatte. Sehr wahrscheinlich hatte ihre Absicht darin gelegen, ihm ganz genau zuzuhören und sich davon zu überzeugen, ob er laut genug mitbrüllte.

      Sein früherer Verdacht fiel ihm wieder ein: Wahrscheinlich war sie nicht wirklich ein Mitglied der Gedankenpolizei, andererseits stellten gerade die Amateurspitzel die größte Gefahr von allen dar. Er wusste nicht, wie lange sie ihn bereits beobachtet hatte, aber vielleicht schon fünf Minuten, und es konnte sein, dass er seine Gesichtsmimik nicht perfekt unter Kontrolle gehabt hatte. Es war fürchterlich gefährlich, seine Gedanken schweifen zu lassen, solange man sich an einem öffentlichen Ort oder in Reichweite eines Teleschirms befand. Die geringste Kleinigkeit konnte einen verraten. Ein nervöses Zucken, ein unbewusster ängstlicher Ausdruck, die Angewohnheit, vor sich hin zu murmeln – alles, was auch nur den Verdacht einer Abweichung weckte oder darauf hindeutete, dass man etwas zu verbergen hatte. Es war an sich schon ein strafbares Vergehen, einen unangemessenen Gesichtsausdruck zu tragen (zum Beispiel ungläubig auszusehen, wenn ein Sieg verkündet wurde). In Neusprech gab es sogar ein Wort dafür: Sichtbrech, Gesichtsverbrechen also, so hieß es.

      Das Mädchen hatte sich wieder von ihm abgewandt. Vielleicht verfolgte sie ihn doch nicht, vielleicht war es reiner Zufall, dass sie zwei Tage hintereinander so nahe bei ihm gesessen hatte. Seine Zigarette war ausgegangen, und er legte sie vorsichtig auf die Tischkante. Er würde sie nach der Arbeit zu Ende rauchen, wenn inzwischen nicht der Tabak herausgefallen war. Mit großer Wahrscheinlichkeit war die Person am Nebentisch eine Spionin der Gedankenpolizei, und höchstwahrscheinlich würde er innerhalb von drei Tagen in den Kellern des Ministeriums für Liebe stecken, aber einen Zigarettenstummel durfte man nicht verschwenden. Syme hatte seinen Papierstreifen zusammengefaltet und in seiner Tasche verstaut. Parsons hatte wieder angefangen zu reden.

      »Hab ich Ihnen jemals erzählt, alter Junge«, sagte er kichernd, das Pfeifenmundstück zwischen den Zähnen, »wie meine zwei Racker den Rock von ner alten Marktfrau angezündet ham, weil sie gesehen hatten, wie die Alte Würstchen in ein Plakat vom Großen Bruder wickelte? Ham sich von hinten an sie rangeschlichen und sie mit nen paar Streichhölzern angefackelt. Ich glaub, die hat sich ziemlich bös verbrannt. Kleine Bengel, ne? Aber sie sind nu mal Feuer und Flamme! Is’n erstklassiges Training, das die heutzutage bei den Spionen kriegen – sogar besser als zu meiner Zeit. Was glauben Se wohl, womit die die Racker neuerdings ausrüsten? Hörrohre zum Lauschen an Schlüssellöchern! Meine Kleene brachte neulich eins mit heim – hat’s an unserer Wohnzimmertür ausprobiert und meinte, sie könnte doppelt so viel hören, wie wenn sie das Ohr ans Loch hält. Is natürlich bloß ein Spielzeug. Bringt sie aber trotzdem auf die richtige Spur, ne?«

      In diesem Moment ertönte aus dem Teleschirm ein durchdringendes Pfeifen. Es war das Signal, wieder an die Arbeit zu gehen. Alle drei Männer sprangen auf, um sich in das Gewühl bei den Aufzügen zu stürzen, und der verbleibende Tabak krümelte aus Winstons Zigarette heraus.

       KAPITEL 6

      Winston schrieb in sein Tagebuch:

       Es war vor drei Jahren. Es war an einem dunklen Abend in einer engen Seitenstraße in der Nähe eines der großen Bahnhöfe. Sie stand vor einem Tor in der Mauer unter einer Straßenlaterne, die nur spärliches Licht spendete. Sie hatte ein junges Gesicht, sehr stark geschminkt. Es war vor allem die Schminke, die mich anzog, das maskenhafte Weiß und die leuchtend roten Lippen. Die Frauen von der Partei schminken sich nie. Es war sonst niemand auf der Straße und da waren auch keine Teleschirme. Sie sagte zwei Dollar. Ich –

      Es war für ihn im Augenblick zu schwierig weiterzuschreiben. Er schloss die Augen, presste die Finger dagegen und versuchte so, das immer wiederkehrende Bild zu verdrängen. Er verspürte ein beinahe überwältigendes Verlangen, lauthals einen Schwall schmutziger Worte hinauszuschreien. Oder seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, den Tisch umzutreten und das Tintenfass aus dem Fenster zu schleudern – irgendetwas Gewalttätiges, Lärmendes oder Schmerzhaftes zu tun, um die quälende Erinnerung auszulöschen.

      Der schlimmste Feind, so dachte er, waren die eigenen


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