Dampfer ab Triest. Günter Neuwirth
unumwunden im Blick hielt. Eine heiße Woge durchflutete sie.
»Bist du aufgeregt?«
Sie wandte sich schnell ihrem Vater zu. »Oh ja, sehr. Triest ist eine so wundervolle Stadt.«
Sie traten vor das Gebäude des Südbahnhofes. Kutschen, Fuhrwerke, Automobile, die elektrische Straßenbahn, ungezählte Menschen eilten von hier nach dort. Rudolf stellte den Handwagen ab und öffnete dem Grafen und der Komtess die Wagentür, dann verstaute er das Gepäck. Morgen früh würde er die Überseekoffer vom Bahnhof abholen, das eigentliche Reisegepäck des Grafen kam im Postwaggon des Nachtzuges. An Bord der Thalia waren zwei Luxuskabinen reserviert, sodass genug Platz für angemessene Garderobe vorhanden war. Die Direktion des Österreichischen Lloyd hatte dem Grafen auf seine briefliche Anfrage höflich mitgeteilt, dass die Mitnahme von eigenen Möbelstücken aus Sicherheitsgründen nicht gestattet und wegen der bestehenden exquisiten Einrichtung der Kabinen auch gar nicht nötig war, also hatte Maximilian von Urbanau auf weiteres Gepäck verzichtet und sich auf die Garderobe, bestimmte Dokumente, Bücher und Materialien für seinen Aufenthalt auf dem Schiff beschränkt. Selbstverständlich würde er auch Waffen an Bord nehmen, seinen Revolver trug er ohnedies stets bei sich, in den Überseekoffern waren weiter ein Jagdgewehr samt der entsprechenden Munition verstaut, sowie ein Säbel und ein Knicker, sein altes Jagdmesser mit Griff aus kunstvoll bearbeitetem Hirschhorn. Als ehemaliger Offizier und Attaché des Kriegsministeriums musste er auch im Ruhestand stets für den Ernstfall vorbereitet und gerüstet sein.
Das Automobil fuhr los. Ziel war das Grand Hotel Duchi d’Aosta auf der Piazza Grande. Carolina schaute aus dem Wagen hinter sich zum Bahnhof. Wo war das Augenpaar?
*
»Signor Zabini, kommen Sie gar nicht ohne uns aus?«
Bruno schloss die Kanzleitür hinter sich und verneigte sich galant. »Werte Ivana, ein Tag ohne Sie ist ein verlorener Tag.«
»Ich glaube eher, dass Sie ohne Arbeit nicht leben können.«
»Wieder durchschaut, obwohl ich mir Mühe gegeben habe. Ich habe immer gewusst, dass Sie ein erstklassiger Inspector wären.«
Die pausbäckige Frau lachte. Ohne Ivana Zupan würde die Kanzlei des Triester k.k. Polizeiagenteninstituts in heillosem Durcheinander versinken. Die Herren Kriminalbeamten gingen ein und aus, hatten Hunderte Dinge zu tun, waren von Aufträgen, Investigationen und Fahndungen in Beschlag genommen, kratzten eifrig mit den Füllfedern und qualmenden Zigaretten im Mundwinkel auf ihre Papiere und hatten sonst wenig Zeit und Muße, um in der Kanzlei für Ordnung zu sorgen. Das war nun Frau Ivanas Domäne. Sie wusste immer, wo welche Akten lagen, welche Termine anstanden und wer zu Vernehmungen vorgeladen war. Außerdem kochte sie Kaffee für die Herren und brachte deren oft in schlampigem Triestiner Dialekt geschriebenen Notizen in orthografisch einwandfreies Hochitalienisch. Ihre Muttersprache war Slowenisch, sie sprach gut Deutsch und Triestinisch, aber da sie in jungen Jahren als gelehrige Dienstbotin eines Florentiner Professors Dienst verrichtet hatte, beherrschte sie exzellentes Toskanisch in Wort und Schrift. Das Toskanische hatte sich als Hochsprache des Italienischen durchgesetzt, so war es gerade für sie als Slowenin ein enormer Vorteil, sich in den Varianten Toskanisch und Triestinisch ausdrücken zu können. Ivana war vor über zwölf Jahren von der Polizeidirektion als Schreibkraft eingestellt worden und hatte sich in dieser Zeit als tragende Säule des Instituts bewährt. Nur wenn sie umfassende Berichte oder längere Briefe in Deutsch schreiben musste, holte sich Ivana bei Bruno Anleitungen für gute Formulierungen.
»Wollen Sie eine Tasse Kaffee?«
Bruno winkte ab. »Jetzt nicht. Ich muss nur noch einen Bericht fertigstellen, dann gehe ich wieder. Schließlich ist heute mein freier Tag, und später bin ich zum Billard mit Ingenieur Ventura verabredet.«
»Ich habe auch eine Verabredung«, sagte Ivana.
Bruno hielt im Vorbeigehen inne und schaute Ivana mit großen Augen an. »Etwa ein Rendezvous?«
Ivana zwinkerte kokett. »Allerdings.«
»Ivana, ich bin sprachlos!«
»Das hätten Sie mir nicht zugetraut, oder?«
»Was schlummerte da lange in Ihnen und kommt nun zum Vorschein?«
»Abgründe.«
»Rapportieren Sie detailliert!«, forderte Bruno.
»Also, zuerst habe ich ein Rendezvous mit dem leeren Magen meines Göttergatten, hernach mit der Schmutzwäsche meiner Kinder und final mit den Rückenschmerzen meines Vaters.«
»Was sagt Ihr werter Herr Papa zum Franzbranntwein, den Vinzenz aus Kärnten mitgebracht hat?«
»Er ist von der schmerzlindernden Wirkung begeistert. Aber der alte Teufel will mit dem Branntwein nicht nur eingerieben werden, er will ihn auch trinken.«
»Bleiben Sie standhaft, Ivana, verwahren Sie die Flaschen gut. Wer Franzbranntwein trinkt, brennt sich die Seele aus dem Leib.«
Ivana winkte ab. »Da würde nicht viel verbrennen.«
Bruno lachte, verließ Ivanas Bureau und trat auf den Gang der Kanzlei. Am Ende des Ganges stand beim offenen Fenster sein junger Kollege Luigi Bosovich und schaute rauchend und an einer Kaffeetasse nippend aus dem Fenster. Luigi hörte hinter sich die Tür und wandte sich um. Luigi blickte verwundert. »Signor Zabini, Sie, heute hier?«
Bruno schaute sich um. Die Türen der Bureaus seiner Kollegen waren geschlossen. Er trat an Luigi heran. »Ausnahmsweise, weil ich sowieso unterwegs in die Altstadt bin.«
»Zum Billard?«
»Ja. In anderthalb Stunden geht es los. Da kann ich genauso gut den Bericht über diese Wirtshausrauferei abschließen.«
»Nun denn.«
Bruno sperrte die Tür auf und drückte die Türklinke nach unten, hielt aber noch inne und musterte Luigi. »Und du, Luigi, du machst eine Pause?«
Den süffisanten Tonfall in der Stimme des höherrangigen Beamten überhörte der junge Polizist geflissentlich. Alle im Institut wussten, dass Luigi Bosovich nur dann arbeitete, wenn man ihn nicht nur anspornte, sondern richtiggehend antrieb. In der Regel schaute Luigi gerne zum Fenster hinaus, trank beispiellos langsam Kaffee oder machte Rauchpausen. Wenn er aber arbeitete, dann saß jeder Handgriff, dann vergaß er selbst winzige Kleinigkeiten nicht, dann zeigte er, dass er ein ausgezeichneter Polizist war. Oder zumindest sein könnte. Als jüngster Beamter war er im Rang des Polizeiagenten II. Klasse und in der Regel für die ungeliebte Alltagsarbeit zuständig. Die meist sehr träge vorankam.
»Ja, Herr Inspector, Rauch- und Kaffeepause.«
Bruno schmunzelte. »Weitermachen.« Damit verschwand er in seinem Bureau. Vinzenz Jaunig und Luigi Bosovich teilten sich das kleinere Bureau, im größeren standen die Schreibtische der vier weiteren Polizeiagenten. Bruno und Emilio Pittoni hatten jeweils eigene Bureaus. Die beiden waren als Inspectoren I. Klasse die ranghöchsten Kriminalbeamten im k.k. Polizeiagenteninstitut und in der Befehlskette nur dem Leiter der Dienststelle Oberinspector Gellner unterstellt.
Bruno hängte sein Sakko an den Kleiderhaken und setzte sich an seinen Schreibtisch. Wie zumeist stand die Tür zu seinem Bureau offen. Nur wenn er vertrauliche Gespräche führte oder sich bei seiner Arbeit konzentrieren musste, schloss er diese. Geschlossene Türen waren ihm immer irgendwie unangenehm, geschlossene Türen erinnerten ihn an seine Kindheit, als er auf Geheiß seines Vaters endlose Zeiten in seinem verschlossenen Zimmer hatte ausharren müssen. Seit acht Jahren war Salvatore Zabini nun schon tot, dennoch hörte Bruno nach wie vor die Stimme seines Vaters, sah seine Miene vor sich und folgte seinen strengen Anweisungen. Sein Vater hatte gewollt, dass Bruno die Laufbahn als Polizist einschlug. Nein, er hatte es nicht nur gewollt, er hatte es verfügt. Also war Bruno nach der Schule und dem Militärdienst zur Polizei gegangen. Jetzt, im Alter von siebenunddreißig Jahren, verfügte er über mannigfache Erfahrungen in seinem Beruf.
Bruno zog ein Formular aus der Schublade, blätterte sein Notizbuch auf und begann, die notierten Daten und Fakten des gestrigen Einsatzes zu protokollieren. Fünf