Unsere heimischen Göttinnen neu entdecken. Joanne Foucher
Ihre Augen sind scharf wie die des Falken, der die Bewegung einer Maus aus großer Entfernung wahrnimmt. Wie die Skelettfrau hilft uns die Vogelfrau, das Wesen der Dinge wahrzunehmen: Mit ihren scharfen Krallen und ihrem scharfen Schnabel pickt und reißt sie das Fleisch von den Knochen und enthüllt die Essenz der Dinge. In ihrer Jahreszeit, dem Winter, schneidet ihre eisige Winterluft in unser Gesicht wie Rasierklingen und entfernt alles, was äußerer Schein ist, Masken und Verkleidung. Perchta hilft uns, die Dinge eben so klar zu sehen, wie durch ihre scharfen Vogelaugen.
Zum anderen zeigt sich hier die schamanische Kraft der Vögel: die Fähigkeit zwischen den Welten hin und her zu fliegen. Die Schamanin legt ein Vogelkostüm an und reist in Vogelgestalt in die andere Welt, um der Göttin, Ahnen oder Guides zu begegnen und Antworten mit zurückzubringen. Die klare Sicht der Vogelfrau bringt uns unsere spirituelle Vision. Ihre Gaben an uns sind Wahrheit – die tiefe Wahrheit im Inneren, das wahre Wesen der Dinge und der Menschen – und Klarheit, der klare, scharfe ehrliche Blick.
Anas Zeitlosigkeit ist im Steingrab im Wötz, Sachsen-Anhalt, fühlbar.
Die Steinfrau ist die Mutter der Luft in ihrem harten Winteraspekt, Ana in ihrer Unvermeidbarkeit. Sie erscheint uns hart und unnahbar, uralt und gleichzeitig jenseits von Alter. Seit Jahrtausenden stehen ihre Steinkreise und -reihen, aufgestellt von unseren Ahnen, und trotzen Kälte, Regen und Sturm. Hart und ungeschönt ist die Steinfrau, das Skelett des Alten Winterweibes, unzerstörbar und stark. Sie ist Zeugin allen Tuns der Menschen hier auf der Erde, durch die Jahrhunderte hinweg, größer als wir, gelassen und teilnahmslos. Sie war vor uns da, und sie wird noch lange nach uns da sein.
Die Steinfrau ist.
Mütternacht
Die Mütternacht wird regional unterschiedlich gefeiert, entweder zur Wintersonnenwende oder in der ersten Rauhnacht vom 24. auf den 25. Dezember. Der Name geht zurück auf das angelsächsische Fest modraniht, von dem der Mönch Beda Venerabilis im 8. Jahrhundert berichtet.22 Zur Wintersonnenwende zeigt sich wieder, dass aus dem Tod das Leben geboren wird, denn aus dieser größten Dunkelheit gebiert die Göttin das Licht. In der alten Zeit wurde beim Sonnenuntergang vor der Mittwinternacht zeremoniell das Herdfeuer, das sonst ununterbrochen gehütet werden musste, gelöscht. Um Mitternacht oder beim ersten Licht des neuen Morgens wurde dann, wieder begleitet von Gesängen und Zeremonie, das neue Feuer entzündet.
In manchen modernen heidnischen Gruppen feiert man in dieser Nacht die Wiedergeburt des Sonnengottes. Das bekannteste Lichtkind ist in Deutschland wohl Jesus, dessen Geburt viele Christen kurz nach der Wintersonnenwende in der Mütternacht, der Heiligen Nacht am 24. Dezember feiern. Der Termin des Weihnachtsfestes wurde erst im vierten Jahrhundert fest auf den 25. Dezember gelegt. Die Symbolik passte einfach am besten in die Mittwinterzeit; außerdem konnte man auf die Weise gut die Heiligkeit der Mütter überlagern und dem Vergessen anheimgeben.
Zwischen den rekonstruierten Palisaden von Goseck, Sachsen-Anhalt, entlangzugehen, gibt uns ein Gefühl von Verbundenheit mit den Menschen vor 7000 Jahren und erfüllt uns mit derselben Demut und Dankbarkeit über die Wiedergeburt des Lichts wie sie.
Viele vorgeschichtliche Bodendenkmäler zeugen von der Verbundenheit unserer Ahnen mit der Göttin und ihrem großen Wissen und einem tiefen Verständnis von ihren heiligen Rhythmen. Im Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt wurde 2002 – 2004 eine große Kreis-Graben-Anlage ausgegraben und rekonstruiert, in der vor 7000 Jahren Zeremonien zur Wintersonnenwende gefeiert wurden. Zwei konzentrische Holzpalisaden weisen drei Unterbrechungen auf. Vom Mittelpunkt der Anlage aus zeigt eine genau nach Norden, während die beiden südlicheren Eingänge auf den Sonnenauf- und Sonnenuntergang zur Wintersonnenwende ausgerichtet sind.23 Vom Inneren dieses kreisrunden Tempels aus konnte das beeindruckende astronomische Ereignis zu dieser magischen Zeit beobachtet und gefeiert werden.
Das Licht der Sonne fällt durch das Tor der Palisade.
In der Mütternacht, in der Nacht der Schöpfungskraft, erleben wir, dass es selbst im größten und tiefsten Dunkel Licht gibt, selbst im Tod gibt es Leben. Diese tiefste, längste und dunkelste Nacht gilt als Mutter aller Nächte. Während die Natur im Winter ruht und Laubbäume kahl sind und die Erde gefroren und unfruchtbar ist, erinnern wir uns an die Lebenskraft der Göttin im Tod, indem wir immergrüne Zweige von Nadelhölzern, Efeu und Hülse in unsere Häuser bringen und zu Kränzen und Girlanden binden.
Wir stellen am 4. Dezember Weidenzweige oder Forsythien in eine Vase, die in der Mütternacht blühen. Wir zünden Kerzen für unsere Mütter an, Kerzen, die Perchtas glänzendes Licht in unser Haus bringen, und Kerzen, die die Wiedergeburt des Lichts in tiefster Dunkelheit symbolisieren. Der christliche Weihnachtsbaum und Adventskranz, in dessen Ringform das zyklische Weltbild wiedergegeben wird, haben mit ihren immergrünen Zweigen und leuchtenden Kerzen ebenfalls die Symbolkraft der Göttin übernommen. In der tiefsten Dunkelheit schließlich erscheint Perchta als Lichtfrau und bringt das Licht zurück.24
In der Nacht, in der das Licht wiedergeboren wird, feiern wir unsere Mutterlinie. Nicht das Lichtkind steht im Mittelpunkt, sondern die Lebenskraft, die Fähigkeit der Mütter, Leben zu schenken. Wir alle sind Teil der Kette des Lebens. Aus diesem Grund ist es besonders schön, gemeinsam mit Kindern zusammen diese Bräuche zu pflegen. Wir verbinden uns mit unseren Ahninnen und gedenken unserer Mütter, unsere biologischen Linie und unserer Herzenslinie. Wir gedenken unserer Mütter und Großmütter und wieder ihrer Mütter und Vormütter, gedenken aber auch der Frauen unseres Umfeldes, die uns geprägt und beeinflusst haben wie mütterliche Freundinnen, Lehrerinnen, Mentorinnen, und wir gedenken der unbekannten Mütter, wie Frauenrechtlerinnen, Suffragetten und anderer Frauen, die wir nicht persönlich kannten, und denen wir doch dankbar sind.
Wenn unsere Beziehung zu unseren leiblichen Müttern keine gute sein sollte, so haben sie uns doch das Leben geschenkt, und es ist bestärkend zu erkennen, dass alles, was in unserem Leben geschehen ist, uns dahin gebracht hat, wo wir jetzt sind.
Rauhnächte
Die Bezeichnung Rauhnächte geht auf Rauchnächte zurück, und auf den alten Brauch, in diesen Zwölfen täglich im Haus und den Ställen zu räuchern, um den Hof und die Familie und alle, die dort leben, vor Unheil zu bewahren. Dieser Brauch ist sehr alt, was sich wieder an der Benennung dieser heiligen Zeit nach Nächten ablesen lässt (anstelle von »Rauhtagen«).
Die Rauhnächte sind, wie die Nacht von Samhain, eine Zeit außerhalb der Zeit. Deswegen ist der Ausdruck, mit dem wir sie im Rheinland noch immer ganz natürlich im alltäglichen Sprachgebrauch bezeichnen zwischen den Jahren. In dieser Zeit sind die Schleier zwischen den Welten wieder dünn, und so haben die Träume in den Rauhnächten prophetische Kraft: Was in der ersten Nacht geträumt wird, deutet auf den kommenden Januar hin, der Traum der zweiten Rauhnacht auf den Februar, und so weiter. Reste davon haben sich auch im Brauch des Bleigießens in der Silvesternacht erhalten, was für viele Menschen heute dazugehört, auch wenn sie sich des Ursprungs dieses Brauches überhaupt nicht bewusst sind.
Der alte heilige Brauch des Räucherns in den Rauhnächten
In der letzten Nacht, der Perchtnacht, wird Perchta traditionell im Freien ein Tisch gedeckt, damit sie sich bei ihrer Umfahrt mit ihrem Seelenheer stärken kann. Sie möchte dabei aber keinesfalls beobachtet werden. Der Göttin aufzulauern und einen Blick auf sie zu stehlen, wäre Hybris. – Die Göttin zeigt sich denjenigen, denen sie sich zeigen will. Während der Rauhnächte gelten noch weitere strenge Regeln.