Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt. Marie Gaté

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt - Marie Gaté


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Tatie Nenne nahm ihr Portemonnaie aus der Eichenschrankschublade, zog ihre Gummistiefeletten an: „Warte auf mich, Ma Douce, ich komme gleich wieder.“

      Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun können, aber ich wusste, diese Aufforderung erlaubte keine Widerrede. Ich wäre so gern mitgegangen, um die knusprigen Brote, die goldfarbigen Brioches, die roten Törtchen, die ich von weitem im seitlich offenen grauen Citroën TUB des Bäckers sah, riechen zu können. Sie brachte das halbe Brot, das sie jeden Tag mit dem gleichen Satz begutachtete: „Nicht so schön goldbraun gebacken wie gestern!“

      Das Leben brachte immer wieder Enttäuschungen. Es gab wenig, worauf sie sich zu freuen schien. Ich hatte das Gefühl, Fröhlichkeit sei in La Neuville nicht willkommen, und ich müsse sie beim Abtreten mit dem Schmutz meiner Schuhsohlen auf der roten Fußmatte lassen. Das Glück war bei Tatie Nenne eine ernste Angelegenheit.

      Sie bereitete das Mittagessen, kochte auf dem Gasherd frisches Gemüse, das wir aus dem Garten geholt und zusammen geschält hatten. Ab und an gab es ein Rindersteak vom Metzger, der jeden Dienstag vorbeifuhr. Die Größe des gekauften Stückes litt immer wieder unter dem von ihr festgelegten Einheitspreis.

      „Ich habe für dich Gehacktes verlangt“, erklärte sie mir, „es ist leichter zu kauen.“

      Ich betrachtete ihre Zähne und dachte mir, dass eher ihre als meine Zähne sich auf etwas Zartes gefreut hätten. Meine Milchzähne schafften es, den halben Carambar, den Tatie Nenne jeden Tag unter meinem Kopfkissen versteckte, zu beißen, obwohl der Karamellriegel so zäh war, dass ich jedes Mal fürchtete, den Mund nicht mehr öffnen zu können. Ich verstand nicht, warum sie den Kaubonbon in zwei Teile schnitt. Wenn Tatie meine Zähne schonen wollte, hätte sie mir nichts Süßes schenken sollen, und wenn sie mir eine Freude machen wollte, hätte sie mir einen Ganzen geben müssen, denn ich konnte nie den Witz, der auf die Innenseite der Verpackung gedruckt war, verstehen. Als ob sie es mit Absicht tat, bekam ich nie am nächsten Abend die passende zweite Hälfte. Ich sagte nichts, denn ich fühlte, dass die Dinge eine Schattenseite besaßen, die man einfach akzeptieren musste, so wie das Gewitter in der Nacht, welches die Sonne in den Morgen gejagt hatte.

      Als Abwechslung zum Rindersteak bot sie mir ein Stück Kaninchen aus einem Einmachglas, das sie aus dem Treppenregal holte. Vermutlich war das arme Tier ein Opfer meiner Großmutter Irène aus Belleville: Sie hatte in ihrem Garten viele Käfige, die wie die Sozialwohnungen der Cité Mazarin in Rethel aussahen, und fütterte die unzähligen Insassen mit den Essensresten der Gäste ihrer Gastwirtschaft. Die Kaninchen waren nicht wählerisch und meine Großmutter auch nicht. Ich habe mich nie getraut zu fragen, ob es jemandem bewusst war, dass meine Großmutter Kannibalen züchtete. In den Essensresten, die sie aus der Küche brachte und in die Kaninchen-Sozialwohnungen verteilte, waren Knochen mit noch etwas Fleisch von den für das Mittagessen der Gäste ermordeten Kaninchen. Es kam auch öfters vor, dass ein süßes Tierchen einen in den Resten von einem kleinen Gast versteckten Kaugummi erwischte und uns Kindern ein unvergessliches Spektakel bot, leider ein grausames Vergnügen, das für das kauende Kaninchen tödlich endete. Es hing am nächsten Tag mit herunter gezogener Haut und umgedrehtem Fell am Haken, vor den Augen seiner hilflosen Mitbewohner und der nicht weniger hilflosen Kinder. Als ich mit meiner Gabel den vorgesetzten Teller untersuchte, ermahnte mich Tatie Nenne streng: „Marie, es wird nicht mit dem Essen gespielt! Die Kinder hungern in Afrika.“

      Ich schämte mich sehr, in diesem Moment die hungernden Kinder zu beneiden. Ich konnte ihr aber nicht erklären, dass ich nach einem Kaugummi in einem kannibalischen Kaninchen suchte.

      Als zusätzliche Variante bekam ich Hirn, eine weißgraue Masse, die sie in einem Topf mit Wasser kochte.

      „Kleine Marie, Hirn ist gut für die grauen Zellen“, kommentierte sie, als sie das erste Mal meine erschrockenen Augen sah. Hercule Poirots Tante muss auch von der Wohltat des Hirns überzeugt gewesen sein. Meine spätere Verbundenheit mit dem belgischen Detektiv hing bestimmt mit dieser gemeinsamen Vergangenheit zusammen.

      Tatie Nenne ging nie zum Arzt, schon gar nicht zum Zahnarzt, und behauptete, das sei der Grund für ihre felsenfeste Gesundheit. Sie besaß drei Wundermittel, die sie in dem großen Eichenschrank über der Schublade mit ihrem Portemonnaie aufbewahrte: Eine braune Flasche mit einem Schuletikett, auf welchem ich, sobald ich lesen konnte, mit Mühe das Wort Eau oxygénée und einen Geheimcode, H2O2, entziffern konnte. Mit einem Tropfen dieser farblosen Flüssigkeit auf ihrem Zeigefinger rieb sie sich jeden Tag die Zähne. Mit einem in demselben Allheilmittel getränkten Stück Watte betupfte sie großzügig mein beim Hinfallen aufgekratztes Knie. Das daraus resultierende Phänomen faszinierte mich: Ich konnte beobachten, wie die Wunde nach der Wasserstoffperoxid-Behandlung zu schäumen begann. Neben der magischen Flasche stapelten sich rosarote Aspro-Schachteln. Nach dem Wasserstoffperoxid-Ritual, das ich selbstverständlich nachmachen musste, absorbierte sie eine ganze Aspro-Tablette, die sie mit einem Glas Wasser herunterschluckte. Sie versicherte mir, die Deutschen hätten bereits gewusst, welche Wunder das Aspirin bewirkte, als sie ihr im Krieg empfahlen, diese Medizin, die gegen alles gut war, einzunehmen. Im Falle einer Migräneattacke verdoppelte sie die Dosis. Ich bin überzeugt, dass sie dank ihres Glaubens an das deutsche Aspirin knapp hundert Jahre alt wurde. Sie starb einige Tage vor ihrem hundertsten Geburtstag, nicht an irgendeiner Krankheit, sondern an Trotz: Sie hatte sich strikt geweigert, den angekündigten Ehren-Besuch des Bürgermeisters zu ertragen. Ihr Leben lang habe sie nie einen Blumenstrauß von einem Mann bekommen. Ihr Stolz verbot ihr, solch Almosen anzunehmen.

      Ihr drittes Wundermittel war eine große graue Packung mit Sodakristallen. Ich liebte diese Steinchen, die im Gegensatz zu den üblichen Steinen sauber waren und für Sauberkeit sorgten: Sie streute sie in unser Waschwasser, damit wir eine sanfte Haut bekamen. Auch die Wäsche verdiente die gleiche Pflege. Für das Gesicht benutzte sie Regenwasser, das sie aus dem Fallrohr der Dachrinne in einem Eimer neben der Außentreppe auffing. Der Teint werde dadurch richtig leuchtend. Ich verstand, warum sie mich „Ma Douce“, meine Sanfte, nannte. Vor lauter Sodakristallen war ich sicherlich ganz weich geworden.

      DER KLANG DES BLEISTIFTES

      Sie führte mich mit ihrem Wörterbuch in die

      ideelle Welt der Fantasie. Sie brachte die Gedanken

      zum Blühen, und ich wärmte ihr Herz auf.

      Das Labyrinth der Wörter (2010) | Regie: Jean Becker

      „Ma Douce, hol dein Heft aus deinem Schulranzen.“

      Ich hatte selbstverständlich meine Schulsachen mitbringen müssen, denn der letzte Monat der langen Sommerferien gehörte ganz der Lehrvorstellung meiner Tante und war dem herbstlichen Schulanfang, La rentrée, gewidmet. Sie überprüfte sorgfältig den Inhalt meines ledernen Schulranzens, öffnete das Mäppchen, kontrollierte den Zustand meiner Schreibutensilien.

      „Marie, ein Bleistift darf nie auf den Boden fallen, sonst bricht die Mine! Behandle deine Schulsachen wie Lebewesen, und sie werden dir die schönsten Gefühlswelten eröffnen.“

      Der Klang eines Bleistiftes, der hinunterfällt, bricht mir seitdem das Herz. Meine Schulsachen lebten und trugen Nachnamen: Die Feder meines Federhalters hieß Sergent-Major, die Tinte Waterman, mein Kugelschreiber Bic, mein Zeichenblock Canson, mein Radiergummi Pelikan, mein Malkasten Lefranc Bourgeois. Die Kreide hatte sogar einen Vornamen, den meines Papas, Robert!

      Tatie Nenne stand hinter mir, diktierte Sätze aus ihrem Schulbuch, Auszüge aus Le lion von Joseph Kessel. Ich bemühte mich, mit der kratzenden Feder säuberlich zu schreiben, indem ich das mit Werbung bedruckte Löschblatt immer parat hielt. Mit zugepressten Lippen konzentrierte ich mich, beim Eintunken des Federhalters die richtige Dosis aus dem Tintenfass zu entnehmen, um die Katastrophe eines Kleckses zu vermeiden. Es reichte, dass meine Zeige- und Mittelfinger gegen die Hartnäckigkeit der Purpurverfärbung zu kämpfen hatten. Ich spürte in meinem Rücken ihren prüfenden Blick. Sie verbesserte umgehend mit ihrem roten Kugelschreiber die immer wiederkehrenden Fehler.

      „Du weißt, um ein Partizip von einem Infinitiv, also, um die gleichgesprochenen Endungen -é und -er zu unterscheiden, musst du dein Verb durch faire ersetzen.


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