Ein reines Wesen. Isabella Archan
Wie weh?
Einmal bist du über eine glühende Kohlenfläche gelaufen, spät abends an einem Lagerfeuer. Aus Spaß. Weil du etwas betrunken warst, bist du mitten in der Glut stehengeblieben. Hast die Arme nach oben gereckt und »Tschakka!« gerufen. Bis der Schmerz kam.
So weh wie damals tut es.
Jetzt, wo dir endlich ein winziger möglicher Vergleich eingefallen ist, scheint es leichter zu werden. Es ist nicht mehr weit bis zum Ende. Nicht deinem Ende, nein, sondern dem Moment, in dem sich die Klammerfinger wieder lösen und eine Entschuldigung fällig wird.
Eine mächtige Entschuldigung.
Das Sichtfeld verändert sich. Vor deinen Augen verschwimmt das unfassbar bekannte Gesicht und wird ersetzt durch einen Sternenregen. Farben mischen sich zwischen dem Aufblitzen und Explodieren der Himmelskörper. Ein Gelb, ein Orange, ein grelles Blau. So ein Feuerwerk hast du noch nie gesehen.
Deine Lungen melden sich. Sie gieren nach Sauerstoff. Du versuchst zu atmen, zu schnappen, einzusaugen. Nichts. Als wärst du unter Wasser. Aber vielleicht ist es genau umgekehrt und du bist zu einem Fisch geworden. Aus dem Wasser gespült, ohne die Fähigkeit, an Land zu atmen.
Dein ganzes System steht vor dem Kollaps.
Drei: Deine Hände gehen nach oben. Um den Eisengriff zu lösen. Dein linkes Bein schlägt nach vorne aus, während dein rechtes einknickt. Du gehst in die Knie, zur gleichen Zeit trittst du. Ein verrückter Tanz. Deine Muskeln ziehen sich zusammen, zucken, ziehen, zappeln. Schmerz kannst du es nicht mehr nennen, denn es ist größer.
Du schrumpfst und dein Gegenüber wächst hoch in den Himmel, zwischen all den explodierten Sterne, die nun verblassen. Über dich gebeugt steht kein Mensch mehr, sondern ein eigenartig verschwommenes Wesen, das über deine weitere Existenz entscheidet.
Sollte nicht dein Leben vor dir ablaufen, die Bilder, die Erinnerungen? Sollten nicht die lieben Verstorbenen auftauchen und dich auf die andere Seite geleiten? Wo ist das Licht, das verdammte Licht?
Ein Schnappen erklingt. Es hört sich wie das Einrasten eines Verschlusses an.
Eine kleine Erinnerung lugt endlich doch noch um die Ecke.
Du, als Kind, vor einem Wunschbrunnen auf einem Rummelplatz. ›Dreimal wünschen‹, stand auf einem Schild davor. ›Und einmal spucken‹, hatte jemand mit schwarzem Filzstift darunter gekritzelt. Sehr lustig, damals wie heute.
Du gehst, du fliegst, du löst dich auf.
Am Ende ist kein Licht im dunklen Tunnel. Aber ein Funken Humor. Ein letztes Augenzwinkern, das du mit Freude umarmst.
2
Der Chaostheorie zufolge konnte der Flügelschlag eines Schmetterlings eine Naturkatastrophe wie einen Tsunami auslösen.
Galt diese Annahme auch für einen Mord? Hatte ein leichtes Flattern zum Tod der Frau geführt, zu ihrem Ableben? Oder waren es ihre schmutzigen Gedanken, ihr böses Gerede und ihre eigenen gierigen Wünsche, die sie in diesen Zustand versetzt hatten?
Konnte denn der Schmetterling in seiner Pracht und Unschuld überhaupt etwas dafür, dass seine Flügel im Moment der Bewegung Unheil gebracht hatten? Ein reines und unschuldiges Wesen war er, wundervoll in seiner Transformation. Ein derartiges Geschöpf vermochte kein Unheil zu bringen.
Trotzdem lag auf dem Boden des Krankenzimmers der Unfallstation eine tote Frau.
Mit Würgemalen am Hals.
Es würde nicht lange dauern, bis Karin, die so freundliche und kompetente Nachtschwester, entdeckt werden würde.
Ihre Augen waren im Tod weit geöffnet, man hätte meinen können, sie hätte ein Wunder bestaunt. Vielleicht war der Schmetterling ein solches, und Karin hatte im letzten Brechen der Pupillen sein wahres Inneres erkannt. Wäre nicht die Zunge gewesen, die dick und unansehnlich über die Lippen der Toten quoll, wäre sie durchaus ein schöner Anblick gewesen.
Der Schmetterling beherrschte sich, sich über den Körper zu beugen und die Zunge in die Mundhöhle zurückzupressen. Trotz der Latexhandschuhe sollte es keine weitere Berührung geben. Mit einem seiner Insektenbeine, an dem noch ein Schuh hing, stupste er Karin an, schob sie ein kleines Stück am Boden entlang. Näher ans Krankenbett.
Als der Kopf der toten Frau das Rad am unteren Bettpfosten berührte, stoppte der Schmetterling.
Es war dumm zu glauben, dass irgendjemand denken könnte, einer der beiden Patienten in diesem Zimmer hätte Schwester Karin getötet. Herr Fischer, Klaus Fischer aus Hürth, war mit seinem eingegipsten Bein nicht in der Lage, sich zu bewegen. Herr Wasserburg neben ihm, war heute Nachmittag erst vom Aufwachraum hierher gebracht worden. Beide schliefen tief und fest. Herr Fischer schnarchte leise.
Der Schmetterling seufzte. Ihm blieb nur die Hoffnung, dass es keine weiteren Spuren geben würde, außer den DNA-Resten, die alle hier tagtäglich hinterließen. Was, wenn doch? Wenn sich der Schmetterling irrte, käme die nächste Katastrophe in Gang.
In seinem Rücken begann es zu ziehen, das Gewicht der großen Flügel war zu spüren wie ein schwerer Rucksack. Wäre ein unbeteiligter Zuschauer anwesend, hätte er ein menschengroßes herrliches Geschöpf zu Gesicht bekommen. Perfekt in dieser Verwandlung. Was für einen Stellenwert konnte dagegen eine erwürgte Frau am Boden haben?
Je länger der Schmetterling auf die Tote vor ihm starrte, desto klarer wurde Nachtschwester Karin zur Schuldigen. In Wahrheit war ihre Freundlichkeit aufgesetzt gewesen, ihre Kompetenz hatte aus überheblichen Bemerkungen bestanden. Eine schlechte Frau, eine Frau ohne Anstand.
Draußen waren Schritte zu hören.
Der Schmetterling hielt den Atem an. Er würde sich auf den Hereinkommenden stürzen und eine weitere Tat begehen. Das Überraschungsmoment war auf seiner Seite. Einmal vollbracht, konnte es auch ein zweites Mal gelingen.
Mit wenigen Flügelschlägen war er an der Tür, legte den Kopf an den Rahmen und lauschte. Die Schritte wurden lauter, näherten sich. Nicht einer, nein zwei Menschen hielten vor dem Krankenzimmer an.
»Und, alles im Lack, Frieda?«
»Mein Dienst ist in genau achtzehn Minuten vorbei, so knapp vor Feierabend habe ich immer gute Laune.«
»Glückskind. Ich fange gerade erst an. Kann sich ziehen, die Nacht.«
»Willst du die Nachtmedikationen der Neuen durchgehen oder zuerst in die Zimmer sehen?«
Kommt nur herein, dachte der Schmetterling. Das Holz an seiner Wange fühlte sich warm an.
Dann töte ich euch beide. Ich kann es.
»Zuerst einen Kaffee, Frieda. Mein Hirn läuft ausschließlich mit Koffein. Plus Zuckerzeug.«
»Dann wird dir die milde Gabe von Herrn Fischers Töchtern gefallen. Ungefähr eine Tonne Gummibärchen haben sie uns hingestellt. Die Jumbopackung.«
»Schnapp dir welche und verstecke sie vor mir, wenn du morgen auch noch welche essen willst.«
Die Schwestern kicherten und auch der Schmetterling musste lächeln.
»Wollte der Doktor heute Abend nicht noch kommen wegen Herrn Bindner in der 19? Ist Karin schon da?«
Der letztgenannte Name ließ das Lächeln erstarren. Der Schmetterling drehte seinen Kopf und sah zu dem Körper am Boden hin. Doch statt eines Menschen lag dort ein zusammengekrümmter Wurm. Die Getötete war zu einem augenlosen, geschlechtslosen Ding geworden.
Der Raum schien sich mit einem Mal in schräger Lage zu befinden, das Insekt krallte sich am Türrahmen fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Draußen bewegten sich die Schritte weiter.
Eine Weile geschah nichts. Dann öffnete der Schmetterling die Tür zum Krankenzimmer.
Das wunderschöne Wesen flatterte heraus.
Dass niemand in der Zeit