Das Bücherschloss - Das Geheimnis der magischen Bibliothek. Barbara Rose

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und Magie

      Becky stand auf der Kiesauffahrt neben dem klapprigen Kombi ihres Vaters und staunte. So oft hatte sie in den letzten Tagen überlegt, wie ihr neues Zuhause wohl aussehen würde. Ob es vielleicht uralt und hässlich wäre. Von aller Welt vergessen und völlig verfallen. Mit lauter Verbotsschildern und für Kinder völlig ungeeignet. Oder frisch renoviert und so vornehm, dass sie nichts anfassen durfte. Und sie hatte gegrübelt, ob sie sich dort wohlfühlen würde. In ihrem neuen Zuhause, im Schloss Rosenbolt.

      „Wo versteckst du dich denn wieder?“ Becky griff in die große Beuteltasche ihres Pullovers. Hier verkrümelte sich Lotti am liebsten, wenn sie gemeinsam unterwegs waren. Behutsam nahm Becky ihr zahmes Streifenhörnchen heraus und hielt es hoch. „Siehst du das, was ich sehe, Lotti?“

      Das Streifenhörnchen rieb sich verschlafen die Augen, kletterte auf Beckys Schulter und betrachtete neugierig die neue Umgebung. Es sah aus, als würde es sofort losspringen wollen, um alles zu erkunden. Aber Becky hatte vorgesorgt und ein paar Haselnüsse eingepackt. So blieb Lotti beim Futtern brav sitzen und Becky ließ den Blick in alle Richtungen schweifen.

      Schloss Rosenbolt hatte drei Stockwerke und ein Dachgeschoss, unzählige Erker und Türmchen. Obendrein war das Gebäude über und über mit wildem Wein bewachsen. Jetzt, im Spätsommer, leuchteten die Blätter knallorange und dunkelrot. Und genau in diesem Augenblick tupfte die Abendsonne ein paar schimmernde Flecken auf das Schloss. Die beiden mannshohen Steinfiguren an der Hauswand begannen zu strahlen. Die Fensterscheiben glänzten auf einmal wie flüssiges Gold. Alles sah wie verzaubert aus. Geradezu magisch! Becky war auf der Stelle schockverliebt.

      „Hier ziehen wir ein, Lotti. Ist das nicht … unglaublich?“

      Lotti wackelte mit dem Kopf, als hätte sie verstanden. Aber da war sich Becky nicht so sicher. Genauso gut könnte das Streifenhörnchen Nackenschmerzen von der langen Fahrt haben. Oder sich genervt räkeln, weil es stundenlang im Auto hatte hocken müssen. Und noch keinen Tropfen Wasser bekommen hatte. Becky seufzte. Wie schade, dass sie nicht einfach mit ihrem Streifenhörnchen sprechen konnte. Wie sollte Lotti begreifen, was gerade in ihr vorging?

      „Papa?“, wandte sich Becky an ihren Vater. „Wusstest du, dass das Schloss so wunderschön ist?“

      Professor Ignaz Librum hob gerade Beckys farbigen Koffer aus dem Kofferraum. Sein großer alter Lederkoffer stand schon auf dem Kies, daneben Lottis riesiger Käfig. Der sah selbst aus wie ein kleines Schloss. Professor Librum hatte ihn eigenhändig gebaut. Drei Nist- oder Ruhekästen für Lotti waren darin, eine niedliche Hängematte und ein buntes Laufrad.

      „Du gehst besser in deinen Käfig.“ Vorsichtig setzte Becky Lotti in ihr tragbares Zuhause. „Wir müssen uns das Schloss erst mal gemeinsam anschauen, bevor du auch allein auf Erkundungstour gehen darfst. Ich weiß ja, dass du nicht wegläufst, Lotti. Aber sicher ist sicher.“

      Professor Librum betrachtete Schloss Rosenbolt ausgiebig. „Ja, ich wusste, dass das Schloss sehr schön ist“, beantwortete er erst jetzt Beckys Frage, während das Gebäude sein schimmerndes Abendkleid anlegte. „Deine Mama ist im Nachbardorf aufgewachsen, und hier an der Uni, wo ich jetzt arbeite, haben wir uns kennengelernt. Einmal hat sie mich zum Schloss geführt, doch wir konnten es leider nur von außen besichtigen. Und jetzt wohnen wir hier! Ist das nicht toll? Willkommen also in unserem Schloss, meine Kleine“, sagte Professor Librum und strich sich über den sorgfältig gestutzten Bart.

      Becky warf ihm einen liebevollen Blick zu und schob ihre kleine in seine große Hand. So einen Moment durfte man unmöglich allein erleben. Und es gab ja nur sie beide … und Lotti. Sie waren die Familie Librum, die ab jetzt auf Schloss Rosenbolt zu Hause war.

      „Papa“, flüsterte Becky, „sind wir auf einmal reich?“

      Professor Librum hüstelte verlegen. „Du siehst doch selbst, dass das Schloss ziemlich baufällig ist. Außerdem habe ich es nur gemietet. Aber reich ist man schon, wenn man in so einem Schloss wohnen darf, oder?“

      „Hm.“ Becky überlegte. „Irgendwie schon.“

      Professor Librum deutete nach vorn. „Schau mal! Der Brunnen sieht genauso aus wie der in deinem alten Märchenbuch, Becky.“

      In der Mitte des Rondells, um das die Auffahrt führte, stand ein Brunnen. Aber nicht irgendeiner. Er war kreisrund, hatte ein vermoostes Wasserbecken und in der Mitte einen Sockel. Ein Frosch mit einer goldenen Kugel zwischen den Schenkeln hockte darauf. Aus seinem breiten Maul hatte er wohl vor langer Zeit Wasser ins Becken gespuckt. Jetzt war es leer.

      „Du weißt schon, die Geschichte vom Froschkönig“, meinte Professor Librum. „Oje, sogar der Brunnen ist ausgetrocknet. Wahrscheinlich fehlt seit Jahren das Geld dafür.“ Er zwinkerte seiner Tochter zu. „Da müsste mal die Fee Glimmeria mit ihrem Zauberstab vorbeischauen. Und – pling! – den Brunnen wieder zum Laufen bringen, was?“

      Glimmeria. Allein der Name verursachte Becky Bauchschmerzen. Die Geschichten der lustigen, zauberhaften Fee aus der magischen Welt hatte sie immer zusammen mit ihrer verstorbenen Mama gelesen. So wie viele andere Märchen- und Abenteuerbücher auch. Becky schluckte. Und als könnte Professor Librum ihre Gedanken lesen, drückte er Beckys Hand in diesem Moment ganz fest.

      „Alles wird gut, Becky. Ab heute sind wir König Ignaz und Prinzessin Rebecca. Das ist doch auch ziemlich märchenhaft, oder?“

      „Märchenbücher sind was für Babys, Papa. Aber ich bin keins mehr.“ Becky schob die Gedanken an die Vergangenheit beiseite. Jetzt war sie in ihrem neuen Zuhause. Und das, was sie hier vor sich sah, übertraf alle ihre Erwartungen.

      Professor Librum ließ die Hand seiner Tochter los und durchsuchte seine Jacken-, Hosen- und Westentaschen. „Wo habe ich nur diesen verflixten Schlüssel hingetan? Becky, jetzt sag doch mal was!“

      Ein bisschen kam Becky ihr zerstreuter Vater immer so vor, als wäre er aus der Zeit gefallen. Womit er auf jeden Fall gut zu dem alten Schloss passte. Wortlos zog sie den Schlüssel aus der ledernen Aktentasche, die ihr Vater neben sich auf den Boden gestellt hatte.

      „Hier ist er, Papa. Genau dort, wo du ihn gestern hingesteckt hast.“

      Professor Librum schnappte den Schlüssel aus ihrer Hand und trottete kopfschüttelnd zur Eingangstür. „Kommst du, Becky?“

      Becky kam nicht. Sie stand immer noch wie angewurzelt auf dem Kies, den farbigen Koffer und Lottis Schloss neben sich, und blickte sich um. Bisher hatte sie mit ihrem Vater in einer kleinen und ziemlich lauten Stadtwohnung gelebt. Vierter Stock, kein Aufzug. Ohne Balkon, ohne Garten. Und jetzt das hier! Größer könnte der Gegensatz kaum sein. Die Baufälligkeit des alten Gemäuers, von der ihr Vater gesprochen hatte, war ihr völlig egal. Becky sah nur ihr Traumschloss. Als ihr Blick nach oben zu einem der Fenster im Dachgeschoss wanderte, fiel ihr etwas Seltsames auf. Eine kleine Bewegung. Der Umriss eines Körpers. Ein Schatten, der an der Scheibe vorbeihuschte. Oder bildete sie sich das nur ein?

      „Lotti, ich glaube, oben im Dach …“, erklärte sie ihrem Streifenhörnchen gerade, da rief Professor Librum energisch:

      „Komm jetzt bitte hinein, Becky, sonst verkühlst du dich noch. Und es wird schon dunkel.“

      2. Kapitel

      Zaubertreppen und Hungerbäuche


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