1857. Wolfgang Matz
komischen Szenen vom Anbruch der modernen Literatur zu verdienter Berühmtheit gelangt. Flaubert hatte die Freunde Du Camp und Louis Bouilhet zu seinen Richtern bestimmt, denen er an vier Septembertagen des Jahres 1849 das gesamte Opus vorlas. »Noch am Abend, nach der letzten Lesung, gegen Mitternacht, schlug Flaubert mit der Faust auf den Tisch und sagte: ›Jetzt zu uns dreien, sagt mir offen, was ihr davon haltet.‹ Bouilhet war schüchtern, doch niemand konnte seine Gedanken entschiedener ausdrücken als er, wenn er nur einmal beschlossen hatte, sie mitzuteilen: ›Wir denken, du solltest das ins Feuer werfen und nie wieder davon reden.‹ Flaubert sprang auf und stieß einen Entsetzensschrei aus.« Die Kritik war eindeutig. Flaubert hatte dem von »gueulades« begeisterten Burschen freie Hand gelassen, und der hatte sich entfesselt hineingestürzt in seine lyrischen, pathetischen, metaphorischen Exzesse. Maxime Du Camps Souvenirs littéraires sind nicht frei von phantasievollen Ausschmückungen der Wirklichkeit, so dass kaum zu entscheiden ist, ob die Szene sich im Detail tatsächlich so zugetragen hat; doch gerade in diesen Details passt sie zu gut, um nur erfunden zu sein. In der Auseinandersetzung über die Tentation de saint Antoine kommt der Grundkonflikt in Flauberts Schreiben zum entscheidenden Austrag; nur wird sich erst später zeigen, ob der Sieger in ihr so eindeutig festzustellen ist, wie Du Camp das zu sehen glaubte. »Wir sagten zu Flaubert: ›Dein Sujet war verschwommen, du hast es durch deine Art, es zu behandeln, noch verschwommener gemacht […].‹ Flaubert sträubte sich; er las einige Passagen noch einmal vor und sagte: ›Aber es ist schön!‹ Wir antworteten: ›Ja, schön ist es, das bestreiten wir nicht, aber es ist eine innere Schönheit, die außerhalb des Buches zu gar nichts taugt. Ein Buch ist ein Ganzes, bei dem jeder Teil der Gesamtheit dient, und nicht eine Zusammenstellung von Sätzen, die, wie gut auch immer sie gemacht sind, nur einzeln für sich einen Wert haben.‹ Flaubert rief aus: ›Aber der Stil?‹ Wir antworteten: ›Stil und Rhetorik sind zwei verschiedene Dinge, die du verwechselt hast; erinnere dich an das Rezept von La Bruyère: Wenn Ihr sagen wollt: Es regnet, dann sagt: Es regnet.‹«
Das Rezept, mit dem die beiden Freunde Flaubert endgültig von seinen stilistischen Rasereien kurieren wollten, ist ebenso berühmt wie ihre Diagnose: »Du musst auf diese unklaren Sujets verzichten, die von sich aus schon so verschwommen sind, dass du ihnen niemals Festigkeit geben kannst; du hast einen unüberwindlichen Hang zum Lyrismus, also musst du ein Sujet wählen, bei dem Lyrismus so lächerlich wäre, dass du gezwungen bist, auf dich aufzupassen und auf ihn zu verzichten. Nimm ein bodenständiges Sujet, eine dieser Geschichten, von denen das bürgerliche Leben so voll ist, irgendwas wie Cousine Bette oder Cousin Pons von Balzac, und zwinge dich, es in einem natürlichen, fast gewöhnlichen Ton zu behandeln, und lass diese Abschweifungen, diese Redereien, die zwar für sich genommen schön sind, aber nur nutzlose Vorspeisen für die Entwicklung deiner Idee und ärgerlich für den Leser.« Du Camp konnte nicht wissen, dass den Autor von Passion et vertu, der Éducation sentimentale und anderer Manuskripte Hinweise auf bodenständige Sujets à la Balzac viel weniger schockierten, als er befürchtete. Du Camp sah zwar den Grundkonflikt in Flauberts Schreiben, er sah ihn aber um einen winzigen, gleichwohl entscheidenden Winkel verzerrt. Desinteressiert an bodenständigen Sujets war Flaubert nie; mehr noch: Die Wahl des Sujets ist für ihn – zwischen der normannischen Arztgattin Madame Charles Bovary, geborene Emma Rouault, und der karthagischen Königstochter Salammbô, zwischen dem schlichten Herzen der Dienerin Félicité und dem eifersüchtigen der alttestamentarischen Herodias – niemals das entscheidende Kriterium eines Buches. Du Camp glaubte, seinem Freund jeden Lyrismus komplett austreiben zu müssen; Flaubert dagegen suchte den Weg, dem Lyrismus Form und Gestalt zu geben. »Aber es ist schön!« – Flauberts Ausruf galt dem, worauf es ihm ankam. Die Schönheit seines Textes sollte sein Wesen als Kunstwerk begründen.
Flaubert musste einsehen, auch mit dem Kolossalgemälde des Saint Antoine war es ihm nicht geglückt, ein publikationsreifes Werk zu schaffen. Ganz traute er dem Urteil seiner Freunde jedoch nie; zweimal nahm er die Arbeit an seiner Heiligenlegende wieder auf, bis sie im Jahre 1874 endlich doch noch erschien. Folgenreicher als die Ablehnung selbst wird die letzte Szene des Septembertribunals: »Plötzlich sagte Bouilhet: ›Warum schreibst du nicht die Delaunay-Geschichte?‹ Flaubert hob den Kopf und rief freudig aus: ›Was für eine Idee!‹« Es gibt keine Dokumente, keine Briefe, die zeigen könnten, ob Flaubert die Tragweite dieser Idee tatsächlich sofort begriff oder ob sie doch erst Schritt für Schritt sich entwickelte. Erklärungen brauchte es keine; weder für den Fait divers, denn der Ehebruch und Selbstmord der Arztgattin Madame Delamare (Du Camps Diskretion musste sie mit Pseudonym versehen) war damals in aller Munde; noch für die Fruchtbarkeit einer weiblichen Éducation sentimentale bei einem Autor, der »in das Wahre […] wühlt und gräbt, so tief er kann«, um in der Sittengeschichte die Wahrheit seiner Zeit zu entdecken, für einen Autor, der an Balzacs Femme de trente ans gerade dies bewundert hatte.
Am 29. Oktober 1849 bricht Flaubert mit Du Camp auf zu seinem letzten Umweg, ins Sehnsuchtsland seiner Madame Emma Bovary, und er verbringt anderthalb Jahre im Orient. Ob er tatsächlich irgendwo am oberen Nil den Namen seiner berühmtesten Heldin fand, ist nur von anekdotischem Interesse; ihre Gestalt und ihr Roman begleiten ihn in Gedanken seit dem Moment der Abreise. Im Juli 1851 betritt er wieder das Haus in Croisset, am 19. September schreibt er das erste Wort der Madame Bovary.
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