Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet. Alexander Bogner
neu gestaltet werden können, diese Ansicht wird im 19. Jahrhundert zum Allgemeingut. Es herrscht der unbedingte Glaube daran, dass Wissen besser ist als Nichtwissen, dass rationale Analyse dem intuitiven Erleben überlegen ist und das Bewusstsein über dem Sein steht. Scientia potestas est verkündeten schon die Frühaufklärer. Diesen Schlachtruf ›Wissen ist Macht‹ führten später dann auch die sozialdemokratischen Arbeiterbildungsvereine im Munde. Wissen ist gut gegen Aberglauben, Vorurteile oder auch Obrigkeitshörigkeit. Es verhilft zur Einsicht, dass die Dinge nicht so bleiben müssen, wie sie sind. Bald geht man davon aus, dass sich Natur, Mensch und Gesellschaft mit Hilfe der aufblühenden Wissenschaft nach eigenen Vorstellungen steuern, planen und verbessern lassen. Gegen diesen Wissensoptimismus regt sich bald Widerstand. Nietzsche bezeichnet es als »Wahnvorstellung[…], dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei«.6
Im 20. Jahrhundert gerät die Macht des Wissens dann immer gründlicher in Misskredit. Im Zuge des technischen Fortschritts und militärischen Wettrüstens wird offensichtlich, dass das Wissen auch Risiken, Gefahren und Verwüstungen hervorbringen kann. Man lernt, dass das Wissen um die kleinsten Elementarteilchen in seiner technischen Anwendung zu den größten Katastrophen führen kann (Atomkraft). Und man kriegt zunehmend Angst vor der technischen Neugestaltung der Natur (Gentechnik), auch der menschlichen (Biomedizin), so dass die Ethik bald zur ständigen Begleiterin der Genetik wird.
Außerdem kommt man darauf, dass Wissen keineswegs eindeutig sein muss. Schmerzlich deutlich wurde, dass allein schon der Versuch, etwas zu verstehen, das Objekt des Verstehens verändert (Heisenbergs Unschärferelation). Erst die Beobachtung legt das an sich uneindeutige Objekt auf einen bestimmten Zustand fest – eine Paradoxie, die Schrödinger in seinem Gedankenexperiment der gleichzeitig lebendigen und toten Katze aufgreift. In den Geisteswissenschaften macht die Dekonstruktion Karriere, also die Überzeugung, dass es aussichtslos ist, nach festen Fundamenten des Wissens zu fahnden. Jede Interpretation führt in einen unerschöpflichen Verweisungszusammenhang hinein, der es unentscheidbar erscheinen lässt, was wirklich der Fall ist.
Und auch im Alltag wird immer deutlicher, dass Wissen nicht immer eine robuste Ressource ist: Oft ist seine Gültigkeit umstritten, manchmal ist es unsicher oder uneindeutig, und jede Erkenntnis wird von der Erkenntnis neuen Nichtwissens begleitet. Die von der linksalternativen Bewegung popularisierte Expertenkritik trägt dazu bei, dass bald alle Leute in allen wichtigen Fragen, vor allem in Gesundheitsfragen, routinemäßig eine zweite Meinung einholen. All das darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Macht des (Experten-)Wissens in aller Regel auf der Grundlage von (Experten-)Wissen kritisiert wird. Besonders gut sichtbar wird dies an den Umwelt- und Technikkonflikten der 1980er und 90er Jahre. Die damaligen Proteste zeigten ein hohes Verwissenschaftlichungsniveau; im Streit um Grenzwerte und Risiken wurden die Demonstranten oft selbst zu Experten. Kein Wunder, dass sich aus der Umweltbewegung heraus sogar neue Forschungszentren entwickelten, wie etwa das Freiburger Öko-Institut oder das Institut für Soziale Ökologie in Wien.
Heute hat die antiautoritäre Revolte gegen die Wissenschaft ein eigenartiges, fremdes Gesicht. Denn sie wird nicht mehr von den Sympathieträgern der Vergangenheit – rebellierenden Studierenden, kritischen Intellektuellen, sozialökologisch Bewegten – getragen, sondern zu einem guten Teil von Demagogen und Populisten, die uns mit teils belustigenden, teils verstörenden Zweifeln und Fragen konfrontieren: die Klimaerwärmung – eine chinesische Erfindung? Der Mensch – tatsächlich ein Resultat der Evolution? Die Erde – eine flache Scheibe? Aids – ausgelöst durch Armut und nicht durch HIV? Oder das Impfen: Führt es nicht zu Autismus? Und ist Corona nicht von Bill Gates erfunden worden?
Das Credo dieser Leugnerbewegung erinnert an Pippi Langstrumpfs Lebensmotto: »Ich mach mir die Welt / widde widde / wie sie mir gefällt.«7 Sympathisch war ihre antiautoritäre Attitüde, ging es doch gegen die langweilige, faktenfeste Welt der Erwachsenen. Ihre Botschaft an uns: Habt endlich Mut, eure Phantasie zu benutzen, um aus der selbstverschuldeten Eintönigkeit eurer durchrationalisierten Welt herauszufinden. Ihre Eigenheiten wurden als feine, zivilisationskritische Nadelstiche geschätzt. Doch heute haben sich die Nadelstiche gegen die fade Faktenwelt zu einer brachialen Zerstörungswut ausgewachsen. Aus Pippi Langstrumpf wurde Donald Trump.
Im Kampf gegen eine aktive Klima-, Impf- oder Aids-Politik hat sich ein unverwüstlicher Dissens etabliert, der politischen Widerstand in Form (pseudo-)wissenschaftlicher Gegenexpertise praktiziert (auf den Bestsellern von Coronazweiflern muss unbedingt mindestens ein Doktortitel vor dem Verfassernamen stehen). Nicht selten konsolidiert sich dieser Dissens mittels hartnäckiger Tatsachen- bzw. Wahrheitsverleugnung. Mit Bestürzung berichten akademische Beobachter, dass der Amoklauf gegen Rationalismus und Expertentum mittlerweile zum Massensport geworden ist.8 Verschwörungstheorien und sogenannte alternative Fakten werden gerade dort virulent, wo Daten, Zahlen und wissenschaftliche Expertise im Streit über die richtige Politik eine besondere Rolle spielen. Dies war zuletzt in den breiten Protesten gegen die politischen Maßnahmen im Zuge der Coronakrise zu spüren. Microsoft-Gründer Bill Gates, so war unter anderem zu hören, steuere mittels seiner Stiftung die Pandemie, um an den Impfungen zu verdienen. Oder: Corona sei ein trojanisches Pferd, um den repressiven Überwachungsstaat salonfähig zu machen.
Das Problem
Angesichts der gesteigerten Sichtbarkeit von Verschwörungstheorien und Faktenleugnern, angesichts des globalen Aufstiegs von Rechtspopulismus und Fake-News-Kultur liegt es nahe, zum Schutz der Demokratie verstärkt auf Wissen und Aufklärung zu setzen.
Daran ist zunächst einmal nichts falsch: Eine besonnen geführte Debatte über Zuwanderung und ihre Folgen ist nur auf der Grundlage belastbarer Daten und Fakten möglich. Eine kluge Umweltpolitik kann nur auf gesichertem Wissen darüber basieren, wie es um die globale Erwärmung wirklich steht. Über Chancen und Risiken der Digitalisierung klärt die Technikfolgenabschätzung auf. In mancher Hinsicht jedoch – und davon handeln die folgenden Kapitel – hat das Vertrauen in die Macht des Wissens selbst demokratiepolitisch zweifelhafte Folgen.
Der Essay setzt bei der Beobachtung an, dass die Demokratie in Krisensituationen gerne auf die Macht des Wissens vertraut. So werden viele politische Krisen und Konflikte primär als epistemische Probleme verstanden, also als Fragen von Wissen, Expertise und Kompetenz.
Damit treten an die Stelle des die Industriegesellschaft prägenden Basiskonflikts zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern immer mehr die Konflikte zwischen Experten, Gegenexperten und informierten Laien. Beispielhaft dafür steht der Klimastreit. Mit dem Fokus auf Wissen und Expertise drohen jedoch normative Aspekte aus dem Blick zu geraten (Kapitel 2).
Auch wenn die Demokratie selbst unter Druck gerät, hofft man auf die heilsame Kraft des Wissens. Denn als treibende Kraft politisch unliebsamer Entwicklungen (Populismus, Autoritarismus) gelten oft mangelnde Bildung und unzureichende Informiertheit. Mit dem Fokus auf die kognitive Ebene verbindet sich die kühne Unterstellung, dass sich hinter politischen Streitfragen eigentlich nur Sachfragen verstecken, für die es dank einschlägiger Expertise richtige Lösungen gibt (Kapitel 3).
Streit gehört zur Demokratie, aber die Demokratie bleibt nur dann lebendig, wenn man mehr Demokratie wagt. Doch auch dieses Projekt steht heute unter dem Leitstern des Wissens. Radikale Ansätze, die die Demokratisierung der Demokratie auf der Wissensebene in Angriff nehmen, geraten allerdings in die fatale Nähe eines epistemischen Populismus (Kapitel 4).
Der allgemeine Glaube an die Allmacht des Wissens beflügelt eine generelle Abneigung gegen die Experten. Der Kampf gegen den typisch expertenhaften Anspruch auf besseres Wissen gilt darum auf allen Seiten des politischen Spektrums als Ausdruck echter Demokratisierung (Kapitel 5).
Dieser Kampf wird heute von Gruppen fortgesetzt, die gegen gesicherte Erkenntnisse der Wissenschaft und etabliertes Wissen aufbegehren. Auf diese Weise macht die breite Bewegung der Klimawandel-, Evolutions- oder Coronaleugner auf den hohen Verwissenschaftlichungsgrad vieler politischer Kontroversen aufmerksam. Wer nicht willens oder fähig ist, seinen Standpunkt mittels Expertenwissen abzusichern, greift auf »alternative« Fakten zurück und mobilisiert Pseudoexpertise (Kapitel 6).
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