Deutsche Geschichte (Band 1-3). Ricarda Huch
schon damals ein Gleichgewicht nationaler Staaten sich hätte herausbilden können; man könnte geneigt sein, die Niederlage der Langobarden, eines so reichbegabten edlen germanischen Stammes zu beklagen. Das Lied vom Römischen Weltreich ertönte lauter als die Stimmen der einzelnen Völker, es erfüllte das Abendland. Und läßt man die Ereignisse und Gestalten des Mittelalters an sich vorüberziehen, so zweifelt man nicht, daß die tatsächliche Entwicklung diejenige war, die der Menschheit gerade durch das tragische Verhältnis zwischen Papst und Kaiser, durch den übermenschlichen Umriß ihrer Ziele den reichsten Gehalt an großen Ideen und vorbildlichen Gestalten geben konnte.
Karl der Große
Nach Pipins Tode, der wie sein Vater jung starb, siegte noch einmal der politische Gedanke des Karl Martell, nämlich der Anschluß an die Langobarden. Bertrada reiste selbst nach Italien; und wenn sie auch Rom nicht mied, wo sie an den heiligen Stätten betete, so war doch ihr hauptsächlicher Zweck, die Vermählung ihres ältesten Sohnes mit einer Tochter des Langobardenkönigs Desiderius zu betreiben, die auch wirklich vollzogen wurde. Das festigte zugleich die Verbindung mit Bayern, da Thassilo, der Herzog von Bayern, mit einer Schwester der jungen Frau verheiratet war. Papst Stephan äußerte seinen Zorn über diese Wendung in einem Schreiben, das bald zähnefletschend grimmig, bald ölig milde den bombastischen Stil trägt, der in der Kanzlei der Kurie üblich wurde. Er bezeichnete die Verbindung Karls mit einer Langobardin als aus einer Einflüsterung des Teufels entstanden, von der Niedertracht selbst ausgeheckt, die Langobarden als ein stinkendes, aussätziges, treuloses Volk, ja überhaupt nicht einmal Volk. Wahnsinn sei es, wenn der edle König des ruhmvollen Frankenlandes sich durch eine solche Verbindung beflecke. Zum Schluß drohte er, wenn die Heirat trotz seiner Abmahnung zustande käme, dem Schuldigen mit dem Bannfluch, durch den er mitsamt den übrigen Gottlosen dem Teufel und dem ewigen Feuer zum Verbrennen überantwortet werden würde. Vielleicht war Karl von Anfang an gegen die eigene Überzeugung dem Willen der Mutter gefolgt, vielleicht besorgte er, was auch wirklich geschah, daß sich Papst und Langobarden nunmehr zu seinem Schaden miteinander verständigen würden: nach einjähriger Ehe schickte er dem Desiderius seine Tochter zurück, die vermutlich keine wärmere Neigung in ihm erweckt hatte. Aus dieser schroffen Tat hätten bedenkliche Verwicklungen innerhalb der Familie entstehen können, wenn nicht Karlmann, der wie einst sein gleichnamiger Oheim zu Bertrada hielt, plötzlich gestorben wäre, etwa zu gleicher Zeit auch Stephan. Seinem Nachfolger Hadrian I. wurde das widernatürliche Bündnis mit den Langobarden, das Stephan aus Not und Trotz eingegangen war, sehr bald drückend, und er wandte sich hilfesuchend an Karl. Nun war der Augenblick gekommen, wo Karl das Problem mit dem Schwerte lösen konnte; er führte ein Heer über die Alpen, besiegte und entthronte Desiderius und zwang ihn, in ein Kloster zu gehen. Karl trat als König in die durch die Absetzung des Desiderius frei gewordene Stelle ein, ohne übrigens in der Lage des Langobardenvolkes etwas Nennenswertes zu verändern, außer daß er allmählich die Langobarden, die ihm unzuverlässig erschienen, auf verantwortungsvollen Posten durch fränkische Grafen oder Herzoge ersetzte. Er war Nachbar des Papstes in Italien geworden, nicht mehr nur der entfernte Schutzherr, der zu Hilfe kam, wenn er gerufen wurde, und nach getaner Arbeit sich wieder zurückzog.
Zunächst erwuchsen daraus keine Schwierigkeiten. Der römische Stadtadel war eine Gegnerschaft des Papstes, die ihn immer noch des fränkischen Schutzes bedürftig machte. Leo III., Hadrians Nachfolger, wurde von seinen römischen Feinden so verfolgt, daß er sich und sein Schicksal Karl völlig überantwortete. Er suchte ihn in Paderborn auf, wo der König Hof hielt. Karl liebte diesen Ort am Fuße des Teutoburger Waldes, der ihm zu einer Stätte des Ruhms wie kaum ein anderer werden sollte; denn hier empfing nach dreißigjährigen erbitterten Kämpfen sein gefährlichster, sein größter Gegner, der Sachse Widukind, die Taufe. Er mochte Augenblicke haben, wo das Rauschen des Eichwaldes ihm wie ein Gotteswort des Friedens klang, das das vergossene Blut sühnte. An Stelle der Salvatorkirche, die im Sachsenkriege zerstört war, hatte er nahe dem Quell der Pader einen Dom aus Stein errichtet, der den Zeitgenossen prächtig erschien; er wurde 200 Jahre später durch eine Feuersbrunst vernichtet. Er war noch nicht vollendet, als Papst Leo zum Gedächtnis seiner Anwesenheit einen Altar darin weihte. Was sich sonst an Häusern in Paderborn vorfand, war vermutlich aus Holz und ziemlich dürftig; wenn aber der Ort dem Italiener nicht sonderlich imponierte, so tat es doch die Menge gerüsteter Krieger, die ihn empfing, und vor allem der König selbst im meergrünen Mantel mit dem edelsteingeschmückten Schwert und dem Diadem, wie er sich an Festtagen trug. Trotz der Anklage, die auf dem Papst lastete, wobei es sich hauptsächlich um Meineid und Ehebruch handelte, empfing ihn Karl mit allen Ehren, umarmte und küßte ihn, von vornherein entschlossen, ihn für unschuldig zu halten. Man nimmt an, daß bei dieser Begegnung die Krönung des Königs zum römischen Kaiser beredet wurde; sie war die Gegengabe des Papstes für den Schutz, den Karl ihm gewährte. Dennoch scheint es, daß der König, als ihm Leo am Weihnachtstage des Jahres 800 in der Basilika des heiligen Petrus die Krone aufsetzte, überrascht war; er hat später gesagt, daß er nicht in die Kirche gegangen sein würde, wenn ihm das Vorhaben des Heiligen Vaters bekannt gewesen wäre. Die Gründe dafür kennen wir nicht; es ist möglich, daß er fürchtete, sich durch diesen Akt die Feindschaft des oströmischen Kaisers zuzuziehen, möglich auch, daß er vorgezogen hätte, sich selbst zu krönen, wie er denn vor seinem Tode seinem Sohn Ludwig befahl, sich die Krone aufs Haupt zu setzen und sich Kaiser und Augustus nennen zu lassen. Diesen Titel führte er selbst seit der Krönung in Rom.
Die Übertragung der Cäsarenwürde auf den Frankenkönig war ein Ereignis von ungeheurer, einschneidender Bedeutung; aber da sie nicht ein neues Verhältnis schuf, sondern einer allmählich vollendeten Entwicklung Ausdruck gab, empfand sie Karl wohl als etwas Selbstverständliches. Das Weltreich bestand, es war die Form, in der seit Jahrhunderten die Menschen lebten. Durch die Entstehung des großen fränkischen Reiches war Byzanz an den Rand gedrängt, der mächtige Germanenfürst als tragende Säule in die Mitte des Weltreiches gerückt. Von ihm strahlte schaffende Kraft nach allen Seiten aus; der Titel verlieh ihm nichts, besiegelte nur das, was war. Die Möglichkeit künftiger Verwicklungen und Gefahren, die aus der Beziehung zum römischen Papst entstehen konnten, wird ihn nicht ernstlich beunruhigt haben; dazu lebte er zu sehr in der Fülle der Zeit.
Karl der Große war einer der Berufenen, die das Zusammengehörige, aber Vereinzelte zu einem lebendigen Ganzen ordnen, und die von den dankbaren Völkern, deren Geschichte sie begründet haben, wie Halbgötter verehrt wurden. Seine Vorfahren hatten das große Werk vorbereitet, Thüringen, Schwaben, Bayern fand er bereits mit den Franken vereinigt, auch die Sachsen und Friesen hatte Pipin schon zu unterwerfen versucht. Was ihn vor jenen auszeichnete, war, daß er dem neugeschaffenen Körper eine gemeinsame Ordnung, einen gemeinsamen Sinn und Geist gab.
Zu den Büchern, die Karl mit Vorliebe las, gehörte der Gottesstaat des heiligen Augustinus. Der edle Schwung, der es erfüllt, die unerschütterliche Überzeugung eines durch Anlage und Bildung überlegenen Geistes machen die Wirkung, die es jahrhundertelang ausgeübt hat, verständlich, mehr noch vielleicht die Einfachheit und doch auch Vieldeutigkeit der Gedankengänge. Schon in dem ersten Brüderpaare der Menschheit, in Kain und Abel, so sieht Augustinus den Sinn der Geschichte, spaltete sie sich in zwei Reiche, in ein solches, das Gott angehört, und in ein solches, das den Menschen folgt, menschlichen Begierden, menschlicher Einsicht, menschlichen Zwecken. Das Reich Gottes steht innerhalb der Menschheit gegenüber der Welt oder dem Reiche der Menschen, das durchaus nicht etwa des Verstandes, der Bildung, der Tugend ermangelt, aber auf menschliche und irdische Zwecke beschränkt ist und zweifelhafte irdische Genüsse durch ewiges Verderben erkauft. Das Reich Gottes ruht auf dem Glauben und gewinnt das ewige Leben, es beginnt hienieden in Hoffnung und entfaltet sich drüben im Schauen.
Augustinus wußte, daß nicht alle, die sich Christen nannten, Christen waren, aber die Kirche, die das Wissen von Gott und den göttlichen Dingen lehrte, der zu seiner Zeit alle Christen angehörten, ohne die die Nachfolge Christi als nur von einzelnen verwirklicht ohne Halt und ohne Dauer gewesen wäre, fiel ihm zusammen mit dem Gottesstaate, während der heidnische Staat diejenigen umfaßte, die sich der Gnade Gottes entzogen. Der Gedanke lag nahe, Kirche und Staat überhaupt als Gottesstaat und Menschenstaat oder Welt