Die Welten des Jörg Weigand. Jörg Weigand
»Mit Herrn Sommer, oh!«
Anscheinend ein wichtiger Mann, dieser Herr Sommer. Ich war offensichtlich im Urteil des Fernsehtraums um etliche Sprossen die Leiter hinaufgerutscht.
Während die Empfangsdame telefonierte und mich anmeldete, blickte ich mich in der Halle um. Mehrere Sitzgruppen teilten den Raum auf. An den Wänden hingen Poster und Fotos, die Szenen aus der Arbeitswelt des Fernsehens zeigten. Ich erkannte Bilder von der ersten Liveübertragung vom Mars durch Jonny Cartier, den damaligen Starreporter, der von seinem anschließenden Trip zum Japetus nicht zurückgekommen ist. Vor nicht einmal zehn Jahren war die Übertragung vom Roten Planeten sieben Tage lang ohne Unterbrechung ausgestrahlt worden. Cartier konnte natürlich nur einen kleinen Teil davon bestreiten; wenn er schlief oder sich sonst wie erholte, übertrugen die automatischen Kameras, ab und an mit vorbereiteten, kommentierenden Texten unterlegt, in jedem Falle aber des atemlosen Staunens der ganzen Erde sicher.
Die Computerisierung dieser sieben Tage dauernden Übertragung hatte über ein Jahr lang die Programmierer und Techniker in Atem gehalten – ein Glanzstück des modernen Fortschritts, das uns auf der Schule für Fernsehtechnik immer wieder als beispielhaft vor Augen gehalten worden war.
Ich wurde ziemlich abrupt aus meinen Träumen gerissen, als mir die Schwarzhaarige in den Tricolorfarben auf die Schulter klopfte und mir mitteilte, Herr Sommer sei im Augenblick anderweitig beschäftigt und könne daher den abgesprochenen Termin nicht einhalten.
»Wissen Sie«, flötete sie, »heute fällt die Entscheidung über unseren nächsten großen Star, den die Gesellschaft aufbauen will. Eine höchst wichtige Entscheidung, nicht wahr? Schließlich will das Publikum ja nur das Beste vorgesetzt bekommen …«
Sie schaute mich unter ihren verlängerten Wimpern an, als erwartete sie, ich solle sie als nächsten großen Star vorschlagen. Sicherlich war sie davon überzeugt, dass sie das alles viel besser konnte als die vom Publikum und den Fernsehgewaltigen hofierten Schönheiten.
Ich begnügte mich damit, sie nach dem Weg in die Computerzentrale zu fragen, und überließ sie ihren Träumen.
Mein Gespräch mit Herrn Sommer, dem technischen Leiter der Computerabteilung, hatte offensichtlich Zeit. Jetzt wollte ich mich erst einmal mit meinen neuen Kollegen bekannt machen.
2
Es ist eben doch ein himmelweiter Unterschied zwischen dem, was man auf der Schule lernt, und den Anforderungen, die dann in der Praxis gestellt werden. Der gleichmäßige Trott, an den wir uns auf der Schule für Fernsehtechnik in den vergangenen drei Jahren gewöhnt hatten, wurde bei der Staatlichen Fernsehgesellschaft abgelöst durch ein Stoßgeschäft mit hektischen Aktivitäten, worauf dann lange Zeiten der Pause folgten. Ebenso plötzlich flammte dann wieder Arbeitswut auf, bedingt durch Termine oder auch nur menschliche Unzulänglichkeiten, da niemand in den oberen Etagen in der Lage zu sein schien, für eine gleichmäßige Auslastung der Mitarbeiter zu sorgen.
Ganz schön aufreibend, eine solch sporadische Hektik. Das geht an die Nerven; kaum einer, der nicht gereizt reagiert, wenn ihn ein anderer nur schräg ansieht.
Bald war ich in diesem Chaos, das wunderbarerweise immer wieder mit wirklich bemerkenswerten Resultaten aufwarten konnte, voll integriert. Ich schimpfte wie meine Kollegen auf »die da oben«, war dennoch ganz zufrieden, mein gutes Geld auch für streckenweises Nichtstun zu erhalten, und maulte, wenn Terminarbeiten dieses Nichtstun unterbrachen.
Bereits in die ersten Wochen fiel meine entscheidende Begegnung mit Bellinda. In jenen Tagen wurde ich in der Abteilung herumgereicht, um überall einmal hineinschnuppern und mich akklimatisieren zu können – so der technische Leiter Sommer, mit dem ich am Tag nach meinem Arbeitsantritt eine kurze Unterredung gehabt hatte. Sommer war mir herzlich unsympathisch, ein diensteifriger Strebertyp, wie ich sie noch nie habe leiden können. Ich war auf dem Weg zur Computerzentrale, da wurde ich auf dem Gang von einem jungen Mädchen angesprochen. Sie war höchstens achtzehn Jahre alt und lächelte mich etwas schüchtern an.
»Können Sie mir sagen, wo ich Herrn Peter Melchior finde?«, fragte sie.
Ich musterte das Mädchen etwas erstaunt. Peter Melchior ist unser Chefprogrammierer, ein serviler Typ. Was konnte sie von ihm wollen …
»Es geht um die Anlage der Programme«, fügte das Mädchen wie als Antwort auf meine unausgesprochene Frage hinzu. Es war etwas kleiner als ich, also etwa einen Meter siebzig groß, hatte ziemlich kurzgeschnittenes, kastanienbraunes Haar und hellblaue Augen, die mir sofort auffielen. Ihre Figur war vielleicht nicht üppig zu nennen, doch saß da alles am richtigen Fleck. Es ging eine natürliche, eine selbstverständliche Anmut von ihr aus.
»Na, genug gesehen?« Mit einem Mal wirkte sie nicht mehr schüchtern. Ein schneller, prüfender Blick aus den umwerfend blauen Augen begleitete die kecke Frage.
»Hm, ja.« Jetzt war ich verlegen. »Ich habe mir gerade überlegt, was Sie wohl bei Melchior … ich meine, Herrn Melchior …«
»Warum ich ihn suche? Nun, ich bin Beate Michalowski …«
Sie sah mich an, als müsste mir nach dieser Eröffnung alles klar sein. Wahrscheinlich starrte ich ihr nur blöde wie ein Rindvieh auf der Weide entgegen, denn der Name sagte mir gar nichts.
Sie lachte hell auf.
»Ach so! Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, ich bin Bellinda.«
Nun staunte ich erst recht. Das also war sie, unser neuer Superstar. Aus Tausenden von Bewerberinnen ausgewählt, die selbst bereits mehrere Wettbewerbe erfolgreich hinter sich gebracht hatten. Man erzählte sich bereits Wunderdinge von Bellindas Talent vor der Kamera, von ihrer Ausstrahlungskraft, ihrem Charme.
Nun konnte ich mich selbst davon überzeugen.
Ich glaube, ich war in jenem Moment der Überraschung keines gescheiten Gedankens mehr fähig. Immerhin war ich noch ausreichend bei Verstand, um Bellinda bei Melchior abzuliefern.
Dann aber war für den Rest des Tages nicht mehr viel mit mir anzufangen. Immer wieder sah ich jene hellblauen Augen vor mir, im Kontrast dazu die kastanienfarbenen Haare, die kleine gerade Nase … Ich glaube, ich hatte mich damals schon, gleich bei der ersten Begegnung, hoffnungslos in Bellinda verknallt.
Ob da nun bei mir ein besonderer Funke gezündet hatte oder ob die Auswahl der Fernsehanstalt so zielsicher erfolgt war, dass einfach alle Männer auf die Ausdruckskraft des lieben Gesichts ansprangen, darüber möchte ich nicht zu lange nachdenken. Die erste Erklärung ist mir lieber, sie lässt mir mehr individuelle Befriedigung; andererseits ist der große, ja überwältigende Erfolg von »Bellinda Superstar« eine Tatsache.
Damals freilich konnten alle nur auf so einen Erfolg hoffen. Bellinda wäre, bei all ihrer Bescheidenheit, sicherlich auch mit weniger Erfolg zufrieden gewesen – zumindest am Anfang, denn im Laufe des Aufbaujahres entwickelte sie einen recht beachtlichen Ehrgeiz. Vielleicht hätte sie sonst die folgenden Monate auch gar nicht durchhalten können.
3
In der Folgezeit traf ich, auch in meiner Eigenschaft als Computertechniker, öfter mit Bellinda zusammen. Zwar war ich der Jüngste in der Mannschaft der Computerzentrale, doch bei uns muss jeder, ohne Ansehen der Person und seiner Dienststellung, überall einsetzbar sein. Daher wurde ich auch zur Gesamtfeldprogrammierung von »Bellinda Superstar« herangezogen.
Man hatte das Programm einfach nach dem Star genannt, um den sich zwölf Monate lang alles drehte. Eigentlich müsste ich sagen: nach dem zukünftigen Star, doch für mich war Bellinda von Anfang an etwas Besonderes.
Bei dem Programm, das mit der bei uns üblichen sporadischen Hektik durchgezogen wurde, ging es um Folgendes:
Die Gesamtpersönlichkeit Bellindas, ihr Verhalten, ihre Gesten, ihre Mimik, ihre Sprachgewohnheiten – all das und noch vieles mehr mussten eingespeichert werden, um schließlich nach Beendigung des Programms im Personality-Generator ein hundertprozentiges Bild der Person