Die Pandemie. Rainer Marten
und Empathie unter Beweis, wenn sie durch sie das Kind, das noch ohne entwickeltes Selbst ist, mit Selbstsein belehnen, um so eine echte Zweiheit in ihrer Wechselseitigkeit zu bilden. Sie fühlen im Kind ihr zweites Ich, sich selbst, wie Aristoteles sagt, als ihr anderes Ich (heteros ego).6 Lebenskunst gehört zur Natur des Menschen. Er entwickelt sie durch Erfahrung. Misslingt Lebensteilung, zerbrechen Intim- und Vertrauensverhältnisse, enden Kommunikations–, Arbeits- und Gütergemeinschaften, sind Freundschaft und Beistand aufgekündigt, dann gehört auch das zum menschlichen Leben, ja eben zu seiner lebenspraktischen Wahrheit. Das aber zerstört nicht notwendig die Kunst, Leben gelingend zu teilen, und mit ihr die Bejahung, als Mensch zu leben mit dem Willen, menschlich zu leben. Im Gegenteil, gerade die Corona-Krise entdeckt, wie stark in den Menschen diese Kunst, wenn nicht lebendig, so doch latent vorhanden ist. Ohne damit zu den inflationären Heldennominierungen beizutragen, muss man sagen, dass Empathiefähigkeit und Empathiebereitschaft ihre Probe bestanden haben. Das ist die eigene Erfahrung und gilt, wie zu hören und zu lesen war, für weite Nachbarschaften. Doch die Corona-Krise ist kein Deus ex machina, bewirkt keine allgemeine Wende zur Güte, zum Guten. Der Mensch wäre nicht Mensch, wenn er nicht auch Zeugnisse für krasse Gegenbeispiele erbrächte: neu auflebende Diskriminierung, Marginalisierung, Verachtung. Die Erkrankung an Covid-19 und die Sorge, sie nach Möglichkeit zu verhindern, und, ist sie gegeben, so gut wie möglich zu therapieren, verändert den Menschen nicht, verbessert ihn nicht. Die uralten Rufe zur Umkehr, offensichtlich zur Rückkehr ins Paradies oder in ein reines Geisterreich, werden – zum Glück –weithin im Leeren verhallen und das vielbemühte, in Paris bei einer Kunstbegegnung geprägte Wort »Du musst dein Leben ändern« dürfte kaum eine Chance haben, bei der Corona-Krise in ihrem heute so reich diskutierten Danach lebenspraktisch von Bedeutung zu sein. Die Bestimmung jedes Menschen aber, mit Menschen dazusein und für Menschen dazusein, in deren Erfüllung sich Mitmenschlichkeit als menschliches Gelingen feiert, hat durch die so reich bezeugte Empathiefähigkeit und Empathiebereitschaft der Menschen in der Coronakrise die den Menschen von früh an begleitenden Urteile über seine grundständige Schlechtigkeit einmal mehr widerlegt. Harte, einem Volksgott aus welcher Motivation auch immer angedichtete Urteile über den Menschen, die die geistig-geistliche Kultur Europas mitgeprägt haben, sind einmal mehr Makulatur geworden:
Jede Verwirklichung der Planungen des menschlichen Herzens war durch und durch böse Tag für Tag.7
dass des Menschen Sinnen gerichtet ist, mit allem Eifer Böses zu tun von Jugend an.8
WER DEN STIMMEN DER ZEIT FOLGT, die das Wünschen und Wollen, Müssen und Können zur Sprache bringen, hört nur eines: Weitermachen! Die Fußballer wollen endlich wieder Fußball spielen, die Kabarettisten wünschen sich, wieder auf der Bühne zu stehen, die Gläubigen müssen wieder in die Kirche gehen, die Studenten auf die Universitäten, ja die Autobauer müssen endlich wieder Autos bauen, die Touristen endlich wieder auf Reisen gehen. All das, was gewünscht und gewollt ist, ja auch alles, was endlich wieder sein muss, könnte auch wirklich statthaben, wären nur erst die Beschränkunken aufgelockert, wenn nicht schon aufgehoben. Wer könnte und sollte sich schon in der Wahl und Wirklichkeit seiner Lebensform in Frage gestellt sehen – durch wen, durch was, wie und wozu?
Ist die Lebensart vor dem Ausbruch der Corona-Krise in Frage gestellt?
Die Antwort darauf kann derzeit nur eine vorläufige, aber doch auch vorwegnehmende sein, abhängig davon, ob die Krise in Kürze hinter uns liegt oder ob sie weit länger als erwartet fortbesteht. Die Frage zielt auf die Lebensart von demokratisch regierten Wohlstandsgesellschaften, in denen Verführung und Verführbarkeit zur ungehemmten Luxurierung des Lebens immer neu den Sieg über vernünftige Bedenken dagegen den Sieg davontragen. Aberwitzige Innovationen zur Steigerung der Annehmlichkeiten des alltäglichen Lebens (smart home), aberwitzige Anstrengungen zur Erhaltung der Gesundheit und zur Verlängerung des Lebens, aberwitzige Zielsetzungen wie die des jeweils zweitgrößten Autobauers der Welt, erstmalig oder wieder der größte zu werden, werden verkündet, als ob sie Menschheitszielsetzungen gleichkämen, beherrschen die Gemüter im Einzelnen und im Gesamten. Die Vorhaben und Ausübungen sind durchweg selbstbezogen, ob im wirtschaftlichen oder im privaten Konsum. Man hat viel Stress und wenig Zeit, hat aber doch seinen Gewinn und seinen Genuss. Vor allem aber will man seinen Spaß haben, eine ganz eigene Form von Lebensfreude: quietschendes Vergnügen. Das ist in seiner Kürze keine Kapitalismuskritik und Wohlstandkritik, sondern nur ein Stück Bestandsaufnahme der gelebten Lebenswirklichkeit, um konkreter die Frage zu stellen, ob der Mensch durch die Art, wie er lebt, das meint in diesem Corona-Monat: wie er im Davor lebte, sich selbst in Frage stellt. Folgen wir der Jugend, die jüngst mit Umsicht und Einsicht die Gefahren des Klimawandels tatkräftig ernst zu nehmen begann, dann stellt der Mensch durch seine Lebensart in der Tat sich selbst in Frage und will es auch alsbald wieder tun. Oder könnte es doch wie durch ein Wunder sein, dass die Corona-Krise die Selbstbezogenheit der Lebensentwürfe und Lebenspraxis aufbricht, um die Teilung der Spaß- und Erlebniswelt, der Annehmlichkeiten und Genüsse um eine Welt auszuweiten zur Teilung der menschlichen Verantwortung für das Leben auf der Erde als seiner Wohnstätte?
Warum sollte ausgerechnet eine weltweite Bedrohung von Leben und wirtschaftlicher Existenz durch ein und dieselbe Krankheit Menschen dazu bringen, über die Selbstbezogenheit ihrer Interessen, wie sie in einem Land der Erde in seiner Verfassung verankert ist, im »Pursuit of happiness«, hinauszugehen, um in Zeiten und Räumen zu denken, die die eigenen Lebensperspektiven unendlich überbieten? Die Autoindustrie hat im Mai 2020 ihre Forderungen nach Abwrackprämien für intakte Autos, damit neue »Benziner« und E-Autos gekauft werden, verstärkt. Eine abenteuerliche Verrücktheit: Autos auf Autofriedhöfen, die noch von A nach B und von X nach Y fahren können, auf Autofriedhöfen zu beerdigen, damit neue Autos gekauft werden. Das treibt wirklich die Innovation um der Innovation willen und den Konsum um des Konsums willen auf die Spitze. Doch hat die Autoindustrie nicht recht, handelt sie nicht im Interesse aller, aller nämlich, die als Verführte längst mit den Verführern paktieren? Die Lebensart ändern durch eine bewusste Verarmung des Lebens, durch bewusste Zerstörung eines funktionierenden fruchtbaren Verbunds von Politik und Wirtschaft – das überfordert ganz offensichtlich alle Seiten, die an der vor Corona gelebten Lebensart mit ihren Eigeninteressen Anteil nahmen. Systemrelevante Gruppierungen wie am Fußball Verdienende und am Fußball Spaß Habende, am Auto Verdienende und am Autofahren Spaß Habende, die das reine Weiter-wie-vorher mit Macht verlangen, im Verein mit den großflächig agierenden Verschwörungstheoretikern, die eine Existenz der Corona-Krise in Abrede stellen, sind ein starkes Indiz dafür, dass der Mensch seine Lebensart vor Corona nicht in Frage gestellt sieht.
Das eine ist die Lebensart vor Corona, zu der alle diejenigen so schnell wie möglich zurückkehren wollen, die sich davon versprechen, wieder ihr normales Leben zu führen und ihren gewohnten Spaß zu haben. Ein anderes aber ist es, in der Zeit der Corona-Krise zu leben und ihre Bedrohungen zu bestehen. Die aber sind so stark, dass die Bedrohten keine Zeit darauf verschwenden, über eine mögliche und nötige Veränderung der Lebensart nachzudenken, die durch Corona angestoßen wäre, sondern die sich mit der Gefahr konfrontiert sehen, ihre Existenz zu verlieren. Allem voran steht die Kultur existenziell auf dem Spiel. Die Orte ihres Wirkens sind die der großen Menschenversammlungen, die Menschen einander nah, ja in nächste Nähe bringen. Hier wirken sich die als Schutzmaßnahmen für Bedrohte gemeinten Freiheitsbeschränkungen in einem übertragenen Sinne tödlich aus. Durch den Lockdown ist nicht die Freiheit als Grundrecht in Gefahr, sondern die Freiheit, die Kultur am Leben erhält. Ist man sich einig, dass nicht zwischen dem Leben der Jungen und Alten ein wertender und für die Bewältigung der Corona-Krise relevanter Unterschied gemacht werden darf, so gilt das nicht weniger für das Leben der durch den Tod Bedrohten und das Leben der durch Vernichtung ihrer Existenz Bedrohten. Ist für Regierende das Auto systemrelevant, nicht aber die Kultur, weil diese keine Lobby, zumindest keine wirksame, hat, dann ist dagegen einzuschreiten. Das gilt auch für alle anderen wie Cafébesitzer, die ohne entschiedene Lockerung des Lockdowns nicht etwa auf Zeit um ihre flotte Lebenszeit gebracht werden, sondern im genauen Sinne des Wortes vor dem Nichts stehen. Wird bereits jetzt damit gerechnet, dass die Corona-Pandemie im Jahre 2020 nicht ihr Ende findet, um für das Danach