Die Praktikantin und 12 andere heiße Erzählungen. Lisa Vild
Es ist weniger ein Laut als ein Gefühl. Ich spüre es in den Zehen, ein Kribbeln, das durch alle Haare meines Körpers geht, sich an der Innenseite meiner Schenkel hochkitzelt, über das Steißbein und das Rückgrat hoch bis zu den Haarwurzeln. Ich erinnere mich an das Gefühl aus der Zeit, als ich zwölf war und auf dem Fahrrad über einen Schotterweg vor meinem Elternhaus fuhr. Der Schotter rief im Fahrrad ein Vibrieren hervor, durch den festen Sattel zu dem Weichen, Unentwickelten zwischen meinen Beinen. In dem Sommer bin ich viel auf dem Schotterweg geradelt, hin und zurück, und versuchte dabei so unauffällig wie möglich auszusehen. Im Sommer danach hatte es seine Faszination verloren, aber ich erinnere mich noch immer an das Gefühl des Genusses, dass sich bis in die Schenkel erstreckte. Ich löse meine Knie voneinander. Meine Beine waren auf der ganzen Fahrt übergeschlagen, jetzt habe ich mit Sicherheit rote Abdrücke unter der Kleidung. Die Beine aus der geschlossenen Position befreit, entspanne ich mich und rutsche etwas im Sitz hinunter. Ein leichtes, fast unhörbares Prasseln hat am Fenster eingesetzt. Vielleicht vernehme ich es nur aus dem Gedächtnis, als ich die Tropfen am Fenster runterlaufen sehe. Einer nach dem anderen, es regnet noch immer nur leicht. Ihre Farbe ist fantastisch, unglaublich. Ich fand schon immer, dass die Farbe von Regentropfen zu den magischen Wesen gehört: Engel und Einhörner. Und jetzt gerade mir und meinen Gedanken. Ein schwaches Licht scheint durch die kleinen Wasserbläschen und macht sie goldig, blau oder rosa. Das Surren ist bis zu meinem Schoß vorgedrungen, ich spüre, wie entspannt ich bin und überlege, wann ich das letzte Mal gemeinsam mit jemand anderem nackt war. Es war nach einem feuchtfröhlichen Abend in einer Bar, nichts Erinnernswertes. Ich spülte den Kater am nächsten Morgen mit einem Becher starken Kaffee an einer Tankstelle runter und nahm mir vor, so etwas nie wieder zu tun. Man sollte niemanden in einer Bar aufreißen, wo alle Beteiligten nicht ganz da sind und eine schlechtes Urteilsvermögen haben. So etwas sollte an deutlich sinnlicheren Orten geschehen. Spezielle Treffbereiche. Für Blicke und echten Kontakt. Im Zug. Ich sehe wieder zur Frau rüber. Sie macht sich Notizen in der Zeitung. Was schreibt sie? Ich berechne aus dem, wie weit sie mit der Lektüre gekommen ist, dass sie beim Kreuzworträtsel sein muss. Frage mich, ob sie eher über einem Wort brütet oder lieber Sudokus löst. Ich war immer schlecht in Kreuzworträtseln. Wenig Geduld, wenig Sprachgefühl. Aber es ist schön, anderen beim Lösen zuzusehen, wie ihre Augen sich konzentriert verengen, wie sie Buchstaben in verschiedene Richtungen zusammensetzen, um Wörter zu bilden. Wer das tut, hält den Schlüssel zu etwas Sensiblem und Intimem, der langsame Genuss des Jetzt, mit dem und gegen das Zeitungspapier. Das Kreuzworträtsel des Tages. Morgen das Kreuzworträtsel von Montag. Die Augen der Frau vergrößern sich, als sie den Kuli an ihre Lippen legt und darüber nachdenkt, ob sie sich mit ihrem letzten Eintrag in eine Ecke manövriert hat. Die Muskeln um ihre Augen bilden kleine Falten, schwer zu erkennende Rillen direkt unter den Augenbrauen. Ich sehe sie nicht, aber sehe sie trotzdem. Ich stelle mir vor, dass sie einen Platz weitergerückt ist, um mir Platz zu machen, und dass wir das Kreuzworträtsel zusammen lösen.
Mein Schal ruht auf ihren Schultern, auf ihm wiederum ruht ihre lose Frisur. Ich frage mich, ob sich eine Haarsträhne an dem Stoff verfangen wird. Ich würde es mir wünschen. Ich spüre ihre entfernte Wärme durch den Sitz, auf dem sie gerade noch gesessen hat, und sehe auf die Buchstaben, die sie in das Kreuzworträtsel geschmiert hat. Wörter wie Festung, Albtraum und Runde prangen auf dem dünnen, fast grauen Papier. Wörter, die ich nicht im täglichen Leben benutze, aber wer tut das schon? Wir suchen erfolgreich gemeinsam nach einem längeren Wort und dann nach einem kurzen Wort, von dem sie noch nie gehört hat. Ursus. Bär auf Lateinisch. ((geändert, weil es im Deutschen keinen Fachausdruck für die Vordertatze gibt.)) Ich weiß nicht, warum ich mich daran erinnere, vielleicht ist das ein Rest aus der Unterstufe. Die Frau lächelt, genauso, wie sie die Schaffnerin angelächelt hat. Sie scheint froh zu sein, dass wir es gemeinsam lösen. Das Gefühl in mir erwacht erneut. Sie fragt nach einem anderen Wort, das sie noch nicht lösen konnte. Wie sie wohl klingt? Spricht sie Dialekt?
Ich zucke zusammen, versunken in meinen Blick auf ihren dünnen Fingern, die wieder den Pappbecher umklammern. Er muss jetzt leer sein, oder kalt. Ihre Fingernägel sind kurz, die Fingerspitzen fast durchsichtig, von der Kälte unnatürlich verfärbt. Es wird schlimmer, wenn wir in die Berge hochkommen. Ich frage mich, warum sie so dünn angezogen ist. Ein dunkler Rock, eine dunkelblaue Bluse und dünne Schuhe. Ich selbst trage eine Hose, Stiefel und einen Strickpulli. Es ist Sommer und keineswegs besonders kalt draußen, aber es geschieht immer etwas mit der Temperatur in Fahrzeugen, besonders in Zügen und Flugzeugen. Die Klimaanlage ist auf besseres Wetter ausgelegt. Ich sollte ihr meinen Schal anbieten.
Die Frau zieht den Schal enger um sich. Ich frage sie, ob sie friert, kann ich aber nichts weiter anbieten. Sie gibt etwas peinlich berührt zu, dass sie so schnell zum Zug gehetzt ist, dass sie ihre Jacke im Taxi vergessen hat. Ich lache auf und sie stimmt ein. Nennt sich selbst Wirrkopf. Ich sage, dass das jedem passieren kann. Wir reden ein wenig, wo wir herkommen und wo wir hinwollen. Über die Berge draußen und wie das Wetter wird, wenn der Regen richtig einsetzt. Sie sagt, wenn der Himmel sich öffnet, wird er alle kleinen einzelnen Tropfen am Fenster fortwaschen, zusammen mit den magischen Farben. Ich konzentriere mich ganz auf ihre Stimme, die warm und gurrend ist. Ich weiß weder, was sie fragt, noch, was ich antworte. Manchmal weiß ich nicht einmal, wer von uns spricht. Es ist nicht so wichtig.
Ich werde aus meinen Tagträumen geweckt, weil die Tante, die Süßigkeiten und Kaffee verkauft, in unseren Waggon kommt. Die Frau kauft einen weiteren Becher Tee und eine Schachtel Minzbonbons. Ich kaufe einen Kaffee und ein belegtes Brötchen, das ich auf dem Tisch vor mir lege. Die Tante verschwindet wieder und der Waggon füllt sich mit dem Geräusch der Verpackungen, die geöffnet werden. Die Kaffeeoberfläche ist das Gegenteil der Regentropfen an der Außenseite der Fenster: Sie ist trüb und matt und hat einen komischen Farbverlauf, wie Chemikalien oder Benzin in einer schmutzigen Pfütze. Er schmeckt sauer und etwas scharf, als werde der Behälter, in dem er schwappend herumreist, lange nicht mehr sauber gemacht wurde. Der scharfe Geschmack piekt etwas in der Nase, aber ich trinke den ganzen Becher aus, ohne die dreieckige Einwegpackung mit Milch, die ich dazubekommen habe, anzurühren. Eine Weile lang habe ich meine Müdigkeit überwunden und habe Zeit, die tief hängenden Wolken zu betrachten. Lange dauert es nicht mehr, möchte ich zur Frau sagen aber sie sieht mich nicht an. Sie blickt auf ihr Kreuzworträtsel, das wir zusammen lösen sollten.
Als wir mit dem Kreuzworträtsel fertig sind, blättern wir etwas zerstreut in der Zeitung. Lesen gemeinsam einen längeren Artikel oder einen Bericht, den wir leise diskutieren. Ich sage etwas Originelles über die Rezension eines neuen Restaurants, die Frau lacht auf. Und legt eine Hand auf mein Knie. Sie ist klein und von innen kalt, aber künstlich von außen durch den neuen Tee aufgewärmt. Ihre Finger sind noch dünner, als ich vorher gedacht habe. Wie kleine, helle Spinnen. Eine hält den heißen Pappbecher, die andere liegt wie ein kühler Stein an meiner Kniescheibe. Ich warte darauf, dass sie sie dort wegnimmt, aber das tut sie nicht.
Wir fahren in die erste Dunkelheit. Der Zug hat mit dem Aufstieg begonnen, und der erste von zahlreichen Tunneln legt sich um uns. Die weiche Decke der Dunkelheit ist dicht und sanft, und lässt mich an die schweren Samtvorhänge in einem alten Theater denken. Aber Theatervorhänge sind immer rot. Der Samt, in dem wir uns gerade befinden, besteht aus einem dunklen Grün, oder vielleicht Blau – wie die Bluse, die den Torso der Frau schmückt. Natürlich kann ich die gerade nicht sehen, natürlich stelle ich mir das nur vor. Aber ich glaube zwei Beine zu sehen, die in meine Richtung leuchten, nackt im Tunnel. Das Licht der Notausgangsschilder fliegt vor dem Fenster vorbei und erhellt die Silhouette ihres Gesichts: ein halboffener Mund, der Hals gebeugt. So kommt sie mir auf einmal dekadent vor. Mit ihren Kleidern und ihrer Frisur und dem, was nach einem nur leicht geschminkten Gesicht aussieht, könnte sie in ein anderes Jahrzehnt passen, in eine andere Ära oder einen anderen Zusammenhang. Sie könnte in einer französischen Luxusboutique arbeiten, in der man Parfüms und Seidenschals kaufen kann. Ich frage mich, woran sie wohl denkt, da sie nicht lesen kann. Daran, wohin sie fährt oder wo sie herkommt?
In der Dunkelheit sitzen wir schweigend nebeneinander. Der Luftsog vom Zug im Tunnel verursacht einen sirrenden Durchzug, es dröhnt vor dem Fenster. Aber wir sitzen schweigend da. Ihre Hand auf meinem Knie. Ich schlucke. Wenn ich mich anstrenge, kann ich das Geräusch meiner klingenden Ohrringe in dem Geräusch der Luft hören,