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Sir James, ein Mann in mittleren Jahren, saß vor dem Kamin und las die Zeitung. Als ihm Lord Colwall gemeldet wurde, sprang er mit einem Ausruf des Erstaunens auf.
Ein eleganter junger Mann, um den Hals eine kunstvoll geschlungene Krawatte, unter dem Rock mit den geschwungenen Schößen eine juwelengeschmückte Uhrentasche, trat ins Zimmer. Er sah auffallend gut aus. Seine Züge waren scharf geschnitten: volles, dunkles Haar fiel ihm in die breite Stirn. Nur auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, der auf den ersten Blick fast abstoßend wirkte.
Es war schwer zu verstehen, daß ein so junger Mann schon so zynisch und gleichzeitig so stolz und abweisend aussehen konnte, daß ein Fremder instinktiv jeden näheren Kontakt mit ihm vermied.
Sir James Begrüßung ließ deutlich erkennen, daß er sich über den Besuch freute.
„Ralph“, rief er. „Warum haben Sie mich nicht wissen lassen, daß Sie mich aufsuchen wollten? Trotzdem sind Sie mir herzlich willkommen.“
Lord Colwall trat neben Sir James vor den Kamin, in dem ein Holzfeuer brannte.
„Ich habe mich erst gestern Abend dazu entschlossen“, erwiderte er mit kühler, ausdrucksloser Stimme. „Ich habe gerade in der ,Times' von den Drohbriefen an die Gutsbesitzer in den südlichen Provinzen gelesen, die mit ,Swing' unterzeichnet sind“, erzählte Sir James. „Merkwürdig, daß kein Mensch zu wissen scheint, wer dieser Mann ist.“
Die beiden Herren hatten auf Sesseln vor dem Feuer Platz genommen.
„Wenn man seine Identität herausfindet, dürfte man ihn hängen oder zumindest deportieren“, meinte Lord Colwall.
„Es gehen Gerüchte um, daß er ein verstoßener Adeliger, ein entflohener Strafgefangener oder ein Rechtsanwalt ist, der vom Gericht ausgeschlossen wurde. Jedenfalls muß es sich um einen gebildeten Mann handeln, seinem Briefstil nach zu schließen. Ohne Zweifel steht er hinter der Rebellion in der Gegend von Canterbury. Landarbeiter allein könnten so etwas niemals organisieren.“
„Das ist offensichtlich“, stimmte Lord Colwall zu. „Wenn die Regierung nicht hart durchgreift, könnte ein Bürgerkrieg entstehen.“
„Als ich die Briefe in der ,Times' las, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Landarbeiter zumindest teilweise im Recht sind“, wandte Sir James ein.
„Der Meinung bin ich nicht“, rief Lord Colwall. „Sie werden für ihre Arbeit bezahlt. Heuschober zu verbrennen und landwirtschaftliches Gerät zu zerstören bedeutet Anarchie.“ In seiner Stimme lag so viel Empörung, daß der friedliche Sir James einlenkte.
„Lassen Sie uns über ein angenehmeres Thema sprechen. Welchem Umstand verdanke ich Ihren höchst willkommenen Besuch?“
Lord Colwall zögerte einen Augenblick, dann sagte er langsam: „Ich wollte Sie bitten, mein Trauzeuge zu sein.“
Sir James starrte ihn an, als traue er seinen Ohren nicht.
„Sie wollen heiraten?“ rief er. „Lieber Junge, das ist die beste Nachricht, die ich seit langem gehört habe. Niemand hat mir übrigens erzählt, daß Sie im Begriff sind, in den heiligen Stand der Ehe zu treten. Habe ich etwa die Ankündigung Ihrer Verlobung übersehen?“
„Es hat gar keine gegeben“, stellte Lord Colwall fest.
„Und wer ist die glückliche Braut? Kenne ich sie?“
„Nein, sicherlich nicht.“
Lord Colwall hatte sich erhoben, durchquerte mit großen Schritten das Zimmer und blieb vor dem Fenster stehen, um in den Garten hinaus zu sehen. Sir James konnte sein Erstaunen nicht länger verbergen.
„Was hat das zu bedeuten, Ralph?“ fragte er. „Wie Sie wohl wissen, würde mich nichts mehr freuen, als Sie glücklich verheiratet zu sehen.“
„Dessen bin ich mir wohl bewußt“, erwiderte Lord Colwall. „Als ein Freund meines Vaters, der bis zu meinem einundzwanzigsten Lebensjahr als mein Treuhänder fungierte, sollen Sie daher als erster von meinem Entschluß erfahren.“
„Ihr Vertrauen ehrt mich“, sagte Sir James. „Aber warum machen Sie ein solches Geheimnis aus der Affäre?“
„So ist es keineswegs“, versicherte Lord Colwall. „Ich führe etwas aus, was ich seit langem geplant habe,.“ Er kehrte zu seinem Sessel vor dem Kamin zurück. „Wie Sie wissen, habe ich nach Claris’ Tod geschworen, nie wieder zu heiraten“, fuhr er fort.
„Sie waren damals noch sehr jung, kaum einundzwanzig, und man hatte Ihnen übel mitgespielt. Unter solchen Umständen sagt man manches, was man später bereut.“
„Ich habe jedes Wort ernst gemeint“, erklärte der junge Mann. „ Als ich aber vor drei Jahren in den Besitz meiner Güter gelangte, wurde mir klar, daß ich vor allem den Fortbestand meiner Familie im Auge haben muß. Die Erbfolge muß in direkter Linie weitergehen. Ich will meinen Besitz eines Tages meinem Sohn hinterlassen.“
„Der Meinung bin ich auch“, stimmte Sir James zu. „Aber vor allem möchte ich Sie glücklich sehen.“
„Ich sagte Ihnen bereits, daß ich meine Heirat schon seit langem geplant habe“, fuhr Lord Colwall fort.
Etwas in seiner Stimme ließ Sir James aufhorchen.
„Was wollen Sie damit sagen, Ralph?“
„Ich bin im Begriff, Ihnen alles zu erklären, nicht weil ich Ihre Zustimmung brauche, sondern weil ich glaube, daß Sie die Wahrheit wissen sollten.“
„Und wie lautet diese?“
„Ich könnte es nicht ertragen, noch einmal eine Frau wie Claris an meiner Seite zu wissen. Aus bitterer Erfahrung weiß ich, wie leicht das Gefühl, das wir Liebe nennen, zur Selbstzerstörung führen kann.“
„Das Leben hat Sie bitter gemacht“, stellte Sir James fest. „Andererseits sollten Sie wissen, daß Sie Dinge erlebt haben, die vielleicht einem Mann unter Millionen zustoßen.“
„Hoffentlich stimmt diese Zahl“, bemerkte Lord Colwall ironisch.
„Da Sie inzwischen älter und klüger geworden sind“, fuhr Sir James fort, „sollten Sie die Vergangenheit zu vergessen suchen. Sie haben noch Ihr ganzes Leben vor sich. Sie besitzen eine Stellung, um die viele Menschen Sie beneiden. Ihre Güter dürften in ganz England nicht ihresgleichen finden, und Sie tragen einen Namen, den man weit und breit respektiert.“
„So ist es!“ rief der junge Mann. „Und weil ich wie ein Narr die Ehre meiner Familie einmal aufs Spiel gesetzt habe, werde ich diesen Fehler nicht noch einmal begehen.“
„Wir alle machen Fehler“, sagte Sir James ruhig. „Ich habe immer gehofft, daß die Zeit Ihre Wunden heilt.“
„Als ich die Wahrheit über Claris herausfand, habe ich mir geschworen, mich nie wieder zu verlieben“, rief sein Gesprächspartner heftig aus. „Dieses Gelöbnis werde ich bis ans Ende meiner Tage halten.“
„Und trotzdem wollen Sie heiraten?“
„Den Grund dafür habe ich Ihnen doch bereits genannt. Vor drei Jahren wählte ich eine Braut, die damals erst fünfzehn Jahre alt war. In diesem Augenblick dürfte sie sich auf dem Weg von Cumberland, wo sie bisher gelebt hat, zu meinem Schloß befinden. Sie wird am Mittwoch dort eintreffen. Die Trauungszeremonie ist für den folgenden Tag vorgesehen.“
„Auf welche Weise haben Sie ein fünfzehnjähriges Mädchen ausgewählt?“
„Ich stellte eine Liste von Verwandten und Bekannten zusammen, die Töchter im entsprechenden Alter hatten. Auf meiner Rundreise kam ich schließlich nach Pooley Bridge, wo die zweite Kusine meines Vaters, Lady Margaret Graystoke lebt. Ihre Tochter schien allen Anforderungen zu entsprechen, die ich an meine zukünftige Frau stellen muß. Die Graystokes sind eine alte und angesehene Familie. Sie haben zwar kein Geld, genießen jedoch einen untadeligen Ruf.“
„Wollen Sie damit andeuten, daß Sie sich Ihre Braut ausgesucht haben, als ob Sie ein Pferd kaufen wollten? Weiß das Mädchen davon?“
„Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit ich vor drei Jahren dem Pfarrhaus ihres