Sturm über Bluewater. Stig Ericson

Sturm über Bluewater - Stig Ericson


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Jagdtouren und würde vermutlich die ganze Woche wegbleiben. Vielleicht hatte er ein schlechtes Gewissen, aber davon war ich gar nicht überzeugt. Was meinen Vater betraf, so konnte man sich auf gar nichts verlassen.

      Mutter sah ängstlich aus. Sie zeigte stumm auf das Gewehr in der Ecke neben dem Herd, eine von Vaters vielen Winchesters, eine ziemlich neue 73er, die immer geladen war.

      Ich holte das Gewehr herunter und erinnerte mich noch daran, wie schwer es war. Ich schoß sonst immer mit einer kleinen 22er, die nicht entfernt so schwer war. Mutter stand unbeweglich hinter einem Hocker und starrte auf die Tür. In der einen Hand hatte sie einen kaputten Strumpf, in der anderen eine Stopfnadel.

      Und sie hatte auch allen Grund, Angst zu haben. Vater hatte viele Feinde, vor allem unter den großen Ranchbesitzern, die Vieh züchteten. Er war ja so etwas wie ein selbsternannter Führer der Kleinbauern, der Farmer, die Stacheldraht um ihre Grundstücke zogen.

      Die Rancher haßten Stacheldraht – außer dem, den sie unrechtmäßig auf dem freien Feld ziehen ließen. Ihre ganze Wirtschaft gründete sich darauf, daß die riesigen Herden frei über große Gebiete ziehen konnten. Und es ging um unglaublich große Summen. Deshalb konnten sie diese, Weichlinge’, die aus dem Osten kamen, nicht ausstehen, die neuen Farmer, die immer mehr von dem bis dahin freien Land nahmen. Und es war ihnen auch egal, daß die Siedler das Recht auf ihrer Seite hatten, daß ihre Grundstücke registriert waren. Es war weit bis zum Sheriff in Rushville, und für Geld konnte man alles kaufen – auch Polizisten.

      Gedungene Cowboys mit lose sitzenden Halftern und schnellen Pistolen unternahmen alles, um die Siedler zu verjagen. Der Stacheldraht wurde durchgeschnitten. Höfe angezündet. Schüsse hallten in der Nacht, Leute wurden tot aufgefunden. Zeugen wurden gekauft – oder zum Schweigen gebracht.

      Die wenigen, die das Geld hatten, besaßen auch die Macht.

      Vater und viele andere hatten sich richtige Feuergefechte mit fremden Reitern geliefert, die dann schnell in der Dunkelheit verschwunden waren.

      Wir hatten also wirklich allen Grund, an diesem Abend Angst zu haben.

      In letzter Zeit hatte man sich Sorgen gemacht wegen der Oglalas, der Siouxindianer aus dem Pine-Ridge-Reservat, das einen knappen Tagesritt nördlich lag.

      Es gab wenig zu essen da oben, hieß es. Die Roten hungerten. Und sie hatten damit begonnen, ihre wilden Kriegstänze zwischen den Hügeln nördlich des Reservats zu tanzen. Vielleicht würde bald wieder ein großer Indianerkrieg ausbrechen wie damals vor vierzehn Jahren, als Custer und seine Leute oben in Montana erschlagen worden waren. Da würde das Skalp schon lose sitzen, wenn man nicht aufpaßte.

      Ich verstand das Ganze nicht so recht. Als ich klein war, hatten wir im Sommer oft Besuch von Indianern aus Pine Ridge. Sie hatten ihre Zelte so nah aufgestellt, daß wir sie vom Haus aus sehen konnten. Sie waren völlig friedlich. Ich war sogar in einem Tipi dringewesen, so nannten die Indianer ihre Zelte. Ich hatte mit Indianerkindem gespielt. Vater war mit den Indianern auf der Jagd gewesen.

      Aber jetzt hatten wir seit langem keine Indianer mehr gesehen. Vater war nicht zu Hause, und draußen war es ganz still.

      Dann hörte man leichte, schnelle Schritte.

      Jemand klopfte an die Tür.

      Mutter warf mir einen steifen Blick zu, ehe sie die Tür öffnen ging, und ich nahm das Gewehr hoch ...

      Aber es war kein gedungener Cowboy, der in der Türöffnung auftauchte, und auch kein hungriger Indianer – es war Mrs. Ryan, meine vergötterte Lehrerin Mrs. Ryan!

      So im nachhinein kann man die Szene komisch finden: Ich sehe mich selbst, mager und jämmerlich, ich muß mich zurücklehnen, um das Gewehr hochhalten zu können; Mutter hat rote Flecken auf den Wangen und ist steif wie ein Besenstiel, und in der Tür steht die dunkel gekleidete Mrs. Ryan mit einem blauen Tuch über den Schultern und weiß nicht, wie sie dreinschauen soll.

      „Ach ...“, brachte Mutter heraus. „Ach, Mrs. Ryan ...“

      Sie machte ein paar Schritte rückwärts und wäre beinahe über den Hocker gefallen.

      Ich weiß noch, daß ich kichern mußte. Mutter starrte in meine Richtung und versuchte gleichzeitig, ein Lächeln hervorzupressen, ohne den Mund zu öffnen.

      „Man kann schließlich nie wissen ... aber so kommen Sie doch herein. Bitte ...“

      Mrs. Ryan kam herein. Sie schaute sich rasch um.

      „Onkel ... Mr. Lind ist also nicht zu Hause?“

      Mutter schüttelte den Kopf. Sie hatte immer noch den Strumpf in der Hand. Ich fand, daß Mrs. Ryan erleichtert zu sein schien, aber das kann auch Einbildung gewesen sein. Die ganze Situation war so unerwartet, so verwirrend.

      Aber in mir stieg auch eine neue Spannung auf, eine Hoffnung. Warum war sie gekommen? Sollten Daniel und ich doch wieder ...? Ich wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken.

      Mutter rieb sich die Hände.

      „Eine Tasse Kaffee? Es ist ja so kalt.“

      „Nein danke.“

      Mrs. Ryan machte die Tür hinter sich zu und trat in das ärmliche Zimmer ein. Der Rock raschelte. Sie war wirklich eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Sie setzte sich ganz unten an den großen Tisch. Sie hatte ein Paket unterm Arm. Sie legte das Paket auf den Schoß und schaute erst mich und dann Mutter an.

      „Ich habe mir gedacht, daß ich doch noch ein paar Worte sagen muß zu dem, was neulich vorgefallen ist. Ich habe gehört, wie traurig Jenny ist. Und der kleine Daniel. Er schläft wohl schon ...“

      Sie erklärte, daß nicht sie „solche Fragen“ entschied. Sie war nur ein Werkzeug im Dienste der Allgemeinheit. Von sehr niedrigem Rang ...

      Rang, Klang, Zwang ...

      Die Wörter hallten in mir nach. Ich bewunderte sie grenzenlos: Die Art, wie sie die Lippen bewegte, wie sie jede Silbe formte.

      Sie sagte noch, daß es im Schulhaus ja wirklich eng sei, sehr eng sogar, aber daß die Rede davon sei, ein größeres zu bauen, im Nachsommer, ehe die Erntearbeiten alle Zeit in Anspruch nahmen ...

      Mutter betrachtete die Lehrerin mit schmalen, braunen Augen. Sie entspannte sich jetzt etwas. Ich sehe sie immer noch vor mir. Sie beugt sich ein wenig vor. Sie sieht hilflos aus, ebenso hilflos wie der löchrige Strumpf, den sie auf den Hocker gelegt hat. Aber was konnte sie denn schon machen? Nichts.

      Ich weiß noch, wie traurig sie war, als Daniel und ich an jenem Tag nach Hause kamen. Sie sagte nicht viele Worte, aber sie sprach durch ihr Schweigen, ihre Blicke und ihren Gesichtsausdruck, durch die Art und Weise, wie sie sich bewegte.

      Aber sie schwieg nicht nur, weil sie machtlos war. Das Schweigen war auch ein Ausdruck ihrer unwahrscheinlich großen Solidarität: Sie sprach selten oder nie über jemanden, der nicht anwesend war, vor allem nicht, wenn es Vater betraf.

      Wenn sie, was ganz selten vorkam, einmal auszudrücken versuchte, was sie dachte und meinte, dann wandte sie sich direkt an ihn. Und wenn er dann etwas brummte von „Frauen sollten sich nicht in Dinge einmischen, die sie nicht verstehen“, dann schaute sie ihn so lange unbeweglich an, bis er hinaus in den Garten floh.

      Manchmal folgte sie ihm.

      Mrs. Ryan öffnete das Paket. Ich hatte mir schon gedacht, daß Bücher mit grünen Umschlägen drin sein würden. Lesebücher. „Ich habe den ersten und den zweiten Teil dabei“, sagte sie, während sie das Papier mit ihren schmalen Händen faltete. „Bücher haben wir auf jeden Fall genügend ...“

      Dann sagte sie noch, daß ich bestimmt Daniel viel helfen würde, und wenn Mrs. Lind mal ein Stündchen erübrigen könnte, dann könnte sie vielleicht die Lehrerin ersetzen.

      Mutter nahm schnell die Hand vor den Mund. Sie schien peinlich berührt zu sein, beinahe verlegen. Lesen, doch, das konnte sie schon. Aber ach, die Aussprache. Die Aussprache.

      Mrs. Ryan lachte.

      Sie


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