Der Tod hat ein Gesicht. Eduard Breimann

Der Tod hat ein Gesicht - Eduard Breimann


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und weitergehen. Aber die hat mich nicht mal angesehen; sie fiel auf die Knie und sammelte alles ein – hastig, sehr hastig, machte sie das. Sie raffte alles einfach zusammen und warf es in den Koffer. Zuerst die Wäsche, die Briefe und … Stell dir vor, sie wollte die Bücher abstauben. Vielleicht war das ihre Bibel, was weiß ich. Stell dir das vor! Es dauerte einfach zu lange; ich sah schon rot. Ich hab sie angeschrien: ‚Los, los! Voran!’, hab ich geschrien. Alles stand doch still und am Wagen warteten sie.“

      Er atmet schwer und holt sein riesiges kariertes Taschentuch raus. Ralf sieht die schweißnasse Stirn und den roten Schädel, auf dem die Wasserperlen glitzern. Onkel Franz putzt sich über den Kopf und schnauft kräftig und laut ins Tuch, faltet es sorgfältig und steckt es langsam wieder in die Hosentasche.

      „Mir ist ein bisschen schlecht“, stöhnt Ralf, „ich hab das Brot nicht vertragen – und ich hab schreckliche Bilder im Kopf.“

      „Komm, wir gehen lieber. Es wird Zeit.“

      „Nein, nein! Die Bilder verschwinden doch nicht mehr.“

      „Also gut. Obschon das Schlimmste ... Es dauerte einfach zu lange. - Ich weiß nicht, wie es kam, ich bin einfach wütend geworden, furchtbar wütend. Ich hab geschrien und mit dem Gewehrkolben zugeschlagen. Auf den nackten rechten Arm. Es hat gekracht, als der Knochen brach. Der Arm hing einfach runter. Es war ganz still rundum. Sie hat nicht geschrien. Wär mir lieber gewesen, sie hätte es getan. Nur angeschaut hat sie mich, nur ... – Bruno hat es gemacht, er hat ihr den Rest eingepackt, hat den Koffer zugebunden und in ihre linke Hand gedrückt.“

      Ein grauer Reiher erhebt sich, zieht seine langen Beine nach hinten, streicht über die Wiese und lässt sich am Ufer sanft ins seichte Wasser runtergleiten.

      Ralf friert plötzlich, die Übelkeit ist schlimmer geworden. „Mir ist kalt“ sagt er flach.

      Er glaubt, dass es am auffrischenden Wind liegt, der vom Fluss kommt, über das Gras streicht und sich in den Bäumen fängt.

      „Es gibt anderes Wetter“, sagt Onkel Franz, als ein heftiger Windstoß in die Bäume fällt; es rauscht und die Äste knarren.

      „Was wurde mit Bruno?“

      „Nichts! Gar nichts. Bruno war nicht dumm. Er hat einfach laut dabei gelacht und der Frau nachgerufen, sie soll nächstens aufpassen, sonst müsse er sie selber in den Koffer stopfen. Da haben die Kettenhunde gelacht, alle anderen auch. – Ich nicht! – Ich wusste was ich gemacht hatte. Ich hatte sie zum Tode verurteilt, sie einfach umgebracht.“

      „Was? Wieso das? Du hast sie doch nur einmal geschlagen. War doch nur ein Armbruch.“

      „Du weißt nichts, gar nichts. Ich hab sie in die Gaskammer geschickt, direkt nach der Ankunft in Treblinka ist sie hingerichtet worden“, sagt er so heftig, dass Ralf zusammen zuckt.

      „Was? Deswegen? Woher weißt du das?“

      „Ach Junge, das ist einfach; es war halt so; sie brachten alle sofort um, die zu alt, die gebrechlich oder krank waren. Die konnten eine Frau mit zersplittertem Arm nicht gebrauchen für die Arbeit; sie war nichts mehr wert.“

      Ralf schluckt. Er versteht nur ganz langsam, jetzt begreift er das lange Zögern von Onkel Franz. Sein Bild, sein schönes, in Jahren gebasteltes Bild gerät ins Wanken, als zerre ein heftiger Sturm daran. Er versucht zu retten, sucht fieberhaft nach Entschuldigungen; er braucht jetzt Hilfe, viel Hilfe – das spürt er und fühlt sich furchtbar im Stich gelassen.

      „Onkel Franz! Überleg doch mal. War die Frau nicht schon alt?“

      „Nein, sie war jung, sehr jung.“

      „Wie jung denn, fünfzehn, zwanzig?“

      „Mehr, dreißig - sicher.“

      „Siehst du! Also doch schon ganz schön alt. Da hätte sie auch so vergast werden können.“

      „Nein, lass das sein. Sprich nicht so über das Vergasen. Du weißt nicht, worüber du sprichst.“

      „Aber. Ich meine doch nur ... Wenn sie doch sowieso ...“

      „Nein! Nein! Sie war zu jung.“

      „Bitte! Onkel Franz, bitte ...“

      „Ich kann dir nicht helfen“, sagt Onkel Franz leise, als er das Salzwasser in den Augen des Jungen sieht. „Ich kann nichts anderes sagen.“

      Er steht auf, wischt fahrig über den Hosenboden und greift seine Sachen.

      „Komm, wir müssen gehen. Es wird Zeit.“

      Sie laufen wortlos in den Wald; Ralf schlägt mit einem Ast an jeden Baum, der ihm im Wege ist. Es klingt wie ein Trommelschlag durch den Wald. Sie sehen das rote Dach ihres Hauses schon zwischen den Birkenbäumen, als Ralf plötzlich stehen bleibt und den Stock weit in den Wald wirft.

      „Wie sah sie aus, Onkel Franz? War sie schön?“

      Franz schaut ihn verwirrt an; er war weit weg mit seinen Gedanken. Er lehnt sich an einen Birkenbaum, stemmt die Beine in den weichen Boden. Er sieht den Jungen an, der ihm so wichtig ist wie sein eigener Sohn.

      „Warum willst du das wissen?“

      „Ich will an sie denken; ich muss an sie denken können. Gib ihr ein Gesicht, bitte.“

      „Nein! Hör endlich auf! Es war schon mehr als genug.“

      „Wie sah sie aus?“

      Es dauert lange, bis Onkel Franz redet, halb für sich selber. „Ich war ein Narr, dass ich diesem unreifen Jungen – den ich auch noch so gerne mag – das erzählt habe. Ich hätte es nicht tun dürfen – seinetwegen.“

      „Ihr Gesicht!“

      „Ach Junge! Das eben war mein Problem, – das kannst du nicht verstehen. Es gab auf einmal ein Gesicht – und was für eins! Die Juden hatten tatsächlich Gesichter. Es waren Menschen. Richtige, normale Menschen. Frauen, jung und hübsch. Alte, die ihre Falten hatten, aus denen man das Leben ablesen konnte. Nichts war mehr wie vorher. Aus den anonymen Menschenschlangen war ein Gesicht heraus gekommen – alle hatten solche und ähnliche Gesichter, das wurde mir klar.“

      „Und sie? Wie war sie?“

      Onkel Franz macht den Mund kaum auf; seine schmalen Lippen bewegen sich nur unmerklich. Ralf starrt in das Gesicht, das ihm so vertraut ist, liest jedes Wort ab.

      „Ihre Haare waren schwarz, schulterlang; ihr Gesicht schmal, sehr blass mit hohen Backenknochen. Ihre Augen! Mein Gott – Augen machen es, nur die Augen. Sie waren grün, ja, richtig grün. Ihr Kleid hatte einen Ausschnitt. Man konnte ... ich ... an ihrem Hals pulsierte eine blaue Ader, schnell wie bei einem ängstlichen Tier. Ihre Augen. Sie hat mich nur angesehen – ich hätte mich am liebsten versteckt. Sie hat nicht geweint, nicht geschrien, sie hat mich nur ewig lange angesehen.“

      Ralf hat das Bild nachgemalt, in seinem Kopf ist es fertig. Sie ist wunderschön und zart, gebrechlich fast. Er starrt seinen Onkel an; ihm ist eiskalt und als er in seine Augen blickt, sieht er keine Regung. In diesen Augen ist nichts, was ihm helfen könnte.

      „Ist das mein Onkel, mein Taufpate – mein Freund? Ist das der Mann, der aus dem Stall gehen muss, wenn ein Schwein geschlachtet wird?“

      Der Halt, den er für sicher gehalten hat, an dem er sich geklammert hat, wenn’s schwierig wurde, der nie infrage stand, gibt plötzlich nach, stützt ihn nicht mehr. Er weiß nicht, ob er alles verstanden hat, ist unsicher und hat Angst, dass es eine ganz andere Wahrheit geben könnte, als die, die er bisher gekannt hat.

      „Ich will nichts mehr davon hören, nichts!“, sagt er sehr leise. Onkel Franz nickt und schweigend gehen sie auf´s Haus zu.

      „Er hat diese Frau einfach geschlagen! Warum?“, denkt er verzweifelt. „So was kann doch keiner machen, verdammt!“ Er drückt die Tränen herunter. Nie wird er wegen der Frau weinen, schwört er sich. Nie! Und plötzlich hat er Angst vor der Nacht und grünen Augen.

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