Schlangengift - Roland Benito-Krimi 7. Inger Gammelgaard Madsen

Schlangengift - Roland Benito-Krimi 7 - Inger Gammelgaard Madsen


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verloren. Ein neuer Schmerz entstand in einem ihrer Oberschenkel, in den sich ein spitzes Holzstück gebohrt hatte. Ohne zu zögern zog sie es heraus. Der Schmerz ließ sie fast ohnmächtig werden. Mehr Blut. Aber nun waren die Haie weg. Der Kutter auch. Wasser lief ihr die Wangen hinunter und in die Nase, sodass sie auspusten musste, um nicht zu ersticken. Aber nicht, weil die Tauchermaske leckte; das Wasser strömte aus ihren Augen. Oscar! Hilflos starrte sie auf das Loch auf dem Meeresboden, wo der Kutter gelegen hatte. Es war kein Leben mehr darin und sie hatte das Gefühl, es wäre auch aus ihr gewichen. Der Sauerstoff war fast aufgebraucht. Sie riss sich zusammen und löste den Bleigürtel, ließ ihn auf den Grund sinken und begann den Aufstieg, hoffte, das Boot wäre da, wenn sie hochkam.

      Die Sonne traf ihr Gesicht. Sie schnappte laut keuchend nach Luft, als sie die Oberfläche erreichte, und riss den Atemregler aus dem Mund. Rang nach Atem. Es gab immer noch Nachwirkungen der Explosion. Aber das Boot war nicht da. Sie sah bloß die wogende Meeresoberfläche, so weit das Auge reichte. Vielleicht war es nicht hier. Die Erschütterung hatte alles vom Kurs abgebracht. Die Panik durchkroch sie, während sie automatisch Wasser trat und heftig zu zittern begann. Das verletzte Bein krampfte. Sie weinte und wusste, dass sie es hier nicht länger ohne Hilfe aushielt. Die Taucherkrankheit würde zu der Erschöpfung hinzukommen. Sie würde ganz sicher ertrinken. Vielleicht schnappten die Haie sie vorher. Das Blut würde sie anziehen, auch wenn es wohl ein bisschen dauerte, bis neue sich heranwagen würden. Aber sie würde sterben. Sie würde ganz sicher sterben. Jetzt vermisste sie die Stimme ihres Vaters. Bereute es zutiefst, all seine Anrufe nicht beantwortet zu haben. Natürlich war er unruhig. Und jetzt würde sie diese Stimme nie wieder hören oder ihn sehen. Ihre Absicht, sich zu Boden sinken zu lassen und es hinter sich zu bringen, wurde von einem Schiff verhindert, das sie weiter draußen auf dem Meer wie eine Fata Morgana entdeckte; ein schimmernder Punkt, von der Sonne erhellt auf der unendlichen blauen Tiefe. Mit letzter Kraft hob sie die Arme und winkte.

      „Hilfe! Help me!“, rief sie, so laut es ihre Lunge zuließ. Es war ein großes, weißes Schiff und einen Augenblick lang glaubte sie, es sei die Küstenwache. An der Seite stand etwas auf Italienisch in roten Buchstaben. Die würden sicher die Explosion untersuchen.

      „Help! Help!“, rief sie erneut zwei Männern zu, die an der Reling standen. Hatten sie sie nicht gehört? Sie blinzelte gegen die blendenden Sonnenstrahlen. Doch, und sie hatten sie auch gesehen. Sie konnte ein gleichzeitig tränenersticktes, panisches und erleichtertes Lachen nicht zurückhalten. Das Salzwasser spülte in ihren Mund. Merkwürdigerweise schmeckte es gut. Der Geschmack bedeutete, sie war am Leben. Nun würde sie nicht sterben. Aber dann entdeckte sie, was sie in den Händen hielten. Das war kein Rettungsring. Litt sie doch unter Sauerstoffmangel und halluzinierte? Die Maschinenpistolensalve durchlöcherte das Wasser um sie herum. Kaltes Wasser spritzte ihr ins Gesicht und das Geräusch war so ohrenbetäubend, dass es weh tat. Sie schrie lauter. Der Schmerz war erst wie das Brennen von Wunden in Salzwasser, wie die am Arm und dem Oberschenkel. Das Wasser um sie herum färbte sich langsam rot. Wie verwundert schaute sie es an und die tanzenden Projektile auf der Wasseroberfläche, bis etwas Brennendes ihren Kopf traf und das kalte Wasser ihren Körper wieder umschloss. Sie sank. Hinab, wo die Geräusche nur die des Meeres und ihres eigenen, ruhigen Atems waren, der stoppte. Hinab ins Paradies.

      8

      Dänemark, Aarhus

      Anne schaltete den Computer in der Redaktion an und setzte sich dran, um den Namen zu suchen, den sie auf dem Briefkasten vor dem Haus am Weg gesehen hatte. Sie hatte ihn als SMS an sich selbst geschickt. Das Schild war handgeschrieben mit Kugelschreiber auf einem Stück liniertem Papier und primitiv mit Tape an den Briefkasten geklebt. Aufgrund von Wind und Wetter war der Name schwer zu entziffern gewesen. Die Post musste sich beschwert haben. Aber es sah auch nicht aus, als ob dieser junge Mann sonderlich viel Post bekommen hätte. Es ragte nichts aus dem Briefkasten, und wenn er seit zwei Wochen tot war … Außerdem war ein großes, selbst gemachtes Werbung, nein danke!-Schild darangeklebt, also kamen vielleicht nicht viele Boten vorbei.

      Sein Name war Alvin Weidemann Stürmer. Der klang deutsch und tauchte auf mehreren Webseiten auf, die sich mit Reptilien befassten. Aber er hatte auch bei Diskussionen über Musik mitgemacht. Rock. Heavy Rock. Sie zog die Beine auf dem Stuhl an. Obwohl sie, sobald sie zurückgekommen war, die Sandalen ausgezogen und die Füße auf der Toilette im Waschbecken mit Seife gewaschen hatte, kribbelte es immer noch unbehaglich in ihnen und sie musste die ganze Zeit nachsehen, ob sie etwas mit nach Hause geschleppt hatte. Aber zum Glück war es nur ein Gefühl. Das Spinnennetz in der Ecke über Nicolajs Tisch hatte sie bisher noch nie bemerkt, oder vielleicht doch, ihm nur keine Beachtung geschenkt. Dänische Spinnen sind für Menschen ungefährlich. Sie sind überall. Freddy sagte, dass sich immer eine Spinne weniger als einen halben Meter von einem entfernt befände.

      Ein Profilbild tauchte auf, als sie nach Bildern suchte. Mit diesem speziellen Namen gab es keinen Zweifel, dass er es war. Die Haare des Toten waren wegen der Spinnweben kaum zu erkennen gewesen, aber jetzt konnte sie sehen, dass sie schulterlang und kohlschwarz gewesen waren. Auf dem Foto trug er einen schwarzen Hut. Sie ging zu dem Forum über Kriechtiere zurück, in dem er sich beteiligt hatte. Er schien eine ganze Menge über sie zu wissen, falls es nicht bloß Fakten waren, die er aus dem Internet ausgegraben hatte, wie es die anderen genauso gut selbst hätten tun können. Viele hatten auf seinen Eintrag, dass giftige Reptilien nicht gefährlich seien, wenn man es bloß verstand, mit ihnen zusammen zu leben, geantwortet. Man sollte selbst etwas von einem Reptil an sich haben, hatte er geschrieben. Aber warum gab es einen solchen Blog, wenn es in Dänemark illegal war, giftige Reptilien in Gefangenschaft zu halten? Aus dem gleichen Grund, aus dem man hier auch problemlos Drogen und anderes illegal kaufen konnte, ohne dass eingegriffen wurde.

      Wenn sie nicht gefährlich sind, warum sollte man sie dann in Käfige einsperren?, hatte einer in dem Blog gefragt und Alvin hatte geantwortet, dass man das auch nicht müsse, das sei jedem selbst überlassen.

      Traust du dich, die frei herumlaufen zu lassen?, lautete die nächste Frage.

      Ja, das mache ich echt oft!

      Idiot, dachte Anne. War es bloß eine Frage gewesen, sich zu beweisen? Grenzen zu überschreiten und anderen zu imponieren oder bloß zu provozieren und Aufmerksamkeit zu erregen, wie es populär geworden war. Aber die giftigen Tiere konnten sich über ein großes Gebiet verbreitet haben und zur Gefahr für andere Menschen werden, und vielleicht war es unmöglich, sie alle zu töten. Sie konnten in die Häuser eingedrungen sein. Sie hoffte bloß, dass Freddy damit Recht hatte, dass sie in dem hiesigen Klima nicht lange überlebten. Aber konnten sich diese Arten nicht auch anpassen, wie so viele andere im Laufe der Evolution? Was nun, wenn einige der giftigen Schlangen doch in die friedliche, dänische Natur entwischt waren?

      Überrascht schaute sie auf, als die Tür geöffnet wurde und Nicolaj hereinkam.

      „Was willst du? Hast du nicht frei?“

      „Warum sitzt du hier so?“

      „Wie?“

      „So auf dem Stuhl zusammengekauert. Ist der Fußboden dreckig?“

      Anne entknotete sich und setzte sich normal hin.

      „Was ist mit deinem Urlaub?“

      „Ich hatte genug Urlaub und muss mit dir über etwas Wichtiges sprechen.“

      „Hmm. Was kann so wichtig sein, dass man seinen Urlaub abbricht?“

      Nicolaj zog ein wenig außer Atem seine Jacke aus und setzte sich. „Es ist etwas wirklich Spannendes passiert, Anne.“

      „Ja, in der Tat. Ich habe dir auch etwas zu erzählen …“

      „Ein Angebot, das wir nicht ablehnen können“, unterbrach er.

      „Wir?“

      „Ja, wir. Die Freelance-Journalisten ist ja unser gemeinsames Projekt, daher kann ich nicht einfach den Vertrag unterschreiben, ohne dich zuerst zu fragen.“

      „Nein, jetzt bin ich wirklich neugierig.“ Erwartungsvoll lehnte sie sich auf dem Stuhl zurück, verschränkte die Arme und schaute ihn


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