Luis Suárez. Luca Caioli
Luis, Martín [Cauteruccio, heute bei San Lorenzo in Buenos Aires unter Vertrag] und Bruno waren in der Lage, zusammen 50 oder mehr Tore pro Saison zu schießen. Die waren so gut, dass sie alle Wettbewerbe in ihrer Altersklasse gewonnen haben. Luis und ich waren wie Brüder, wir haben ständig herumgeflachst und eine super Zeit gehabt. Er war ein dufter Typ, immer ein Lächeln auf den Lippen, immer für einen Lacher gut. Wir haben auch Pläne zusammen geschmiedet.“
Nur eins habe Luis die Laune verhagelt: „Was er nicht abkonnte, waren Niederlagen. Außerdem wollte er in jedem Spiel treffen, in jedem. Wenn er kein Tor geschossen hatte, war er ungenießbar.“ So wie bei einer Partie, in der Nacional gegen Tacuarembó zwar 3:0 gewann, Luis aber wie schon die ganze Woche torlos geblieben war. Fuchsteufelswild stürmte er unter die Dusche und heulte vor Wut. Das war 2003, als Suárez für zwei Jahrgänge gleichzeitig spielte: die U17 und U19.
Ricardo Perdomo, auch genannt „El Murmullo“, „der Flüsterer“, weil seine Stimme wie ein Flüstern klingt, erzählte: „Samstag spielte er für die eine Mannschaft, Sonntag für die andere. Manchmal hat er in einer Woche in drei verschiedenen Jahrgängen gespielt. Ihm machte es auch nichts aus, wenn er am Wochenende nicht frei hatte. Er wirkte nie traurig, weil er andere Dinge im Leben verpasste. Fußball war und ist sein Leben. Den liebt er. Das kannst du schon daran sehen, wie er seine Tore bejubelt. Egal, ob es das dritte oder das vierte ist, er feiert mit der gleichen Ausgelassenheit wie bei einem alles entscheidenden Treffer.“
Perdomo war von 2002 bis 2005 Luis’ Trainer. Anschließend wurde der damals 18-jährige auf Perdomos Rat hin zu den Profis von Nacional befördert. Ricardo Perdomo, Jahrgang 1960, war selbst Profi bei Nacional, Rayo Vallecano in Madrid, River Plate in Buenos Aires und Union Española in Santiago de Chile. Einen Cappuccino schlürfend, ließ er die Jugendzeit von „El Pistolero“ Revue passieren.
„Was ich an Luis so mochte, war seine Lernfähigkeit. In nur zwei Jahren hat er sich das Wissen, die Versiertheit und die technische Beschlagenheit angeeignet, die andere Jungs nicht hatten oder für die sie viel länger brauchten. Er war ständig im Lernmodus und hat jede Trainingseinheit als Chance gesehen, besser zu werden. Er hat sich Ziele gesetzt und dann wie verrückt gearbeitet, um sie zu erreichen. Er machte es sich zur Aufgabe, das Kopfballspiel zu verbessern, den Ball sauberer zu passen, den linken Fuß zu stärken und bessere Freistöße zu schießen.“
Eingreifen musste Perdomo nur bei einer Sache: „Bei seiner Ungeduld, weil er möglichst schnell vor das Tor kommen wollte. Manchmal war sein Torhunger einfach zu groß. Er hatte den Ball noch gar nicht richtig abgespielt, da rannte er schon schnurstracks in Richtung gegnerischer Strafraum. Ich fragte ihn, woher denn ein gutes Zuspiel kommen solle, ein Pass in den freien Raum oder eine Flanke, wenn die Ablage nicht stimmte. Und außerdem, wenn er immer wieder denselben Spielzug versuchte, dann würde ein guter Verteidiger nach zwei oder drei Versuchen wissen, was Sache ist. Also haben wir das tausendmal im Training geübt. Das Wichtigste ist die sauber gespielte Ablage; erst der Pass, dann die Aktion.“
Der ehemalige Trainer fuhr fort: „Heute sehen wir das Ergebnis der vielen harten Arbeit. Es ist faszinierend, zu beobachten, wie leicht Luis zum Abschluss kommt: zwei merkwürdige Pirouetten, und zack, ist er in Schussposition. Auch charakterlich ist er über jeden Zweifel erhaben. Er gibt nie einen Ball verloren. Zu den Kindern, die ich trainierte, habe ich immer gesagt: ‚Wenn ihr einem oder zwei Bällen hinterhergeht, habt ihr eine oder zwei Chancen. Aber wenn ihr zehn Bällen hinterhergeht, habt ihr automatisch mehr Torchancen.‘ Luis musste man das aber sowieso nicht zweimal sagen. Der hat das ja immer so gemacht. Neben dem Platz war er ein normaler, herzlicher Typ, aber auf dem Platz wurde er ein anderer. Er hat den Fußball gelebt: intensiv, mit Leidenschaft und maximaler Anspannung. Und genau diese Einstellung, mit der er in das Spiel geht, macht ihn zum Spitzenspieler. Auch wenn er manchmal über das Ziel hinausschießt.“
Einen Vorfall dieser Art gab es beispielsweise 2002, als er eine wichtige Partie für Nacional bestritt und eine Gelbe Karte für ein Foul an einem Verteidiger bekam. Daraufhin fing er an, mit dem Schiedsrichter zu diskutieren, und gab diesem schließlich einen Kopfstoß – eine mehr als unrühmliche Tat, mit der er eine monatelange Sperre riskierte. Luis sagte hinterher, er habe nicht vorsätzlich gehandelt und dem Offiziellen nicht wehtun wollen. Es sei eine instinktive Handlung gewesen; er habe in dem Moment das Gehirn ausgeschaltet.
Perdomo, dessen Cappuccino mittlerweile kalt war, meinte dazu: „Durch sein Temperament hat Luis viele Fehler gemacht. Aber er hat eingesehen, dass er falsch gehandelt hat. Und unter uns gesagt, wer hat noch keine Fehler in seinem Leben gemacht? Manche sind allerdings schlimmer als andere. Luis spielt immer mit maximaler Drehzahl. Sein Siegeswille ist so stark, dass er ab und an nicht mehr weiß, was er tut. Seine Reaktionen mögen auf Außenstehende merkwürdig, bizarr und sinnlos wirken. Aber ich kenne ihn ja und weiß, dass es einfach nur unwillkürliche Ausbrüche sind. Er hat keine bösen Absichten dabei.“
Der alte Mann nippte noch einmal an seiner Tasse und trank dann einen Schluck Wasser: „Bei allem gebotenen Respekt für die vielen Superspieler aus Uruguay, aber Luis spielt wie von einem anderen Stern. Wenn man den Fußball ganz rational betrachtet, weiß man, dass ein Spieler in einer bestimmten Situation immer maximal zwei oder drei sinnvolle Optionen hat – und Luis wählt immer die beste. Er bewegt sich an der Grenze zur Perfektion.“
KAPITEL 5
Eine wundervolle Überraschung
Gespräch mit Rubén Sosa, ehemaliger uruguayischer Nationalspieler
Auf einem einige Jahre alten Foto sieht man die beiden nebeneinander. Luis trägt ein weißes Nacional-Trikot, hält eine Trophäe in der Hand und grinst wie ein Honigkuchenpferd. Soeben hat er den Preis für den besten Torschützen in einer der Nachwuchsmeisterschaften überreicht bekommen. Rubén Sosa, in Polohemd und Jeans, hat ebenfalls die Hand an dem silbernen Ball. Der Himmel über Montevideo strahlt hellblau, und Luis ist sichtbar glücklich, den Kopf an die Schulter eines seiner großen Idole lehnen und mit ihm für ein Foto posieren zu dürfen.
Ich traf Sosa an einem ganz gewöhnlichen Nachmittag in einer Bar in Carrasco, einem Stadtteil von Montevideo. Seine Haarpracht ist mittlerweile etwas spärlicher geworden und hier und da etwas angegraut, und auch der Bauchumfang hat ein wenig zugenommen. Es war nicht der beste Tag, um sich über Luis Suárez zu unterhalten, weil Sosa gerade von einer Ecke Montevideos in die andere umzog. Trotzdem kam er vor dem vereinbarten Zeitpunkt zu unserem Treffen. Sosa, der als Profi unter anderem für Danubio, Nacional, Real Saragossa, Lazio Rom, Inter Mailand, Borussia Dortmund und Shanghai Shenhua aktiv war, sprach nur zu gerne über Luis’ Zeit in der Nacional-Jugend.
„Wir wussten ja alle, dass er den Durchbruch schaffen konnte. Nicht, weil er so ein begnadeter Techniker war – das ist er nicht mal heute. Nein, sondern weil er mental dazu in der Lage war, weil er einen unglaublichen Siegeswillen hatte. Er war in seinem Jahrgang definitiv kein Monster am Ball. Er ist hingefallen und beim Schießen ganz oft weggerutscht, oder es ist ein Grasbüschel mitgeflogen. Er war auch ein bisschen ungeschickt: Erst hat er das leere Tor nicht getroffen und dann aus unmöglichem Winkel eingelocht. Man konnte bei ihm nie sagen, ob der Ball reingeht.“
Wann haben Sie ihn kennengelernt?
„Nachdem ich aus Spanien zurückgekommen bin, von CD Logroñés. Ich habe bei Nacional gespielt, als er in der Jugend war. Als er zu den Profis geholt wurde, habe ich ihn ein bisschen trainiert – ich war als Co-Trainer für die Angreifer zuständig. Ich weiß noch, dass ich ihm gesagt habe, dass er zu sehr aufs Toreschießen fixiert sei, dass er permanent in Richtung Tor drängen würde, um jeden Preis gewinnen wolle und genau deshalb nicht treffe. In seinen ersten Spielen hat er ungefähr ein Dutzend Chancen versiebt.
Ich habe ihm den Tipp gegeben, einfach gelassen zu bleiben. Wenn er erst mal getroffen habe, käme der Rest von ganz alleine. Einfach die Ruhe bewahren, habe ich ihm gesagt. Ich war mir da sicher, weil er eine starke Physis besaß, durchsetzungsfähig war und vor niemandem Angst hatte. Der ist hinter allen Bällen hergegangen! Das Ding ist in Richtung Eckfahne geflogen, und er ist hinterhergerannt. Hat sich hinterhergeworfen, um den Ball noch von der Auslinie zu kratzen! Fast wie beim Rugby!
Seither