Die Feuer der Wildnis. Franz Braumann
Mutter.
Das brachte die Frau jäh wieder in die Wirklichkeit zurück. Sie wischte verlegen lächelnd die Tränen fort.
„Ich hab’ nur geträumt, Kind, von meiner eigenen Jugend. Das Rütteln, die Müdigkeit. Wo fahren wir denn schon?“
Rechts und links der Straße wuchsen dichte, schattende Tannen. Das kilometerweite Weideland an den Ufern des Arrow-Sees war hinter dem Horizont hinabgetaucht. Wo die Bäume einmal einen Blick zum Himmel freiließen, standen die Selkirk-Berge näher herangerückt, und weiße Gutwetterwolken segelten von Norden herab.
Die Autoreise nach dem fernen Nordwesten begann mit einer meilenweiten Fahrt nach Osten. Über die Gold Range jenseits des Arrow-Sees im Westen führte keine Fahrstraße hinweg, erst weit im Norden bei Needles lief der im Ausbau befindliche Highway Nr. 6 bis nach Vernon an die große Femstraße 97, die an den Fraser River und dann hoch nach Norden hinauf führte.
Mac Lean war bisher unentwegt vor Peter Sattler hergefahren. Nun rückte er näher an den Rand der schmalen Straße und winkte Peter, er sollte vorfahren. Als sie auf gleicher Höhe waren, hupte er fröhlich und trat auf die Bremse.
Auch Peter Sattler hielt fragend an. Mac Lean sprang aus dem Wagen, reckte und streckte sich. Dann ging er forschend um den Austin der Sattlers herum. „Ihr fahrt so sorglos hinter mir drein, als ginge es nur zu einem Weekend-Ausflug. Mein Gerümpel habt ihr ja immer im Auge, aber was ist mit eurem Riesengepäck?“ Er sprang auf das Schutzblech des Hinterrades und zog an den Stricken und Lederlassos. „Nachspannen, nachspannen!“
Es zeigte sich bald, daß Mac Leans Sorge nicht unbegründet gewesen war. Er zuckelte schon wieder eine Weile sorglos vor den Sattlers her, da begann plötzlich die Plane über seiner Ladefläche zu flattern, schlug über den Wagen hinaus und verfing sich im nächsten Augenblick am Aststummel einer Tanne am Straßenrand. Ratsch! riß sie mitten durch.
Peter Sattler hupte wie besessen, doch es half nichts. Erst als er wild auf das Gas trat und zum Überholen ansetzte, merkte Mac Lean, daß etwas faul war.
„Hallo, was soll das Wettrennen unserer zwei alten Mähren?“ fragte er gummikauend.
„Deine Ladung ist fort!“ schrie Peter hinüber.
„Meine Ladung?“ Über den jähen Schrecken in dem ledernen Gesicht des Cowboys mußte selbst Frau Sattler lächeln. Mac Lean drückte die Handbremse hinein, sprang aus dem Wagen und rannte zurück. Er mußte einige weite Kurven hinablaufen, bis er sein verlorenes Stück Plane wiederfand. Er wickelte sie zusammen und warf sie wie eine eroberte Fahne über die Schulter.
„Alles hab’ ich mitgenommen, starke Nähnadeln und Bindfaden zum Flicken, aber wo die Sachen stecken, weiß ich nicht. Werde wohl den halben Laden ausräumen müssen.“ Zum erstenmal wurde auch Mac Lean kleinlaut.
Frau Bärbi aber stand schon mit Nadel und Zwirn bereit. „Die Sache ist halb so schlimm“, lächelte sie. „Ruht euch einmal vom Fahren aus. Wenigstens kann auch ich mich auf der Reise etwas nützlich machen.“
Die Wagen erreichten Vernon erst tief in der Nacht. Sie schlichen scheu die Hauptstraße entlang, und alle waren froh, als sie endlich in einer Nebengasse ein Restaurant fanden, das keinen protzig herausfordernden Eingang hatte. Ein hohes Holztor öffnete sich knarrend, und die müden Wagen rollten auf einen kaum beleuchteten Hofplatz.
Aber in der dunkel getäfelten Gaststube saß es sich gut.
„Kinder, was haben wir von protzigen Fassaden?“ sagte Mac Lean gut gelaunt. „Die müßten wir doch beim Essen und Schlafen mitbezahlen! Wir sparen unser Geld lieber für die ,Villa Grizzlybär’!“ Er schielte dabei zu Rossy hinüber, ob sie nicht ein wenig erschrak.
Das Mädchen schnitt indes verzweifelt an dem zähen Steak herum, das der tonnendicke Wirt aufgetragen hatte. Mac Lean hatte Mitleid mit ihr. Er zog sein scharf geschliffenes Bowiemesser aus der Lederscheide im Gürtel, und bald war das Lendenstück des wohl zwanzigjährigen Rindes klein geschnitzelt.
„Das ist die Zugabe für den niedrigen Preis!“ lachte Mac Lean und hatte mit seinen Späßen die schon etwas gesunkene Stimmung wieder gehoben.
„Unsere Schlafzelte sollten wir schonen, bis das letzte Hotel hinter uns liegt, das meint wohl auch ihr!“ hatte Mac Lean schon am Nachmittag vorsorglich verkündet. Jetzt Zelte aufstellen mit den mürb gerüttelten Knochen? Alle sanken mit einem erleichterten Seufzer in die federnden Betten des Restaurants „Zum Prospektor“.
Der Highway 97 machte am folgenden Tag selbst Mac Lean kleinlaut und still. Sie drückten sich mit ihren alten, hochgetürmten Klapperkisten ganz an den Rand der Asphaltstraße. Was neben ihnen vorbeihuschte, nein, zornig schnob, das hatten die einfachen Cowboys schon fünf Jahre nicht mehr gesehen. Die schneeweißen Continentals, die blauen Vauxhalls und schwarzen Pacards schnitten mit ihren breitgezähnten Kühlern höhnische Gesichter über die beiden alten Buschklepper, die sich da auf den Highway verirrt hatten. „Fahrendes Volk“, schienen sie zu spotten, „seht zu, daß ihr wieder hinabrollt auf die Buschstraßen und Tramppfade, wohin ihr gehört!“
Unermüdlich aber polterten die Kolben, rollten die Räder: einhundert, zweihundert Meilen weit. Sie ratterten durch das freundliche Kamloops, das sonnig auf einer Hochfläche lag. Forellenbäche sprudelten von den Bergen im Norden herab, und viele tausend scheckige Rinder weideten bis zu den Knien im Gras.
„Die Landschaft wird immer schöner, Mutter! Wann beginnt denn das wilde, leere Land, von dem Mac immer sprach?“ wagte Rossy endlich zu fragen.
„Es ist noch eine schöne Weile dorthin“, entgegnete die Mutter. Sie ertappte sich bei dem heimlichen Wunsch, es möchte immer so bleiben, bis sie durch alle nordwestlichen Weideländer hindurch an die Küste des Pazifischen Ozeans kämen. Sie verbarg solche Gedanken rasch wieder, denn sie wußte längst, daß das Leben aus Wirklichkeiten und nicht aus Träumen bestand.
Von Cache Creek aus hielt der Highway 97 ununterbrochen nördliche Richtung ein. „Clinton“ las Peter Sattler an der Straßentafel, als die beiden Wagen in eine langgestreckte Viehzüchterstadt mit ihren typischen einstöckigen Holzhäusern rollten. Sie hatten die alte „Karibu-Straße“ erreicht, einen ehemaligen Buschpfad, auf dem die ersten weißen Pioniere vor siebzig Jahren den Norden von Britisch-Kolumbien geöffnet hatten. Bill Sattler saß jetzt am Steuer. Obwohl er achtsam die Straße im Auge behielt, entging ihm auch die Landschaft zu beiden Seiten des Highway nicht.
„Das Ackerland bleibt zurück, wir haben den Rand des großen Graslandes erreicht, Vater!“
Peter Sattler nickte schweigend. Nun wurde es allmählich ernst.
Die Rasthäuser an der Straße trugen jetzt eigenartige Namen: „70 Mile House“, „100 Mile House“. Als die Fahrer auf unabsehbar staubfreier Straße an dem „150-Meilen-Haus“ vorbeiratterten, ging auch dieser endlos lange Sommertag allmählich zu Ende. Im letzten Sonnenlicht rollten beide Wagen gemächlich nach Williams Lake hinein.
Die Viehzüchterstadt mit ihren farbenfrohen roten und hellblauen Holzhäusern lud geradezu zur Rast ein. Daß hier im hohen Nordwesten reichlich Land vorhanden war, spürte man an den breiten, hohen Fußsteigen und den noch viel breiteren Chausseen. Die unechten, pompösen Fassaden der alten Kneipen und Drugstores waren noch ein Überbleibsel aus dem Leben im „Wilden Westen“ vor achtzig Jahren. Zwischen den Häusern tauchten Backsteinbauten der Schlachthöfe und Fleischfabriken und dahinter endlose Viehgehege auf.
„Der Umsatz blüht“, stellte Mac Lean nüchtern fest. „Höchste Zeit, daß wir uns noch den letzten Zipfel des Weidelandes sichern!“
Im etwas abseitigen „Restaurant Anahim“ fanden die Tramper Abendbrot und Quartier für die Nacht. Es hatte sich bald gezeigt, daß alle Gasthöfe der kleinen Stadt belegt waren.
Frau Sattler ging nach dem Abendessen mit Rossy auf ihr Zimmer. Die vier Männer aber schlenderten noch die Hauptstraße entlang und betraten ein Bierlokal. Seltsam gemischtes Volk traf sich hier. Freundliche breitgesichtige Viehhändler aus Vancouver saßen neben zerlumpten Viehtreibern. Hochgewachsene, scharfblickende