Sozialdumping. Jakob Mathiassen
Hintergrund des Artikels
Dieser Artikel ist ein Ausschnitt aus dem Buch „Der Kampf um die Arbeit“, auf Dänisch „Kamppladser“, das im März 2014 vom „Informations Forlag“ herausgegeben wurde. Das Buch erzählt die Geschichte vom Kampf der dänischen Bau-Gewerkschaftsbewegung gegen das Sozialdumping seit der EU-Erweiterung im Jahr 2004, zum einen durch eine Reihe Beschreibungen der Kämpfe auf einigen konkreten Baustellen, zum anderen durch Analysen und Statistiken.
Die Baustellen sind so ausgewählt, dass sie die Entwicklung der Kämpfe und die verschiedenen Konflikttypen beschreiben, die regelmäßig auf dänischen Baustellen zu finden sind.
Die Autoren von „Der Kampf um die Arbeit“ sind keine unparteiischen Historiker, sondern nehmen aktiv teil. Jakob Mathiassen hat als Betonarbeiter und einfaches Mitglied seiner Gewerkschaft am Kampf gegen das Sozialdumping teilgenommen. Klaus Buster Jensen hat als Journalist beim Mitgliedermagazin der Gewerkschaft 3F das Sozialdumping in der Baubranche aufgedeckt und beschrieben. Es muss aber betont werden, dass die Gewerkschaftsbewegung das Buch weder bestellt noch bezahlt hat, und dass wir bestrebt darin sind, so objektiv wie möglich zu sein; ob es uns gelungen ist, müssen andere beurteilen.
Unser Ziel ist in erster Linie, durch das Buch und diesen Artikel einen Einblick in die Konsequenzen der Osterweiterung zu geben, die sich auf die Arbeiter auf dänischen Baustellen und auf die lokalen Gewerkschaften in Dänemark auswirken. Weiter hoffen wir, dass die dänischen Erfahrungen in anderen Ländern und anderen Branchen aktiv genutzt werden können. Für diesen Artikel haben wir folgende Geschichte gewählt, weil sie auf verschiedene Weise ein typisches Beispiel für die Stärken und Schwächen der dänischen Gewerkschaftsbewegung darstellt.
Der Erlös des Artikelverkaufs fließt in die Übersetzung des Buches auf Englisch, Deutsch und Polnisch, in dieser Reihenfolge. Man kann die Übersetzung auch direkt unterstützen, und somit das Projekt mitfinanzieren, indem man auf folgenden Link klickt:
Die Flutwelle
Auf dem Gipfeltreffen 2002 im „Bella Center“ in Kopenhagen waren es die Worte des dänischen Regierungschefs Anders Fogh Rasmussen: „We have an agreement“, welche die neue Wirklichkeit symbolisierten.
Staatsoberhäupter von den 15 EU-Ländern hatten sich auf den EU-Beitritt von acht osteuropäischen Ländern vom 1. Mai 2004 an geeinigt: Polen, Lettland, Litauen, Estland, Slowakei, Ungarn, Slowenien und Tschechien. Rumänien und Bulgarien sollten später folgen.
Die neuen EU-Länder hatten einen viel niedrigeren Lebensstandard als die alten EU-Länder, und der Lohn im Osten entsprach bloß neun Prozent des Lohnes im Westen.1 In den Jahren nach der Erweiterung trieb die verbreitete Armut hunderttausende Ost-Europäer in den Westen, um dort zu arbeiten. Für Bauarbeiter, Reinigungsangestellte und LKW-Fahrer überall in Westeuropa fühlte es sich so an, als wäre ihre Branche von einer Flutwelle erfasst worden. Eine Flutwelle billiger Arbeitskräfte, die für immer die Branchen verändern sollte, die dänische Baubranche ist eine dieser Branchen.
Ich bin Betonarbeiter in Dänemark. 1999 fing ich in der Baubranche an und ich erlebte die „alten Zeiten“ vor der Osterweiterung, vor der Flutwelle. Meine erste Anstellung hatte ich als Schichtarbeiter in einer Zimmermannsgruppe in Kopenhagen. Am ersten Arbeitstag fragte mich der Schichtmeister, ob ich in der Gewerkschaft sei. Beschämt musste ich ihm mitteilen, dass ich noch nicht beigetreten sei, aber die Absicht hatte, mich demnächst bei der alten Gewerkschaft 3F anzumelden. Der Schichtmeister unterbrach mich und sagte in einem bestimmten Ton, dass wenn ich in dieser Gruppe arbeiten möchte, dann sollte ich mich bei der Schreinergewerkschaft TIB anmelden, und zwar heute noch. So war die „alte“ dänische Baubranche: traditionsgebunden, mit strickten fachlichen Grenzen und hohen Löhnen.2
Die Gewerkschaften organisierten beinahe 90% der Handwerker, und so gut wie alle Unternehmen hatten das Abkommen unterzeichnet. Typisch waren es kleine fachspezialisierte Firmen, in denen der Meister selbst mit anpackte. Für die wenigen großen Unternehmer war es Ehrensache, den größten Teil der Arbeit selbst zu erledigen, und ausländische kleine Unternehmer wurden in der Regel nur für Spezialaufgaben herbeigezogen.3 All das änderte sich in den Jahren nach 2004, zum Guten und zum Schlechten.
Für mich und meine Kollegen wurde die Osterweiterung hauptsächlich zur Bedrohung bezüglich unserer Lohn- und Arbeitsbedingungen. Zehntausend osteuropäische Bauarbeiter mit niedrigem Lohn kamen ins Land um eine Arbeit zu bekommen. Im Normalfall würde ich für eine Arbeitsstunde zwischen 170 und 220 dänische Kronen verlangen, aber die Osteuropäer arbeiteten für 70 bis 120 dänische Kronen die Stunde. Wenn der enorme Einsatz der dänischen Baugewerkschaften und der vielen fachlich aktiven Bauarbeiter nicht gewesen wäre, wären auch keine Gehaltstarifverhandlungen zustande gekommen. Die Mitte-links Regierung, die nach den Wahlen 2011 gebildet wurde, hat zwar auch großen Einsatz geleistet, aber es waren die Aktionen der Bauarbeiter, die das Thema auf die politische Tagesordnung brachten. Es waren ihre Demonstrationen, die die öffentlichen Bauherren so unter Druck setzten, dass Arbeitsklauseln eingeführt wurden. Es waren ihre Streiks, die an den Baustellen die Abkommen sicherten. Es war ihr Wille, sich dem Kampf zu stellen, der die Arbeitgeber dazu zwang, Verbesserungen in den Abkommen zu akzeptieren. Im Prozess mussten die Gewerkschaften sich selbst neu erfinden. Muskeln, die seit Jahren nicht mehr benutzt worden waren, wurden wieder ins Leben gerufen und zeigten ihre ganze Kraft. Aber auch die Probleme der nationalen Gewerkschaften kamen dabei in der neuen, globalisierten Wirklichkeit zum Vorschein.
Der Kamp ums Nørrehus
Dänemark hat keinen Mindestlohn, aus diesem Grund ist es entscheidend wichtig, dass die Gewerkschaften ein Abkommen mit den Unternehmen haben. In den Jahren nach 2004 hat die Dänische Gewerkschaftsbewegung eine lange Reihe von spektakulären Blockaden durchgeführt, um ausländischen Firmen zu zwingen, Abkommen zu vereinbaren. Nørrehus ist ein gutes Beispiel für einen solchen Kampf.
Das Frühjahr 2010 war kalt und regnerisch gewesen, aber Dienstag, der 18. Mai, war ein herrlich warmer Tag. Sogar weit oben im Norden hatten die Sonnenstrahlen gewärmt, so auch in Brønderslev in Nordjütland, und viele von den 12.000 Einwohnern der Stadt genossen das Wetter, verschoben ihre Verpflichtungen und tranken an einem schönen Ort in der Sonne ein Feierabendbier. Unter ihnen waren auch Leo Thomsen und Mogens Pedersen, aber für sie konnte von Feierabend nicht die Rede sein. Mogens war arbeitsloser Maurer, Leo war arbeitsloser Betonarbeiter. Die zwei alten Bauarbeiter waren beide in einem Alter, in dem die Kinder ausgeflogen waren. Beide waren Mitglied der Gewerkschaft 3F, und beide waren für die Gewerkschaft aktiv.
Sie schlenderten entspannt durch die vom Frühling erfüllte Stadt und auf dem Weg zu einer ihrer Stammkneipen, der „Bürgerstube“ am Bahnhofplatz, schauten sie sich die Gebäude und die Baustellen an.
„Verdammt nochmal, auf dem Bau gibt es eine richtige Krise, wie?“
„Ja, leider gibt es zurzeit nicht viel zu tun.“
„Bei der Arbeitslosenkasse habe ich gehört, dass es in der 3F jetzt mehr als 30.000 Arbeitslose gibt.“
Als sie um die Ecke zum Bahnhofplatz gingen, sahen sie ein großes Baugerüst, das um ein vierstöckiges Haus neben der „Bürgerstube“ errichtet worden war.
„Aha, hier passiert aber doch etwas!“
„Von welchem Unternehmen ist es wohl? Ich sehe keine Schilder.“
„Nee ... Doch, der gelbe Kastenwagen dort hat ja polnische Nummernschilder.“
„Zum Teufel nochmal! Du hast recht.“
Leo und Mogens drehten eine kurze Runde auf dem Platz, aber sie konnten an diesem Tag mit ihrer Entdeckung nichts mehr machen, also gingen sie in die „Bürgerstube“, um über Gott und die Welt zu diskutieren.4
Die Baustelle, die Leo und Mogens