Jan zeigt Mut. Carlo Andersen

Jan zeigt Mut - Carlo Andersen


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«Zunächst müssen wir dafür sorgen, daß der Maître d’Hôtel seine Brieftasche wiederbekommt, und damit dem armen Yan Loo nichts passiert, müssen wir sehr vorsichtig zu Werk gehen. Entweder wir schicken die Brieftasche anonym an die Privatadresse des Besitzers – das wird wohl das Einfachste sein –, oder wir versuchen den Eindruck zu erwecken, daß er seine Brieftasche irgendwo im Lokal verloren hat.»

      «Wie zum Kuckuck willst du denn das machen?» fragte Erling mißtrauisch.

      Jan zögerte etwas. «Na ja, ich müßte dann in das Lokal zurückkehren und die Brieftasche so geschickt ‹verlieren›, daß sie an einem passenden Ort wiedergefunden werden kann. Das könnte ich freilich nur bewerkstelligen, wenn das Lokal geschlossen ist, denn die Kellner würden mich sicher wiedererkennen.»

      «Wann willst du es denn machen?»

      «Heute nacht.»

      Erling verdrehte die Augen, bis man nur noch das Weiße sah, und seufzte laut. «Ach, du himmelblaues Wunder! Zuerst werden wir in einen Taschendiebstahl verwickelt, und dann willst du auch noch einen Einbruch begehen, um den Diebstahl zu vertuschen! Du hast ja schon viele verrückte Ideen gehabt im Lauf der Zeit, aber dies ist die verrückteste. Was meint ihr?»

      «Total verrückt!» sagte Carl.

      «Wahnsinnig!» meinten Jack und Jesper. «Es ist viel vernünftiger und sicherer, wenn wir dem Mann die Brieftasche anonym zuschicken... Seine Adresse finden wir bestimmt unter den Papieren in der Brieftasche. Dann haben wir allen Ärger vom Hals.»

      «Nicht allen», sagte Jan ernst. «Wir haben noch den Ärger, daß Yan Loo verschwunden ist.»

      «Der kommt zur Schlafenszeit sicher wieder», meinte Erling. «Wenn er seinen ersten Schreck überwunden hat, überlegt er es sich bestimmt.»

      «Daran glaubst du doch selbst nicht.»

      «Hm! Es ist immerhin zu hoffen... aber... wenn er es nicht tut, müssen wir wohl Ingenieur Smith davon berichten.»

      «Ja, das werden wir wohl müssen...»

      Jan hob die Brieftasche von der Erde auf und blieb einen Augenblick unentschlossen stehen. Es war ihm zuwider, in den Papieren eines fremden Menschen zu schnüffeln, aber er würde wohl nicht darum herum kommen, wenn er die Privatadresse des Mannes finden wollte. Sie konnte sich zwischen den Papieren befinden.

      «Mach schon!» forderte Erling ihn etwas ungeduldig auf. «Du hältst die Brieftasche in der Hand, als sei sie giftig.»

      «Ich tue es ungern.»

      «Wir sind ganz deiner Meinung, aber darauf können wir jetzt keine Rücksicht nehmen.»

      «In Ordnung!»

      Jan öffnete die Brieftasche und begann, den Inhalt zu untersuchen. Die Kameraden sahen ihm dabei gespannt zu. In einem Fach befand sich ein dickes Bündel Banknoten, aber das interessierte Jan natürlich nicht. In einem anderen Fach befanden sich verschiedene Papiere, bezahlte Rechnungen, Mitgliedskarten und ähnliches, und Jan blätterte alles durch. Er entfaltete einen Brief und überflog den Inhalt, der in englischer Sprache geschrieben war. Auch der Brief gab ihm keinen Hinweis auf die Adresse des Mannes. Jan wollte den Brief schon wieder zusammenfalten, da zuckte er plötzlich zusammen und las mit großen Augen weiter.

      Die anderen merkten sofort, daß etwas los war, und Carl fragte neugierig: «Was ist, Jan? Du siehst aus, als hätte dich der Schlag getroffen...»

      Jan reichte den Brief an Erling weiter. «Ich habe den Inhalt bestimmt verstanden», sagte er, «aber ich möchte ganz sicher gehen. Lies bitte den Brief und übersetzte ihn laut.»

      Erling las den Brief ein wenig überrascht durch und übersetzte dann: «Die Arbeit schreitet gut voran, aber der Keller unter der Wäscherei ist zu feucht; wir müssen daher bald an einen anderen, trockeneren Ort umziehen. Ich traue dem Chinesen auch nicht ganz, obwohl wir ihm ‹Schutz› versprochen haben. Wir können jetzt, wo die Produktion anläuft, keine unangenehmen Überraschungen brauchen. Anbei schikke ich dir einige erste Proben, die du dir genau ansehen solltest. Ich selbst bin mit dem Ergebnis ganz zufrieden, aber es könnte noch besser werden, wenn wir unter günstigeren Verhältnissen arbeiten können. Besonders das Wasserzeichen macht mir Sorgen, wenn ein Fachmann es unter die Lupe nehmen sollte. Was meinst du dazu? Laß uns darüber sprechen, wenn wir uns am Donnerstag abend sehen.»

      Der Brief war ohne Unterschrift, und Erling reichte ihn mit entgeistertem Kopfschütteln zurück. «Entschuldige, lieber Freund, aber ich kann nichts Merkwürdiges daran finden.»

      «Wirklich nicht?»

      «Nein...»

      «Hm. Ihr anderen auch nicht? Fällt euch gar nichts an dem Schreiben auf?»

      Die anderen schüttelten ebenso verständnislos den Kopf.

      «Der Mann schreibt etwas über eine Produktion», sagte Erling, «von der er sagt, daß sie bald anlaufen wird, aber der Arbeitsplatz ist so feucht, daß die Ware Wasserflecken bekommen hat. Ja, und dann war da noch etwas von einem Chinesen, der ‹Schutz› bekommen soll... aber... nein, ich verstehe nicht, warum der Brief uns interessieren sollte.»

      «Uns nicht.»

      «Nein? Wen denn?» fragte Erling und starrte ihn erstaunt an.

      «Die Polizei!»

      «Die Polizei?»

      Jan nickte. «Richtig! Wenn man den Brief sorgfältig durchliest und sein Gehirn ein bißchen anstrengt, dann bekommt der Brief eine ganz bestimmte Bedeutung.»

      «Erklär uns das!»

      Jan überlegte wieder, bevor er eine Antwort gab. «Gut. Aber ihr müßt erst einmal gründlich über das nachdenken, was ich euch sagen werde, bevor ihr mir erklärt, daß ich eine zu lebhafte Phantasie habe. Der Schreiber des Briefes berichtet von einem Keller unter einer Wäscherei, wo er eine Produktion angefangen hat. Die Wäscherei wird zweifellos von einem Chinesen betrieben, dem ‹Schutz› versprochen wurde. Doch der Keller ist zu feucht, um gute Arbeitsverhältnisse und entsprechend gute Resultate zu gewährleisten. Außerdem kann man sich auf den Chinesen nicht verlassen. Nun aber kommen wir zu dem wichtigsten Punkt: Der Brief Schreiber befürchtet, daß Experten das Wasserzeichen nicht akzeptieren werden! Sagt euch das etwas?»

      «Banknoten!» rief Jack spontan aus.

      «Genau das, Jack!» nickte Jan. «Ich würde jede Wette eingehen – wenn ich überhaupt wetten würde –, daß wir es hier mit einer Bande von Falschmünzern zu tun haben.»

      Die Freunde brachen in Überraschungsrufe aus, und Erling sagte eifrig: «Laß mich den Brief noch einmal lesen.»

      Als er ihn zum zweitenmal gelesen hatte, nickte er anerkennend. «Du hast zweifellos recht, Sherlock Holmes, und wir bewundern deine messerscharfen Schlußfolgerungen. Ich bin sicher, daß es sich um Falschmünzer handelt.»

      Jan nickte bloß und begann, das letzte Fach der Brieftasche zu durchsuchen. Es enthielt sechs, nein, sieben nigelnagelneue Geldscheine. Er hielt einen der Scheine gegen das Licht und verglich ihn dann mit einem der anderen Geldscheine, die er in der Brieftasche im ersten Fach gefunden hatte. Dann sagte er mit großer Bestimmtheit: «Es besteht wirklich nicht der geringste Zweifel. Ich bin zwar kein Experte, aber man kann erkennen, daß die Wasserzeichen nicht ganz übereinstimmen. Diese neuen Scheine müssen die falschen sein. Es sind wohl die Proben, die der Briefschreiber erwähnt.»

      Jan steckte einen der neuen Scheine ein. «Hiermit habe ich also auch einen Diebstahl begangen, aber die Polizei wird gewiß ein Nachsehen mit mir haben, denn der Schein ist ein wichtiges Beweisstück.»

      «Und was nun?» fragte Jack Morton.

      «Wir müssen die Polizei informieren», meinte Jesper. «Sonst kommen wir noch alle ins Gefängnis.»

      Jan zog die Schultern hoch und seufzte. «Die Angelegenheit wird immer komplizierter. Das einzig Richtige wäre natürlich, die Polizei zu benachrichtigen, aber dann könnten wir nicht vermeiden, daß Yan Loo in den Fall


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