Seewölfe - Piraten der Weltmeere 690. Jan J. Moreno
darüber nicht minder verärgert, Capitán.“
„Wie viele Soldaten befinden sich auf der Galeere?“
„Ich weiß nicht“, gestand Shastri. „Für gewöhnlich um die dreißig Mann, aber ebensogut kann es jetzt die dreifache Anzahl sein.“
„Die Rudersklaven nicht mitgezählt?“
Der Inder lachte spöttisch. „Mein Vetter wird sich hüten, auch nur einen der Sklaven von den Ketten zu befreien – er wäre seines Lebens nicht mehr sicher. Die Kerle, die auf den Ruderbänken sitzen, sind Mörder, Diebe und anderes Gesindel, die würden eher auf unserer Seite kämpfen als für den Sultan.“
„Aber darauf verlassen können wir uns nicht.“
Shastri winkte lässig ab. „Wir müssen den Sultan und seine Soldaten überraschen. Er glaubt, uns in der Falle zu haben und denkt vermutlich gar nicht daran, daß wir den Spieß umdrehen könnten.“
Mittlerweile hatte sich der Himmel über dem Dschungel blutrot gefärbt. Die Sonne war hinter den Baumriesen verschwunden, nur noch vereinzelt brachen Strahlenfinger durch Lücken im Laubdach und huschten irrlichternd über die Bucht und die küstennahe See.
Im Bereich des Südufers, entlang der weitläufigen, sumpfigen Bachmündung, schimmerte das Wasser wie flüssiges Blei. Zum Kanal hin färbte es sich golden, und weiter draußen nahm es eine dunklere, rote Farbe an.
Der Wind wehte beständig aus Westen.
Drawida Shastri ballte die Hände zu Fäusten.
„Du kriegst mich nicht, Vetter!“ Wie einen Fluch stieß er die Worte zwischen den Zähnen hervor. „Wenn du glaubst, ich gebe auf, täuschst du dich. In meinen Adern fließt schließlich das gleiche Blut wie in deinen.“
Im Osten näherte sich die Nacht mit Riesenschritten. Dicht über der Kimm glitzerten die ersten Sterne.
Prüfend sog Kapitän Luis de Xira die Luft ein. Ein leichter Schwefelgeruch war unverkennbar, lastete aber erst seit wenigen Augenblicken über der Küste.
„Ein Gewitter zieht auf“, erklärte er. „In ein, zwei Stunden haben wir den heftigsten Wolkenbruch.“
„Um so besser.“ Hoch erhobenen Hauptes, die Hände immer noch zu Fäusten geballt, stand Drawida Shastri am Schanzkleid und starrte zu der Galeere hinüber. „Ich will, daß der Stückmeister alle Geschütze lädt. Er soll soviel Pulver nehmen, wie er gerade noch verantworten kann. Die ‚Cabo Mondego‘ muß einen Angriff unternehmen.“
„Die Galeere blockiert den Kanal, wir haben keine Chance, an ihr vorbei das freie Meer zu erreichen. Selbst die stümperhafteste Geschützbedienung kann auf eine Distanz von dreißig bis vierzig Schritte nicht danebenschießen.“
„Ich verlange nicht, daß die Karavelle in den Kanal einläuft“, sagte Shastri. „Sie soll vielmehr im letzten Moment abdrehen und eine Breitseite auf die Galeere abfeuern. Mit viel Glück genügen die sechs Kanonen einer Batterie, um der ‚Stern von Indien‘ größere Schäden zuzufügen. Daß deine Männer zu zielen verstehen, Capitán, haben sie bewiesen. Während der Sultan genug zu tun hat, den vermeintlichen Ausbruchsversuch abzuwehren, werden meine Männer und ich ihn von da angreifen, von wo er es am wenigsten erwartet, nämlich von See her.“
De Xira zog überrascht die Brauen hoch. Er wollte spontan etwas sagen, schwieg dann aber, um sich nicht Shastris Unwillen zuzuziehen. Wenn er es recht bedachte, war das Angebot des Inders verlockend und außerdem wirklich der einzige Weg, den Sultan und seine Soldaten loszuwerden.
Nur hätte er nie angenommen, daß sich Drawida Shastri an einem solchen Unternehmen selbst beteiligen würde. Der Kapitän glaubte, über einige Menschenkenntnis zu verfügen, und Shastri war für ihn stets einer der skrupellosen Männer gewesen, die bedenkenlos andere für sich über die Klinge springen ließen.
„Warum so nachdenklich?“ fragte der Inder. „Mein Plan ist gut, und meine Leute schwimmen ausgezeichnet. Niemand wird uns sehen, wenn wir die Galeere entern.“
„Die Gefahr …“
Shastri lachte hell. „Haben nicht die Götter längst bewiesen, daß sie mich beschützen? Die schwarze Kali hat mir geholfen, den Schatz zu erlangen, und Schiwa war es, der den Verrat meines Vertrauten Dilip Rangini aufdeckte.“
„Trotzdem …“ Der Kapitän zeigte sich hartnäckig. Warum, wußte er selbst nicht genau zu sagen, aber irgendwie hatte er das Gefühl, daß es nicht gut war, wenn er die Inder allein ziehen ließ. „Solange wir nur eine Breitseite abfeuern, werden nicht alle Männer an Deck gebraucht, bei deinem Vorhaben kann jedoch jede Faust entscheidend sein.“
„Die Fehde zwischen dem Sultan und mir ist unsere ureigenste Angelegenheit“, widersprach Shastri heftig. „Sie wird zwischen uns Indern ausgetragen, ohne daß sich Fremde einmischen.“
Die Betonung des Wortes „Fremde“ ließ de Xira zusammenzucken, Drawida Shastri hatte es hart, beinahe verächtlich ausgesprochen.
Ebenso schroff erwiderte er: „Egal, wer den Kampf weswegen begonnen hat oder weiterführt, wir von der ‚Cabo Mondego‘ stecken mittendrin. Selbst wenn wir wollten, könnten wir nicht mehr zurück.“
Shastri drehte auf dem Absatz um und schickte sich an, zur Kuhl abzuentern.
„Ich rufe meine Leute zusammen. Wir gehen von Bord, sobald wir von der Galeere nicht mehr beobachtet werden können.“
Unwillig zog er die Stirn in Falten, als ihm der Kapitän die Hand auf die Schulter legte und ihn sanft, aber nachdrücklich, zurückhielt.
„Was ist noch? Wir haben alles gesagt, was zu bereden war.“
„Zwischen uns besteht eine Vereinbarung, Drawida, und ich halte meinen Teil ein. Dazu gehört, daß sich meine Männer nicht nur aus der Ferne am Angriff auf die ‚Stern von Indien‘ beteiligen. Unser beider Ziel ist es, den Sultan loszuwerden, wenngleich aus unterschiedlichsten Gründen. Deshalb gebe ich dir einige kampferprobte Männer zur Seite.“
Der Inder vollführte eine entschieden ablehnende Handbewegung.
„Greift mit der Karavelle an und lenkt die Aufmerksamkeit des Sultans und seiner Wachen ab, das ist für mich die größte Hilfe.“
Capitán Luis de Xira lächelte verbindlich.
„Für einen Scheinangriff brauche ich nicht die ganze Mannschaft, und der versprochene Anteil am Schatz ist mir einige Ausfälle wert.“
„Die Anteile der Toten …?“
„… fallen zu zwei Dritteln dem Kapitän zu.“
„Unter diesen Umständen darf ich das großzügige Angebot wohl nicht ausschlagen.“
Der spöttische Zug, der Shastris Mundwinkel umspielte, ließ nicht erkennen, wie er die Bemerkung meinte. Jetzt war es de Xira, der unnahbar wirkte wie eine verwitterte Statue.
Seine Neider und Gegner konnten Drawida Shastri viel nachsagen, doch keinesfalls, daß er nicht flexibel reagierte. Er hängte sein Fähnchen nicht nur nach dem Wind, denn das wäre einfach gewesen. Er schaffte es oftmals sogar, eben dieses sprichwörtliche Fähnchen gegen die stärkste Brise flattern zu lassen – in der Hoffnung, der Wind werde drehen. Das war meist auch der Fall. Anders ausgedrückt: Drawida Shastri, jung und heißblütig, hatte einen Riecher für unvorhersehbare Ereignisse.
Deshalb war selbst sein Vertrauter, Dilip Rangini, nicht in alle Pläne eingeweiht worden. Zu Recht, wie sich vor Madras herausgestellt hatte.
Rangini hatte ihn um das Gold betrügen wollen. Zusammen mit einer der übelsten Räuberbanden der Südostküste Indiens wäre ihm das beinahe gelungen. Den Verrat hatte er jedoch mit dem Leben bezahlt – da Shastri Sinn für Details hatte, in Sichtweite des englischen Dreimasters, der die elf Tonnen Gold und Silber nach Madras gebracht hatte.
Sogar in den letzten Augenblicken seines Lebens, ehe sein Kopf unter dem Richtschwert fiel, war