Die weiße Giraffe. Lauren St John
«Gut, damit hätten wir schon ein Problem weniger.»
Von Anfang an löste Martines Zukunft bei allen anderen deutlich mehr Begeisterung und Aufregung aus als bei ihr selbst. «Ein Wildreservat in Afrika!», sagte Miss Rose voller Ehrfurcht. «Kannst du dir das vorstellen, Martine? Als würdest du dein ganzes Leben auf Safari verbringen.»
Mrs. Robinson hingegen war überzeugt, dass auf Martine die Gefahr lauerte, von einem Tiger aufgefressen zu werden. «Du musst stets auf der Hut sein», ermahnte sie Martine. «Was für ein Abenteuer!»
Martine verdrehte die Augen. Mrs. Morrison war der liebenswürdigste Mensch dieser Welt, aber von Tieren hatte sie keine Ahnung.» «Es gibt keine Tiger in Afrika, außer vielleicht im Zoo.»
Abgesehen davon hatte auch Martine wenig Ahnung von Afrika. In ihrer Vorstellung gab es nur weite, gelbe Hochebenen, Mangos, Schirmbäume, dunkle Gesichter und Glutofenhitze unter stechender Sonne. Sie fragte sich, ob auf der Straße wilde Tiere herumliefen. Könnte sie sich vielleicht sogar eines als Haustier nehmen? Da ihre Mutter allergisch gegen Tiere gewesen war, durfte sie nie ein Haustier haben, so sehr sie es sich auch gewünscht hatte. Vielleicht würde sie ja jetzt einen kleinen Affen bekommen.
Doch dann erinnerte sie sich wieder an den Ton im Brief ihrer Großmutter, und sogleich meldete sich das Gefühl zurück, in einen endlosen Schlund zu stürzen. Gwyn Thomas – das klang nicht gerade nach einem Menschen, der einen Primaten in seinem Wohnzimmer aufnehmen würde. Falls Gwyn Thomas überhaupt ein Wohnzimmer besaß. Denn nach allem, was Martine bisher erfahren hatte, war es durchaus möglich, dass ihre Großmutter in einer Steppengrashütte hauste.
In der Schule schienen die meisten ihrer Klassenkameraden vergessen zu haben, dass vor knapp drei Wochen ihr Elternhaus heruntergebrannt war und dass sie nicht aus freien Stücken nach Südafrika ging. «Mensch, hast du ein Glück», sagten sie ihr immer wieder. «Du wirst surfen lernen und so. Das ist ja so was von cool.»
Wenn sie diese Kommentare hörte, konnte sich Martine zumindest die Genugtuung abringen, dass sie nie mehr durch die furchtbare Pforte der Bodley Brook Junior School gehen musste. Sie hatte ohnehin nie dahin gepasst. Eigentlich passte sie nirgends hin, wo sich gleichaltrige Kinder aufhielten; doch das hatte irgendwie keine Rolle gespielt, als sie Mama und Papa noch hatte. Ihre Eltern waren ihre besten Freunde. Ihr Vater war Arzt gewesen, und er hatte lange Arbeitstage. Doch im Sommer gingen sie nach Cornwall zelten. Ihre Mutter hatte dann gemalt, während sie mit ihrem Vater schwimmen oder angeln ging oder er ihr Erste-Hilfe-Kurse gab. Und auch am Wochenende hatten sie immer Spaß zusammen, selbst wenn das Wetter nicht mitspielte und ihnen nichts anderes übrig blieb, als Pfannkuchen zu backen. Doch das war jetzt alles vorbei, und in Martines Herzen klaffte ein großes Loch.
Am Samstagvormittag, einen Tag vor ihrem Abflug nach Südafrika, nahm sie Miss Rose in die Oxford Street nach London mit, um ihr Sommerkleider zu kaufen. Ein grauer Eisregen fiel auf die Stadt, während sich kaufwütige Londoner und Touristen mit ihren Schirmen fast die Augen ausstachen. Doch all dies vermochte die Begeisterung von Miss Rose nicht zu schmälern.
«Sind das nicht süße Shorts?», rief sie im Getümmel bei Gap entzückt aus. «Diese Baseballmütze ist doch Klasse! Oder schau dir dieses rotgestreifte T-Shirt an. Es würde dir einfach prima stehen.»
Martine ließ sie gewähren. Aber eigentlich fühlte sie sich hundserbärmlich. Ihr Magen war ein brodelnder Nervenkessel, und in Erwartung des morgigen Tages war ihr Mund völlig ausgetrocknet. «Ja, das ist schon in Ordnung», sagte sie immer wieder, wenn ihr Miss Rose ein neues Kleiderstück präsentierte. «Doch, das ist nett. Das passt.»
Schließlich kauften sie zwei Paar khakifarbene Shorts ein Paar Jeans, vier T-Shirts, eine Baseballmütze und ein Paar robuste beige Wanderstiefel. Sie musste sich nur einmal wirklich wehren – als Miss Rose ihr ein Kleid mit Blumenmuster aufschwatzen wollte. Martine mit ihrem braunen Kurzhaarschnitt und den hellgrünen Augen hatte sich standhaft geweigert, ein Kleid zu tragen, seit sie fünf Jahre alt war. Und sie hatte keinerlei Absichten, jetzt von diesem Kurs abzuweichen.
«Wenn ich meine Beine nicht schütze, werde ich noch von einer Schlange gebissen», sagte sie zu Miss Rose.
«Dieser Gefahr setzt du dich aber auch aus, wenn du Shorts trägst», entgegnete ihre Lehrerin.
«Stimmt, aber das ist etwas anderes», gab Martine zurück. «Haben Sie je einen Forscher gesehen, der keine Shorts trug?»
Abends in Hampshire kochte Miss Rose ein Abschiedsessen für Martine: Gebratenes Hühnchen Bratkartoffeln, frische Erbsen, hausgemachter Yorkshire-Pudding an einer Zwiebelsauce. Mr. und Mrs. Morrison, die auch eingeladen waren, schenkten Martine ein Fernglas, das sie von einem Onkel geerbt hatten.
«Damit du Raubkatzen entdeckst», sagte sie.
Martine war gerührt, vor allem, als Mrs. Morrison ihr ein großes Stück selbst gebackenen Schokoladekuchen für die Reise überreichte, den sie sorgsam in eine Lunchbox eingepackt hatte.
«Ich wünsche dir das Allerbeste, meine Liebe» sagte Mrs. Morrison sichtlich bewegt. «Und vergiss nicht, dass du bei Mr. Morrison und mir immer ein Zuhause hast.»
Mr. Morrison brummelte zustimmend. Er war kein Mann der großen Worte. Doch als seine Frau sich abwandte, um der Lehrerin für das Essen zu danken, zog er eine geschnitzte Holzkassette aus seiner Manteltasche. «Für deine Sicherheit», sagte er leise, als er Martine das Geschenk zusteckte. Dann öffnete er die Tür des Wagens und startete den Motor.
«Bist du bereit, Liebling?», rief er seiner Frau zu. «Mach’s gut, Martine.»
Martine wartete lange, bis sie allein im Gästezimmer war, um endlich die Kassette zu öffnen. Darin waren eine rosa Maglite-Taschenlampe, ein Schweizer Armeemesser und ein Verbandskasten. Sie konnte ihren Augen kaum trauen. Sorgfältig legte sie alles auf dem Bett aus und las fasziniert die dazu gehörende Gebrauchsanleitung. Sie war tief bewegt, wie großzügig sie doch alle waren. Nach einer Weile verpackte sie die Geschenke wieder sorgsam, drehte das Licht aus und legte sich ins Bett. Durch das Fenster warf der Vollmond einen Silberstreifen in das Zimmer.
Nun wurde Martine auch gegen ihren eigenen Willen ganz aufgeregt. Schon morgen Abend würde sie in einem Flugzeug nach Afrika sitzen, unterwegs in ein Leben, von dem sie sich kein Bild machen konnte. Sie konnte nichts mehr daran ändern: Das Schicksal war dabei, die Tür zu ihrer Vergangenheit zu schließen.
• 3 •
D as Erste, was Martine wahrnahm, war die Hitze, die in einem trüben Dunstschleier von der Flughafenpiste aufstieg. Es war, als würde der Horizont unter der Last des blauen Himmels zusammenbrechen, und die Konturen der Flugzeuge flirrten wie in einem Traumbild. Sie hatte die Maschine in einer eiskalten englischen Winternacht bestiegen. Zu Hause war in den Wettervorhersagen von Stürmen und starkem Schneefall die Rede gewesen. Doch jetzt hatte Martine das Gefühl, in einem Glutofen gelandet zu sein. Bewegungslos stand sie auf dem Rollfeld, ein leichenblasses elfjähriges Mädchen, und sah zu, wie ihre Mitreisenden in den gelben Flughafenbus stiegen.
«Aufwachen, Kleine! Sonst lassen die dich noch hier stehen.» Ein großer Mann mit Glatze in einem Billabong-Shirt beugte sich zu ihr herunter. «Wo sind denn deine Mama und dein Papa. Erwarten sie dich?»
Am liebsten wäre Martine in Tränen ausgebrochen und hätte losgeheult, sodass man sie auf dem ganzen Flughafen gehört hätte: «Ja, ich will, dass man mich hier stehen lässt. Und nein, meine Mama und mein Papa erwarten mich nicht. Sie werden nie auf mich warten.»
Stattdessen nuschelte sie vor sich hin: «Ja, hm, äh … Nein, ich werde nicht … Doch, ich werde abgeholt.»
«Das klingt aber nicht gerade überzeugend.»
«Harry, was ist