Lebendigkeit entfesseln. Silke Luinstra
die Folgen gehen, die gefesselte Lebendigkeit in Unternehmen und Schulen hat. Was sie dann sagte, hat mich sehr betroffen gemacht: »Ich glaube, ich habe das kreative Denken in der Schule verlernt. Ich bin nicht mehr besonders, sondern eine Aufgabenerfüllerin.«
Nach dieser Aussage war nun erst einmal ein Spaziergang mit meiner Großen fällig, das konnte und wollte ich so nicht stehenlassen. Die Essenz aus unserem Gespräch: Der Grundtenor von Aufgabenerfüllung, Leistung und Konkurrenz, den meine Tochter in der Schule erlebt, wirkt sogar, obwohl ihr die Mechanismen sehr bewusst sind. Sie möchte ihnen gar nicht so sehr folgen, doch es kostet sie eine ganze Menge Energie, sich immer wieder davon abzugrenzen. Und diese Kraft hat sie einfach nicht jeden Tag zur Verfügung. Ich glaube, das geht uns Erwachsenen nicht anders. Es ist auf Dauer sehr anstrengend, wenn in unserem Umfeld Maximen gelten, die mit unseren eigenen nicht übereinstimmen. Wir müssten dann immer und immer wieder Energie aufwenden, um uns diese Einflüsse vom Leib zu halten.
Was wir jeden Tag in unseren Organisationen erleben, prägt unsere Werte, unser Weltbild und unser Verhalten – ob wir wollen oder nicht. Die Erwartungen, denen wir täglich begegnen, machen wir zu einem Bestandteil unserer Identität und Persönlichkeit. Manchmal zahlen wir dafür einen hohen Preis, werden krank in diesen Systemen. Das ist eigentlich eine sehr gesunde Reaktion. Die Menschen bei sysTelios formulieren das so: »Wer in einem kranken System krank wird, ist eigentlich sehr gesund.« Sie meinen das in keiner Weise zynisch und nehmen das damit verbundene Leid sehr ernst. Doch es ist oft ein erster Schritt, Erschöpfung oder Burn-out als Lösungsversuch einer schwierigen Situation zu deuten – und nicht als Schwäche. Dazu später mehr.
Trotz dieser manchmal gravierenden Auswirkungen der etablierten Vorgehensweisen in Unternehmen wie Schulen liegt es mir fern, alles zu verdammen und ein komplett anderes System zu fordern – obwohl ich den alten Marx an der ein oder anderen Stelle gut verstehen kann. Es ist aber eine Frage der Dosis. Mein Mann, der Chemiker ist, sagt dazu: »Ob etwas giftig ist, kann man nie absolut sagen. Es kommt immer auf die Menge an.« Die schädliche Dosis ist aber an vielen Stellen längst erreicht, nicht nur für uns Menschen, sondern auch in unseren Organisationen. Die leiden auch.
Das volle Programm
Nun bin ich auch Ökonomin und nehme als solche nicht nur menschliches Wohlbefinden in den Blick, sondern auch die Konsequenzen der fehlenden Lebendigkeit für die Unternehmen selbst.
Kurz und sehr ökonomisch gesprochen werden Unternehmen in ihrer Wertschöpfung behindert, ja sogar in ihrer Existenz gefährdet, wenn es in ihnen nicht lebendig zugeht. Das habe ich in meiner Zeit in Ludwigshafen miterleben müssen und ich vermute, dass Sie ebenfalls Erfahrungen in diese Richtung gemacht haben. Dass Sie möglicherweise auch erlebt haben, wie in einem Projektmeeting noch alle Ampeln im Projektplan auf »Grün« standen und in der nächsten Woche klar wurde, dass die Zulassungsunterlagen auf keinen Fall fristgerecht fertig werden würden. Was war passiert? Es hatten alle so getan, als wenn im Projekt alles bestens läuft, und die Ampeln auf »Grün« gestellt. Wer das nicht tat und rechtzeitig warnte, dass es eng werden könnte, so die Erfahrung, bekam sofort ein Problem. Wer das aussaß und hoffte, es würde schon irgendwie gut gehen, bekam nur dann ein Problem, wenn es wirklich schiefging.
Ich verstehe gut, wenn Menschen sich das nicht antun wollen und schauen, ob sie sich durchwurschteln können. Doch für das Unternehmen ist so ein System, das zu solchem Verhalten einlädt, eine große Gefahr. Herausforderungen und Schwierigkeiten werden nicht rechtzeitig erkannt, und damit fehlt die Möglichkeit, gegenzusteuern. Ergebnis? Ein Medikament kommt erst mit monate- oder jahrelanger Verzögerung auf den Markt, die Maschine kann nicht fristgerecht ausgeliefert werden oder ein Flughafen jahrelang nicht eröffnet werden. Umsatzausfälle, Vertragsstrafen, Imageschäden – das volle Programm.
Noch dazu gehen dann gute Leute, weil sie frustriert sind. Oder sie bleiben und machen Dienst nach Vorschrift, was nicht unbedingt besser ist. Und das nicht, weil sie nicht anders wollen oder böswillig Leistung vorenthalten, sondern vielfach, weil sie für etwas anderes keine Kraft mehr haben. Damit sind dann nicht nur kurzfristig Umsätze in Gefahr, sondern langfristig der Bestand des Unternehmens. Denn wenn die Kraft fehlt, bleiben auch Entwicklungen, Verbesserungen und Innovationen aus. Auf Dauer ist das tödlich. Vor über 20 Jahren in Ludwigshafen passierte genau das: Zuerst gingen gute Leute, vor allem Forscher und IT-Spezialisten. Die übrigen Mitarbeiter versuchten, trotz Strukturen und Vorgaben kundenorientiert zu handeln. Vergeblich, das 1886 gegründete Unternehmen wurde Anfang des neuen Jahrtausends an einen amerikanischen Konzern verkauft.
Wir könnten jetzt noch eine Weile weitersprechen über die Folgen fehlender Lebendigkeit, doch ich habe den Eindruck, darüber wurde in den letzten Jahren genug geschrieben und gesprochen. Bücher, Wochenendausgaben der Tageszeitungen, Fachzeitschriften, Podiumsdiskussionen – überall setzt sich die Erkenntnis durch, dass es anders werden muss. Wir haben hier offenbar kein Erkenntnis-, sondern ein Handlungsproblem. Dabei ist es bitter nötig, zu agieren, denn nicht nur für Einzelne und Unternehmen hat das Fehlen der Lebendigkeit gravierende Folgen, sondern auch für ganze Gesellschaften.
Der Verantwortungsmuskel
Das, was ich auf den letzten Seiten erzählt habe über Jochen, Kathrin und meine Tochter Rianna sowie über unsere Unternehmen, hat nicht nur Folgen für deren Leben beziehungsweise Existenz, sondern es wirkt sehr spürbar in unsere Gesellschaft hinein. Wir sollten daher das Thema der Lebendigkeit in Organisationen nicht diskutieren, ohne auf die Auswirkungen auf die größeren Kontexte zu schauen. Selbstverständlich sind florierende Unternehmen wichtige Elemente für jede Gesellschaft, sorgen sie doch für lebensnotwendige Güter, für Einkommen der Bürger, für Steuereinnahmen und funktionierende Sozialsysteme. Doch neben guten Zahlen, die den Fortbestand eines Unternehmens sichern, ist noch etwas anderes mindestens ebenso wichtig: Es sind die Erfahrungen, die wir alle jeden Tag an unseren Arbeitsplätzen machen. Denn was Sie als Mitarbeiter erleben, nehmen Sie auch mit in Ihre Rollen als Mütter, Söhne, Freunde, Freiwillige und Bürger.
Lassen Sie uns einen Moment die Rolle des Staatsbürgers fokussieren. Die Nachrichten der letzten Monate und Jahre sind voll mit Botschaften von Bürgern: Die Amerikaner wählten 2016 einen Präsidenten, der versprach, Amerika wieder groß zu machen. Die Briten verschafften Boris Johnson, der das Land aus der EU führen wollte, eine satte Mehrheit. Bei Landtagswahlen in Deutschland kam die rechtsgerichtete AfD auf Werte nahe 30 Prozent. Für diese Phänomene gibt es mit Sicherheit keine einfachen Erklärungen, und doch vermute ich aufgrund der Tatsache, dass wir Erfahrungen in alle Rollen mitnehmen, einen Zusammenhang mit unserem Thema der Lebendigkeit.
Wer jeden Tag den Konkurrenzdruck spürt und sich vielleicht sogar als Verlierer in diesem Kampf fühlt, neigt vermutlich zu jemandem, der alte Stärke verspricht. Nicht zufällig verfangen Wahlversprechen wie »Make America great again« vor allem dort, wo Menschen das Gefühl haben, den Konkurrenzkampf verloren zu haben.
Wer im Job immer wieder eine Gegen-die-anderen-Dynamik erlebt, macht sein Kreuz eher bei einem Kandidaten, der die eigene Identität durch Abgrenzung von anderen Gruppen stärkt. Wer im Job ständig gesagt bekommt, was er zu tun und zu lassen hat, sucht auf politischer Ebene vermutlich auch eher jemanden, der einfache Lösungen verspricht und den Menschen die Verantwortung eher abnimmt als zumutet. Das soll überhaupt nicht heißen, dass Menschen nicht in der Lage wären, Verantwortung zu übernehmen. Das wäre ausgemachter Blödsinn. Menschen übernehmen immer Verantwortung in ihrem Leben – sie führen Vereine, bauen Häuser und erziehen Kinder.
Doch mit der Verantwortung ist es ein bisschen wie mit Muskeln: Wenn sie nicht trainiert wird, ist sie weniger stark. Und wenn nun der Verantwortungsmuskel acht Stunden am Tag ruht, wird es mit dem Sprint nach Feierabend schwieriger. Es ist sogar schon so weit, dass selbst geschätzte Fachkollegen es ausdrücklich nicht als Armutszeugnis betrachten, wenn Menschen keine Verantwortung übernehmen wollen. So las ich es vor einigen Wochen in einem Essay. »Es ist kein Armutszeugnis, wenn jemand von sich sagt, lieber keine Verantwortung zu wollen.« Doch, ich finde, das ist es! Das ist sogar dramatisch! Wir brauchen mehr denn je Menschen, die zu Verantwortung bereit sind, und wir müssen uns fragen, wie Kontextbedingungen gestaltet