Lebendigkeit entfesseln. Silke Luinstra
mit einer ganz klaren Richtung: Der Mitarbeiter ist abhängig von seinem Arbeitgeber. Der zahlt »dem Beschäftigten« das Gehalt, der macht die Regeln, könnte »den Beschäftigten« feuern. Das klingt nach einer ungesunden Einbahnstraße, die den ohnehin im Leben stets vorhandenen Interdependenzen nicht gerecht wird. Die »abhängig Beschäftigten« beugen sich besser den Vorgaben desjenigen, von dem sie abhängig sind. Eine Begegnung auf Augenhöhe ist bei dieser Sichtweise auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht vorgesehen. Nächster Knoten.
Und wieso sind die eigentlich »beschäftigt«? Um mit meinem geschätzten Fachkollegen Lars Vollmer zu sprechen: »Ich hoffe doch sehr, dass die Menschen arbeiten und nicht lediglich beschäftigt sind!« Doch in dem Begriff steckt ungewollt womöglich ein wahrer Kern. Denn während ich das schreibe, denke ich zurück an meine Zeit in dem Pharmaunternehmen in Ludwigshafen und an so manche Begegnung in den darauffolgenden Jahren als Beraterin. Wie oft waren alle Beteiligten mehr als willens, einen guten Job für den Kunden zu machen? Sehr oft. Wie oft aber wurde ihnen das von Prozessen, Regeln und Vorschriften schwergemacht, mit denen sie sich mehr als mit dem Kunden beschäftigen mussten? Noch häufiger. Leider gehört dieses Phänomen nicht der Vergangenheit an. Im Gegenteil.
Davon habe ich vor Kurzem mal wieder eine anschauliche Kostprobe bekommen. Wir hatten im AUGENHÖHE-Team in den ersten Wochen des Jahres eine Software eines Start-up-Unternehmens getestet. Nun bekam ich von unserem Kundenbetreuer eine freundliche Mail. Er fragte, ob das Tool für uns hilfreich war und ob wir es weiterhin nutzen möchten. Der Mann verstand seinen Job, und so hatte er natürlich auch direkt ein Angebot beigefügt. Der Kalender zeigte den 30. Januar. Ich antwortete ihm einen Tag später, seine Reaktion folgte auf den Fuß: Das Angebot würde nur noch heute gelten, wir sollten unbedingt noch am selben Tag telefonieren. Das taten wir dann auch. Im Gespräch fragte ich den sympathischen jungen Mann, weshalb es denn so dringend sei. Ich wollte gerne noch das Feedback meiner Kollegen einholen, bevor wir entscheiden.
Das konnte er verstehen, doch das Angebot würde nur noch an diesem Tag gelten. Hartnäckig wie ich manchmal bin fragte ich nochmals nach, weshalb es nicht noch drei Tage Zeit hätte. Ich fühlte mich langsam immer mehr bedrängt und sagte ihm das auch. Drucksen am anderen Ende der Leitung. »Ja, also«, sagte er schließlich, »heute ist der 31. Januar.« Nun wurde mir langsam klar, worum es ging: Der arme Kerl musste noch die Umsatzziele für diesen Monat erfüllen, so stand es in seiner Zielvereinbarung. Was sollte der junge Mann jetzt tun? Das Beste für den Kunden, in diesem Falle uns, oder das Beste für die internen Vorgaben? Er entschied sich für Letzteres und verlor uns schließlich als Kunden.
Das Erfüllen solch interner Vorgaben nennt Lars Vollmer sehr treffend Beschäftigung, weil dabei nichts für den Kunden rauskommt. Noch ein Knoten. Und den nächsten Knoten gibt es gleich für die Zwickmühlen, die aus diesen Vorgaben entstehen.
Ich vermute, Sie kennen solche oder ähnliche Situationen und wissen, wie viel Zeit und Energie es kostet, immer wieder abzuwägen, ob Sie interne Vorgaben erfüllen oder dem Kundenwunsch folgen. Ich höre solche Geschichten oft, gerade gestern wieder von einer Kundin. Doris klagte mir in einer Workshoppause ihr Leid: Sie arbeitet in der Pharmaindustrie, und selbstverständlich gibt es dort Produktionspläne, die die Effizienz gewährleisten sollen. So gut, so vernünftig. Doch jetzt hatte sich die Geschäftsführung einfallen lassen, den Produktionsplanern einen Bonus zu zahlen, wenn die Planer ihre Pläne auch einhalten. Diese Maßnahme sollte die aufwendigen Umplanungen verringern und die Effizienz weiter erhöhen.
Doch was passierte? Kunden riefen weiterhin mit dringenden Bestellungen an, weil die Nachfrage nach Impfstoffen plötzlich angestiegen war oder ein Konkurrent ein bestimmtes Medikament nicht liefern konnte. Was sollten die Planer jetzt tun? Dem Kundenwunsch folgen und damit ihre Planung über den Haufen werfen – und ihren Bonus drangeben? Oder dem Kunden absagen, den Plan erfüllen und den Bonus einstreichen? Immer mehr Planer entschieden sich für die zweite Lösung. Der Plan war eingehalten – doch um welchen Preis? Die Absage an den Kunden dürfte weder dessen Zufriedenheit noch die Umsätze erhöht haben. Das war in dem Pharmaunternehmen nicht anders als bei dem Start-up mit dem Software-Produkt.
Aber mindestens ebenso schlimm ist, dass die unterschwellige Botschaft an die Planer lautete: »Ohne den Anreiz plant ihr nach Lust und Laune um und gefährdet unseren wirtschaftlichen Erfolg.« »Dabei«, so Doris, »kennt jeder von uns seine Pappenheimer ganz genau. Wir wissen, welche Kunden einfach rechtzeitige Bestellungen verpeilen und beim wem echt Not am Mann ist, weil Unvorhersehbares passiert ist. Dementsprechend sagen wir entweder dem Kunden freundlich, dass er seine Ware in vier Wochen bekommt, oder wir planen die Produktion um.« Es gab also immer gute Gründe für Planänderungen, niemand plante aus Jux und Dollerei um. Den nächsten Knoten gibt es für die impliziten Unterstellungen – und gleich noch einen für den Versuch, Menschen zu manipulieren.
Aber ist das nicht normal? Gibt es diese Systeme nicht schon seit Jahrzehnten – ohne dass sie diese gravierenden Folgen hatten? Lassen Sie uns genauer hinschauen.
Dynamik und Menschenwürde
Weshalb nehmen wir heute die gefesselte Lebendigkeit stärker wahr als noch vor ein, zwei Jahrzehnten? Ich denke, das hat damit zu tun, dass unsere Unternehmen und Institutionen der immer weiter zunehmenden Dynamik nicht mehr gewachsen sind. Doch weshalb nehmen Dynamik und Komplexität immer weiter zu? Darüber reden wir zwar dauernd, der Begriff VUCA (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) legt gerade eine steile Karriere hin, aber was steckt eigentlich dahinter? Von den vielen Einflussfaktoren scheinen mir drei besonders wesentlich.
Erstens: die heutige Situation auf globalen Märkten. Lassen Sie uns, um zu verstehen, was da passiert ist, einen kurzen Ausflug in die Wirtschaftsgeschichte machen. Bis ungefähr 1900 dominierten industrielle Manufakturen das Bild. Die waren zwar schon größer als die traditionellen Handwerksbetriebe, konnten ihre Waren im Wesentlichen aber nur im lokalen Umfeld absetzen, weil die Transportkosten einfach zu hoch waren. Vor allem durch technische Innovationen reduzierten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Transport- und Tauschkosten, und plötzlich hatten die Unternehmen riesige Märkte, die sie erobern konnten. Konkurrenten störten dabei ebenso wenig wie Kundenwünsche.
Von Henry Ford ist der schöne Satz: »Die Kunden können bei mir jedes Auto kaufen, solange es schwarz ist.« Ford war es auch, der die Idee des Scientific Management von Frederik Taylor als Erster adaptierte. Dieses Konzept sollte eine ganze Epoche prägen. Unternehmen fokussierten sich auf ihre internen Praktiken, optimierten Kosten und entwarfen immer effizientere Prozesse. Budgets und die Verhandlungen derselben, Controlling, Abteilungen, Stellenbeschreibungen, Karriereplanung, Management by Objectives mit den dazugehörigen Zielvereinbarungen, Beurteilungen und Bonussystemen sind einige Kinder dieses wissenschaftlichen Managements.
Der Taylorismus hat Ideen, Flexibilität und Kreativität stillgelegt.
Dieses Vorgehen war in der Zeit übrigens enorm erfolgreich, zumindest nach ökonomischen Maßstäben: Die industrielle Produktion stieg innerhalb von nur zwei Generationen um das Hundertfache. Der daraus resultierende materielle Wohlstand hat ohne Frage Gutes bewirkt, wie eine deutlich verbesserte Versorgung mit Trinkwasser und Nahrungsmitteln und bessere medizinische Leistungen, die mit steigender Lebenserwartung und geringerer Kindersterblichkeit einhergehen.
Wohlhabende Gesellschaften sind meistens auch demokratische Gesellschaften, wobei immer wieder leidenschaftlich darüber diskutiert wird, was hier Henne und was Ei ist. Ermöglicht die Demokratie wirtschaftliche Prosperität oder sorgt der Wohlstand dafür, dass sich demokratische Staatsformen ausprägen und stabilisieren? Auch wenn wir diese Frage hier nicht abschließend klären können und Krisenerscheinungen westlicher Demokratien wie in den USA unter Donald Trump oder in Großbritannien Zweifel aufkommen lassen, so dürfte unstrittig sein, dass Wohlstand die Wahrscheinlichkeit auf das Entstehen und Fortbestehen einer demokratischen Verfassung erhöht.
Vermutlich auch wegen ihres großen Erfolgs gelten die tayloristischen Prinzipien bis heute als modern. Dass Systeme aus Planung und Zielerfüllung auch in kleinen Unternehmen wie dem erwähnten Startup, das gerade mal zwei Jahre am Markt war, bereits Einzug gehalten haben, ist für mich ein Zeichen dafür,