Neuer. Dietrich Schulze-Marmeling

Neuer - Dietrich Schulze-Marmeling


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zwischen den Blöcken, oben im ,Y‘“, erzählt er. „Da musste man einen Pulli reinlegen, um auf den Spitzen sitzen zu können. Ich bin auch zu den Auswärtsfahrten meistens mit dem Bus gefahren.“ Der Schalker Nachwuchsspieler Neuer kennt die Fanszene bestens, einschließlich ihrer Problemfans. Als die Schalker U17 in Dortmund ein Pokalfinale gegen den BVB bestreitet, kommt es nach dem Schlusspfiff zu Hauereien zwischen den verfeindeten Fan-Gruppen. Auf dem Sportplatz herrscht ein einziges Chaos. U17-Trainer Manfred Dubski und Lothar Matuschak bekommen es ein wenig mit der Angst zu tun, als eine Horde raufwilliger Fans in ihre Richtung läuft. Aber der neben ihnen stehende Manuel Neuer gibt Entwarnung: „Ganz ruhig bleiben – das sind unsere.“ Allerdings ist Neuer so manchem Betreuer etwas „zu viel Fan“; man befürchtet, er könne zu stark in die Szene abrutschen.

       GSBF

      Bis in die achte Klasse besucht Manuel Neuer die Realschule Gelsenkirchen-Buer. Im Sommer 2000 wechselt er auf die Gesamtschule „Berger Feld“, kurz GSBF. Die 1969 gegründete GSBF war eine der ersten Gesamtschulen im Bundesland Nordrhein-Westfalen und auch die erste, an der Schüler ihr Abitur ablegen konnten. 1974 zog die Schule in das neu errichtete Gebäude auf dem Berger Feld an der Gelsenkirchener Adenauerallee um, in unmittelbarer Nähe zum heutigen Vereinsgelände von Schalke 04, dem alten Parkstadion und der Arena Auf Schalke, in der die Profis der „Knappen“ seit der Saison 2001/02 spielen. 2015 zählt die Schule um die 1.300 Schüler, die von 118 Lehrkräften betreut werden. Bis zum Sommer 2015 hieß der Schulleiter Georg Altenkamp, ein alter 68er, für den Chancengleicheit ganz oben auf der pädagogischen Prioritätenliste steht. Die Schule profiliert sich nicht nur durch Sport, sondern auch durch Themen wie Inklusion und Integration. Altenkamp sah ein Defizit: „Es kann doch nicht wahr sein, dass diese Schule in 20 Jahren noch keinen Kontakt zu dem Verein hat.“ Fortan spielte er mit Schalkes Jugendleiter Bodo Menze Doppelpass. So begann in Gelsenkirchen die Zusammenarbeit zwischen Profiklub und Schule deutlich früher als an anderen Orten. Die Kooperation Schalke 04/GSBF avancierte zum Leuchtturm der Nachwuchsförderung im deutschen Fußball.

      1995 wurde an der Schule in Zusammenarbeit mit Schalke 04 das Talentzentrum Gelsenkirchen gegründet. Diese Kooperation wurde 2000 durch die Gründung der Fußballschule „Auf Schalke/Teilinternat Gesamtschule Berger Feld“ erheblich intensiviert, was zu beachtlichen Erfolgen führte. 2004 erhielt die GSBF die Auszeichnung „Partnerschule des Leistungssports“, 2007 wurde sie vom DFB als erst vierte deutsche Schule in den Rang einer „Eliteschule des Fußballs“ gehoben und 2012 schließlich zur „Sportschule NRW“ ernannt. Nach der Grundschule wird hier nur aufgenommen, wer in Sport mindestens eine Zwei im Zeugnis hat und in den Hauptfächern nicht schlechter als Drei steht. Wenn die schulischen Leistungen nicht stimmen, schließt Schalke die Jugendlichen vom Trainingsbetrieb aus – bis sie wieder stimmen.

      In einer Eigendarstellung der Schule heißt es: „Ziel der Fußballschule ,AufSchalke‘ ist es, die jungen Talente sportlich zu fördern und zugleich in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen. Diesem Anspruch liegen bewährte sportliche und pädagogische Konzepte zugrunde, die kontinuierlich weiterentwickelt werden. So erhalten die jungen Fußballtalente beispielsweise eine pädagogisch-psychologische Betreuung, Kompensation vom Unterrichtsausfall, Hausaufgabenbetreuung und die Möglichkeit, zusätzliche Trainingseinheiten am Vormittag zu absolvieren.“ Norbert Elgert, der legendäre U19-Coach der „Knappen“: „Das sind tausend Ballkontakte pro Woche mehr. Damit ersetzen wir den Straßenfußball früherer Tage.“

       Zwölfstunden-Tag

      Für den Schüler Manuel Neuer sieht der Alltag in den nächsten Jahren so aus: Früh um sieben Uhr nimmt er den Bus zur Gesamtschule. In der ersten und zweiten Unterrichtsstunde hat er normalen Schulunterricht. Die Stunden drei und vier steht Fußballtraining auf dem Plan. Dann wieder Unterricht – bis zur Mittagspause. Essen in der Mensa, anschließend bis zur neunten Stunde wieder Unterricht. Um 15:40 Uhr ist die letzte Schulstunde beendet, danach gibt es Hausaufgabenbetreuung bis 16:30 Uhr. Wenn andere dann endlich Freizeit haben, geht es für ihn zum Torwarttraining, danach folgt von 17:30 bis 19:15 Uhr das Mannschaftstraining der B-Jugend. Duschen, dann ab in die Straßenbahn und nach Hause. Viermal die Woche ein Zwölfstunden-Tag. Sein Tagesablauf ist anstrengender als später bei den Profis.

      Dazu kommt noch das Spiel am Sonntag. „Ich musste damals ständig auf die Uhr schauen. Das hat sich richtig eingebrannt“, erzählt er Jahre später. „Mir hat schon ein Stück Kindheit und Jugend gefehlt – vor allem, um Freundschaften aufzubauen. Der Einzige, der wenig mit Fußball zu tun hat und zu dem ich trotzdem ein gutes Verhältnis habe, ist mein Bruder. Heute haben wir teilweise auch einen anstrengenden Job, wir haben aber auch unsere Entspannung und Freiheiten. Das hat mir damals viel stärker gefehlt, vier Jahre lang.“

      Wenn dieser Stress in eine sportlich und finanziell erfolgreiche Profikarriere mündet, dann hat er sich gelohnt. Aber den meisten, die durch die Mühle der U17- und U19-Bundesligen gehen, bleibt eine Profikarriere verwehrt. Zumindest eine auf höherem Niveau. Manche von ihnen hören bald mit dem Kicken auf oder spielen nur noch in untersten Ligen – dort, wo sie mit ihren Fähigkeiten und ihrer Ausbildung den Fußball nicht als Stress empfinden müssen. Wo sie Fußball endlich als Freizeitspaß genießen können. Wo sich ihr Leben nicht nach dem Trainings- und Spielplan richten muss. Das Bedürfnis, Versäumtes nachzuholen, ist stark.

      Manuel Neuer absolviert sein Schulpraktikum bei einem Physiotherapeuten: „Wenn es mit dem Fußball nichts geworden wäre, dann hätte ich mir auch so etwas beruflich vorstellen können.“ Sein ehemaliger Kunstlehrer Arthur Preuß, zugleich „Fußball-Koordinator“ der Schule, erinnert sich im Juni 2008 gegenüber dem lokalen Magazin „fluter“: „Das war ein kleiner Moppel.“ Neuer habe um seine Vier in Englisch und „gegen den Klassenerhalt“ kämpfen müssen. Neuer: „Ich habe in der Schule immer nur das Nötigste gemacht.“ Manchmal half auch der ältere Bruder Marcel, der später an der Ruhr-Uni Bochum Theologie und Geschichte auf Lehramt studiert. „Manuel ist nicht so der geborene Künstler. Da habe ich schon mal morgens noch schnell sein Kunstbild gemalt und ihm in die Klasse gebracht. Mensch Manuel, du hast wieder deine Kunstsachen zu Hause vergessen, habe ich dann gesagt.“ In der „Welt“ berichtet ein ehemaliger Lehrer, Neuer sei „ein völlig normaler Schüler“ gewesen. „Den hätten Sie im Klassenverband nicht als kommenden Profi erkannt.“ Er sei nie unangenehm aufgefallen. „Manuel hatte den Schelm im Nacken, er war ein kleines Schlitzohr, er wusste zu feiern.“ Es gibt auch eine Phase, in der Neuer die Schule zu sehr schleifen lässt. Und seine Trainer ihn in den Hintern treten müssen.

      Die jungen Kicker bekommen nichts geschenkt. Der damalige Schulleiter Georg Altenkamp: „Wir können es uns nicht leisten, denen irgendwelchen Zucker in den Hintern zu blasen.“ Überhaupt sei es gut „für den Manuel, dass er ,Emilia Galotti‘ gelesen hat“. Denn dem Schulleiter liegt eine „ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung“ seiner kickenden Schüler am Herzen.

      2015 verkündet die Homepage der Schule, dass 153 Nachwuchsfußballer das Projekt durchlaufen hätten. 41 von ihnen hätten den Sprung in den Profifußball geschafft – darunter die Weltmeister Manuel Neuer, Mesut Özil, Benedikt Höwedes und Julian Draxler, sowie Joel Matip, Sebastian Boenisch, Alexander Baumjohann, Tim Hoogland, Michael Delura, Sead Kolasinac und die Nationalspielerin Alexandra Popp (VfL Wolfsburg). Die Schule feiert aber nicht nur auf dem Fußballfeld Erfolge, sondern auch an der Playstation: So darf sich die GSBF Europasieger im Playstation Schools Cup nennen.

      Manuel Neuer hat es im Sommer 2006 geschafft: Er baut sein Fachabitur – pünktlich zum Beginn seiner Karriere als Nummer eins der Schalker Profis.

       Der Weltmeister-Macher

      Im Verein spielt er zu diesem Zeitpunkt schon seit drei Jahren bei den von Norbert Elgert trainierten A-Junioren. Elgert ist ein waschechter Gelsenkirchener („Ich bin auf Kohle geboren und mit Emscherwasser getauft“) und bestritt als Spieler 58 Spiele in der 1. und 81 Spiele in der 2. Bundesliga. Auch bei Schalke stand er unter Vertrag: 1975-76 und 1978-82. Für die Königsblauen erzielte er in 77 Spielen 17 Tore.


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