Lost Island. Annika Kastner
Ich richte mich automatisch auf, starre ins Zimmer unseres Patienten. Ein weiteres Zischen erklingt, wonach mein väterlicher Kollege vor mir zu Boden geht. Seine Augen blicken mir leer entgegen, in seiner Stirn prangt ein Loch, aus dem Blut auf den Boden rinnt. Mein Herz bleibt gefühlt stehen, als ich den Krater in seinem Kopf sehe. Ich verstehe nicht, was ich da gerade erblicke oder was passiert ist. Warum …? Was …? Ich wische mir über das Gesicht, schaue meine Finger an. Sie sind rot – von seinem Blut, welches mir ins Gesicht gespritzt ist. Kälte und Angst breitet sich in Wellen in mir aus, als langsam durchsickert, dass Dr. Connor mit einer Kugel im Kopf vor mir liegt. Er ist tot, versuche ich das Bild, welches sich mir bietet, zu verstehen, wische mir abermals über die Wangen und reibe mein Gesicht. Blut, sein Blut. Mein Herz schlägt wieder, hämmert nun wild gegen meine Brust. Es sind erst wenige Sekunden vergangen, seit er vor mir zusammengesackt ist, für mich fühlt es sich jedoch wie Stunden an. Die Zeit scheint langsamer zu laufen. Ich schaue schleppend hoch, sehe nun den Polizisten, der den Zeugen bewachen sollte, an dessen Kopfende verharren, mit der Waffenmündung auf mich gerichtet. Mein Gehirn steht unter Schock, kann die Situation nicht richtig erfassen, aber weiß, hier läuft etwas falsch. Unsere Blicke treffen sich für eine Sekunde, seine Visage brennt sich in meinen Schädel ein. Das blutige Bild dessen, was er angerichtet hat, ebenfalls.
Dunkles Rot besudelt das ehemals weiße Laken, der Zeuge blickt mich aus ebenso leeren Augen an, wie der gutmütige Dr. Connor, dessen Lachen ich nie wieder hören werde und dessen Frau heute vergeblich auf ihn warten wird. Ich versuche, all das zu begreifen, doch mein Kopf spielt nicht mit – ich verliere dadurch wertvolle Sekunden. Der Polizist visiert mich an, lächelt leicht, was nicht zu dem Drumherum, welches sich mir offenbart, passt. Ich folge seinen Bewegungen mit den Augen. Dann setzt mein Verstand endlich wieder ein, Adrenalin durchflutet meinen Körper. Nein, ich werde hier nicht sterben. Niemals. Überlebenswille packt mich: Ich schleudere ihm mein Klemmbrett mit Schwung entgegen, denn es ist das Einzige, was ich gerade habe, um mich zu schützen. Er hebt den Arm, will es abwenden, und drückt gleichzeitig ab. Die Kugel streift meinen linken Oberarm. Ich schreie heiser auf, merke den Schmerz aber kaum, zu sehr bin ich mit Adrenalin vollgepumpt. Das Klemmbrett landet polternd auf dem Boden, woraufhin ich die Gunst der Stunde nutze, herumwirbele und meine Beine in die Hand nehme, denn ich muss hier raus – und zwar sofort. Wenn ich leben will, was ich definitiv möchte, sollte ich hier weg. So schnell es geht.
Meine Füße setzen sich wie von selbst in Bewegung, fliegen förmlich über den Boden, Schmerzen spüre ich noch immer keine. Mein Körper hat die Kontrolle übernommen, hilft mir, alles zu geben. Ich höre Schritte hinter mir, und ein leises Fluchen, doch ich bin schneller, nutze den Vorsprung, den ich mir erarbeitet habe. Schon immer bin ich eine gute Läuferin gewesen, eine sehr gute sogar. Auch wenn ich lange nicht mehr beim Training gewesen bin, meine Muskeln haben es nicht vergessen. Ich reiße einen Medikamentenwagen, der verlassen im Gang steht, um. Scheppernd verteilen sich die kleinen Dosen und Flaschen hinter mir auf dem Boden, wodurch ich ihm für einige Sekunden den Weg versperre und mir mehr Puffer verschaffe.
Eine weitere Kugel fliegt an mir vorbei. Ich schreie auf, als sie die Wand links neben mir trifft und sich dort in den Putz bohrt. Ich schlage einen Haken wie ein Hase, versuche dabei, ihm kein gutes Ziel zu sein. Der Mann hinter mir flucht nun laut und ungehalten, tritt obendrein den Medikamentenwagen aus dem Weg. Schlitternd bliebe ich an einer Tür zu einem der verlassenen Patientenzimmer stehen, renne hinein und werfe sie mit einem lauten Knall hinter mir zu. Erst mal aus dem Schussfeld sein, das ist gut.
»Oh Gott«, flüstere ich schluchzend, sperre mit zitternden Fingern die Tür ab. Jeder von uns hat einen Generalschlüssel, den ich zuvor nie benutzt habe, aber es gibt schließlich für alles ein erstes Mal. Konzentriere dich, herrsche ich mich selbst an und endlich dreht sich der verdammte Schlüssel im Schloss. Langsam entferne ich mich von der Tür, mein Brustkorb hebt und senkt sich hektisch, mein Herz hüpft mir fast aus der Brust.
Nur wenige Sekunden später trommelt es laut gegen die Tür, lässt sie in den Angeln erzittern, woraufhin ich einen weiteren Satz nach hinten mache. Die Klinke wird hoch und runter gedrückt, Tränen vernebeln mir die Sicht. Das kann nicht wahr sein. Das ist ein Albtraum! Bitte, flehe ich, lass mich aufwachen, doch leider ist es kein Traum. Es ist bittere Realität und ich sitze fest. Ich muss einen Ausweg finden. Meine Taschen sind leer, mein Handy steckt zum Aufladen im Schwesternzimmer an der Steckdose. Die Telefone im Zimmer sind abgestellt. »Bitte nicht«, flüstere ich erstickt, trete weiter nach hinten, bis mein Rücken die kalte Wand trifft. Ich sinke daran hinab, begebe mich in die Hocke, fahre mir mit beiden Händen über das Gesicht. Warum kommt denn niemand? Jemand wird meine Schreie gehört haben. Es muss mir doch jemand helfen. Dr. Conner, er …
»Mach diese beschissene Tür auf«, flucht mein Verfolger auf der anderen Seite. »Dir wird niemand glauben, Miststück. Niemand, hörst du? Wir machen dich fertig. Ich bin Polizist. Wir haben überall Männer. Ich werde dich töten oder ihnen weismachen, dass du mit uns unter einer Decke steckst. Hörst du? Dein Wort gegen meins. Du bist so oder so tot«, zischt er. Ich höre die Wut in seiner Stimme, glaube ihm jedes Wort. Sie alle sind gefährlich, er gehört zu der Gang. Sie haben die Polizei unterwandert und wer weiß, wen noch. Ich werde schneller tot sein, als ich aussagen kann – da hat er recht. Wenn nicht er, wird jemand anderes dafür sorgen, sollte ich hier rauskommen. Wenn jemand wie er hilft, wem soll ich dann trauen? Wem kann ich überhaupt trauen? Das erschüttert mich bis in die tiefsten Winkel meines Verstandes. Ich will keineswegs sterben.
Blut rauscht durch meine Ohren. Ich habe das Gefühl, nicht genügend Luft zu bekommen, zerre an meinem Kragen, um mir Platz zu erzwingen. Eine Panikattacke, ich kenne jedes Symptom, nur hilft mir dieses Wissen gerade nicht. Mein Versuch, ruhig und gleichmäßig zu atmen, gelingt mehr schlecht als recht. Du musst nachdenken, ermahne ich mich selbst, während ich mich hochstemme und mich, auf der Suche nach einem Ausweg, im Kreis drehe. Mein panischer Blick bleibt am Fenster hängen, als er sich abermals gegen die Tür wirft. Lange wird sie nicht mehr halten, das Holz splittert bereits.
Mit wild klopfendem Herzen und zittrigen Fingern öffne ich das Fenster, schaue hinab zu Boden. Alles läuft wie in einem Film ab – handeln oder kampflos aufgeben. Ich muss wählen. Erste Etage, das kann ich packen. Die Zimmer auf dieser Seite liegen mit den Fenstern zum Wald. Ich muss es nur bis dahin schaffen. Springen und laufen, dabei hoffen, dass mir beim Sturz nichts passiert. Das klingt nach einem akzeptablen Plan. Was habe ich auch für eine Alternative? Hierbleiben und resignieren? Lieber breche ich mir, bei dem Versuch mein Leben zu retten, den Hals, als es ihm so leicht zu machen.
Während die Tür hinter mir langsam nachgibt, steige ich aufs Fensterbrett, wobei meine Beine sich wie Pudding anfühlen.