Die Klasse. Hermann Ungar
waren nicht zu Hause. Josef Blau nahm die Mahlzeit im Wohnzimmer. Die siebzehnjährige Magd, Martha, klein und flachbrüstig, die Tochter eines Nachbarn, trug die Speisen auf. An das Wohnzimmer stieß von der einen Seite die Küche. Hinter dem Schlafzimmer lag das Zimmer der Mutter, ein einfenstriger schmaler Raum mit besonderem Ausgang in das Treppenhaus. Das Wohnzimmer war zweifenstrig. Vor einem Fenster stand Selmas Nähtisch, an dem sie vor dem Weggehen gearbeitet hatte. An den Wänden hingen Bilder, ein Farbendruck, darstellend eine große Versammlung von Männern, einen Reichstag oder ein Konzil, und einige Familienphotographien, ein Jugendbildnis von Selmas Mutter und ein Bild ihres verstorbenen Vaters, eines stattlichen Mannes mit struppigem Schnauzbart. Die Gardinen waren weiß, die Wände mit einem bunten, auf den Kalk gemalten Muster geschmückt. Trotzdem schien das Zimmer nicht hell. Der Ruß des Bahnhofs drang durch die Fenster, er hatte alles mit einer feinen Schicht bedeckt, die den Farben den Glanz genommen, sie matt, grau und ineinander verschwimmend gemacht hatte. Es war, als seien die Farben ohne Leben, unter dieser Schicht gestorben. Sie erwachten nicht, auch wenn die Rußschicht von den Möbeln, Bildern und Wänden unter dem Staubtuch gewichen war. Die Fenster lagen nach Norden. Das Licht brach sich erst in den Hallen, Gleisen, Schuppen und Kohlenlagern des Bahnhofs, bevor es in die Wohnung drang.
Nachdem Josef Blau gegessen hatte, breitete er die Hefte der Knaben auf dem Tisch aus. Er holte rote Tinte und Federhalter von einem Holzregal zwischen den beiden Fenstern und setzte sich. Er putzte die Feder sorgfältig an einem kleinen hierfür bestimmten Tuchlappen und schlug das Heft des Schülers Blum auf, des ersten in der alphabetischen Ordnung.
In der Wohnung war Ruhe. Josef Blau hörte nichts, als von Zeit zu Zeit ein Klirren, wenn Martha in der Küche einen Teller auf den andern setzte, und den gleichmäßig verworrenen Lärm des Hauses. Er wollte nicht an Selma denken, die auf ihn zutrat, auf ihren Leib weisend, der täglich schwerer wurde, ihm ein Wort zu entreißen, das er nicht sprechen wollte. Sie begriff nicht, daß es gut war, nichts zu sprechen als das Vorgesehene, da man nicht wußte, ob die Worte nicht zu Flüchen wurden. Er wollte die Zeit nützen, ehe Selma mit der Mutter zurück war. Er wollte ruhig die Arbeiten der Schüler durchgehen, Heft um Heft, Fehler um Fehler, alles andere ausschalten, nur an das Vorgesehene, von der Pflicht Aufgetragene denken, an die lateinischen Sätze und sonst an nichts. Er saß über den Heften und zog rote Striche unter den von den Schülern geschriebenen Text. Es waren sechs einfache Sätze. Aber der Unaufmerksame mußte sich in den Fallen verstricken, die der Lehrer gelegt hatte, eine Falle in jeden Satz. Verwundert bemerkte Josef Blau, daß die Knaben fast ausnahmslos den Fallen entgangen waren. Sein Erstaunen steigerte sich, als er bemerkte, daß eine bestimmte Falle im dritten der Sätze allen in gleicher Art zum Verderben geworden war. Er ordnete die Hefte nach der Reihenfolge der Sitzordnung. Er erschrak. Die Übereinstimmung war unzweifelhaft. Hatten die Knaben, unter seinem Blick, der nicht von ihnen wich, einen Weg gefunden, sich gegen ihn zu verschwören, und diesen Weg betreten? Er begriff, daß sie ihn in ihrem Innern verhöhnten. Er hatte sich schwächer gezeigt als ihre List. Sie saßen da, nur äußerlich unter ihn gebeugt, äußerlich ihm unterworfen. Ihre List war nicht erdacht, ihn zufriedenzustellen durch die fehlerlose Arbeit, sei es auch mit Hilfe eines Betrugs. Sie war erdacht, ihn, seine Stärke, seinen Blick zu prüfen. Er hatte die Prüfung nicht bestanden. Ihr Mut mußte nun wachsen. Es war zweifelhaft, ob Josef Blau sich noch retten, die drohende Meuterei erstikken konnte, wenn er das Komplott morgen zerriß und durch neue wohlerwogene Maßnahmen die Knaben wieder unter sich zu zwingen suchte.
Es war eine unterirdische Verschwörung, eine Verschwörung unter den Bänken, eine Verschwörung der nackten Waden bei geduckten, gehorsamen Oberkörpern. Es gab keine andere Möglichkeit als diese: die Knaben brachten die Beine aneinander, vorwärts, seitwärts. In den kurzen Strümpfen und in den Schuhschäften wurden die Mitteilungen zugesteckt und empfangen. Die Starre und Unbeweglichkeit war nur über den Bänken, unter der Oberfläche war Bewegung und Anarchie. Unter den Bänken hatte sein Blick keine Gewalt. Während die Köpfe und Rümpfe gehorchten, hatten die nackten Beine sich empört. Es war der Anfang. Die Zucht löste sich von unten, während er da war, sie fest begründet glaubte, glaubte, daß kein Zeichen der Bewegung ihm entging. Sie fürchteten ihn nicht, wenn er ihnen gegenüberstand. Was geschah, wenn sie seinem Blick entzogen waren?
Josef Blau erhob sich. Er trat ans Fenster. Das Gewirr der Schienen, das sich zum Bahnhof verengte, breitete sich vor ihm aus. Er hatte auf dem Heimweg keinen der Schüler gesehen. Sie verfolgten seinen Schritt nicht. Aber vielleicht umlauerten sie das Haus. Vielleicht lauerten sie auf Selma, hatten Selma schon überfallen, ihr zugeflüstert, daß er einen lächerlichen Schimpfnamen habe, daß er die Schüler fürchte, daß die Schüler aber ihn vernichten würden ohne Erbarmen, wenn die Zeit so weit sei. Sie hatten ihr vielleicht Bilder in die Hand gedrückt, auf denen er, Josef Blau, verzerrt, ein armseliges behaartes Gerüst von Knochen dargestellt war, vielleicht mit ihr, die von ihm unförmig war. Gewiß fühlten sie, daß er mit seinem Leben an ihr hing. Die Knaben waren grausam und lüstern. Sie machten vor Selma nicht Halt. Die Lüsternheit der Knaben, gestachelt vom Anblick der Schwangerschaft, wühlte in Vorstellungen von Selmas Gemeinschaft mit ihm, deren Folgen an ihr sichtbar waren. Karpel, der in den Lüsten erfahren war, flüsterte Selma vielleicht zu, daß andere Männer stärker seien in ihrer Männlichkeit, und daß sie, Selma, schön sei, prächtigen Leibes und verdorren müsse neben ihm.
Er war der Sohn eines Gerichtsdieners aus einer kleinen Stadt. Er war mager, gelb und armselig. Seine Haut war rauh, wie mit Grießkörnern übersät. Sein hüpfender Adamsapfel trat aus dem dürren Hals wie ein zweites Kinn. Er hatte seinen Körper nie bei Licht vor ihr enthüllt. Ihre Haut war weiß und glatt. Der Körper war rund von festem Fleisch. Was wollte er von ihr? Er reichte ihr bis zur Stirn, knapp unter den Ansatz des hellen Haares, das nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem tiefen Knoten gebunden war. Sie drehte beim Gehen den Körper in den breiten Hüften wie Frauen, die Krüge auf dem Haupt tragen. Zwischen roten, stets halb geöffneten Lippen glänzten ihre weißen feuchten Zähne. Er wußte, daß die Männer sich nach ihr umsahen, wenn sie an ihnen vorbeiging. Es waren lächelnde Männer, die das Fleisch steinhart schwellen machen konnten, wenn sie die Muskeln spannten. Es waren Männer, die den Frauen zuwinkten und zulächelten. Vielleicht verglich Selma ihn schon mit einem, der größer, stärker, männlicher war als er. Hatte sie schon begriffen, daß er armselig war an Körper und zu geringen Herzens, als daß er sich erheben und die Kläglichkeit seines Körpers vergessen machen könnte? Er wußte, daß er sich wehren mußte, wenn er Selma nicht verlieren wollte. Wenn der andere, der sie ihm entreißen würde, kommen mußte, Josef Blau wollte es durch Klugheit und Planmäßigkeit hinausschieben. Er mußte sein Auge auf ihr halten und nichts durfte ihm entgehen: keine Bewegung ihres Gesichts, kein Blick, er mußte in die tiefste unbewußte Bedeutung jedes Wortes, das sie sprach, jedes Seufzers, den sie tat, eindringen, wenn er das Zeichen, daß sie ihm entglitt, rechtzeitig erkennen wollte. Er wollte Modlizki aufsuchen, daß dieser in die Pläne der Knaben eindringe und sie ihm verrate. Die Gefahr, die von den Knaben drohte, war die gegenwärtigste und unmittelbarste. Die Knaben trieb der Haß gegen ihn. Der Haß würde sie alle Hindernisse überwinden lassen. Wenn sie sich Selma noch nicht genähert hatten, mußte die Annäherung verhindert werden, so gut es ging. Er wollte Selmas Ausgänge auf das Notwendigste beschränken. Niemand sollte sie sehen, die Knaben nicht und kein Mann sonst. Wenn sich die Knaben ihres heutigen Sieges bewußt wurden, würden sie die letzte Scheu verlieren. Das Bewußtsein ihrer Überlegenheit mußte ihre Kühnheit stacheln. Sie konnten versuchen, in die Wohnung einzudringen, wenn Josef Blau abwesend war. Die Mutter war kein Schutz, sie war schwerhörig. Sie hörte nur, was ihr in die Ohren geschrien wurde. Die Knaben konnten es wissen. Sie konnten Selma auf einem Spaziergang mit der Mutter beobachtet und gehört haben, wie Selma die Stimme anschwellen lassen mußte, sich der Mutter verständlich zu machen. Alles hing daran, die Knaben nicht zum Bewußtsein ihres Sieges gelangen zu lassen. Alles hing davon ab, daß Josef Blau imstande war, morgen, durch die Art, wie er das Komplott aufdeckte und wie er es bestrafte, den Sieg in eine Niederlage zu verwandeln. Wenn überhaupt er seinen Willen noch durchsetzen konnte, wenn nicht unter dem Eindruck des Sieges die Knaben, einer vom andern gestachelt, die geheime Empörung in offene verwandelten, und wenn nicht bei seinem Eintritt schon ihm Karpels, Laubs und der anderen lachendes Gesicht entgegensehen würde. Wenn er sie mit seinem Blick noch halten konnte, wenn sie noch nicht sich offen empörten, war sein Weg vorgezeichnet. Die Entdeckung