Die Klasse. Hermann Ungar
dem man verfallen war, man hätte nichts tun und sprechen können als das Bestimmte und hätte es leichten Herzens getan. Aber es lag kein Schritt und kein Wort, unausweichlich und vorbereitet, für einen da. Es war nicht so, daß man nur diesen Schritt tun, nur dieses Wort sprechen konnte, und mit jedem Wort, mit jedem Schritt das Schicksal erfüllte, das diesen folgte. Man wählte den Schritt und das Wort aus vielen. Man übertrat ein hartes, unbekanntes Gesetz, das über einem war, und taumelte in sein Schicksal. Man lud Schuld auf sich, die man nie begriff oder zu spät. Eine grausame Gewalt war da. Sie hütete das Gesetz und richtete mit Strenge. Gott stand da, der Hüter des Gesetzes, wie der Lehrer in der Schule, doch umweht von erdrückendem Geheimnis. Er zeichnete ein, welchen Schritt man gewählt hatte, und er sprach das Urteil. Es wurde vollstreckt an dem Schuldigen und an denen, die er in sein Schicksal verstrickt hatte.
Daß Selma nicht begriff, ohne daß er es aussprach, daß es keinen Plan geben konnte als diesen, da jedes Wort, jeder Schritt in sich Gewalt hatte, die sich unbekannt wann und wie lösen konnte zum Guten wie Bösen: den Plan, nichts zuzulassen, als das in der Ordnung Liegende, Notwendige, Regelmäßige. Das Unerwartete, Unbeabsichtigte, so weit es ging auszuschalten, in der Schule wie zu Hause. Wenn man schwieg, nur das Vorhergesehene, das getan werden mußte, tat, beschränkte man die Gefahr. Daß man hätte den Atem anhalten können, den Lauf der Dinge nicht durch seinen Hauch zu verwirren! Schuldlos blieb nur das Atemlose. Man sollte nicht tun, gleich den atemlosen Bänken in der Klasse, den Bäumen, die die Straßen einsäumten. Aber man atmete, tat, sprach, so sehr man es durch das System beschränkte, und die mit einem verknüpft waren, taten und sprachen und es konnte sein, daß die Taten und Worte sie alle in den Strudel des Schicksals zogen. Nicht daß man sich selbst sein Schicksal bereitete, war so grauenvoll wie das Bewußtsein, das Schicksal anderer mit zu verschulden wie das Schicksal des Ungeborenen, das Selma nicht abließ mit ihren Worten, Taten und Gedanken zu berufen.
Es war dunkel geworden. Die Mutter trat ein mit einer brennenden Lampe. Josef Blau ließ die beiden Fenstervorhänge herab. Es lag kein anderes Haus gegenüber, aus dessen Fenstern man hätte in die Wohnung blicken können. Gleichwohl beunruhigten ihn die nicht verhängten Fenster bei beleuchtetem Zimmer, ihm war, als sei die Abgeschlossenheit, die Begrenztheit des Zimmers aufgehoben, als sei durch das ausströmende Licht die Wand gegen die Straße wie die vierte Wand eines Raumes auf dem Theater geöffnet gegen eine unsichtbare Menge. Die Mutter hatte das Mieder abgelegt. Sie trug einen dünnen hellroten Schlafrock mit weiten, bis an die Schultern zurückgleitenden Ärmeln. Wenn sie den Arm hob, wurden die Achselhöhlen sichtbar. Die Arme waren fleischig, die Haut gelb. Um die Hüften war der Schlafrock von einem Gürtel zusammengehalten, über den das Fleisch quoll. Sie legte das Tischtuch auf. Selma kam mit dem Abendbrot. Martha war schon gegangen. Sie schlief bei ihren Eltern, die im selben Haus wohnten.
Selma hatte vom Weinen gerötete Augen. Sie nahm kaum von dem aufgetragenen Käse.
Die Mutter aß schmatzend. Nach dem Käse nahm sie einen Apfel. Er krachte und knirschte unter ihren Zähnen. Josef Blau wartete gesenkten Blickes, daß das Geräusch verstumme. Er wollte Selma bitten, daß sie keine Äpfel mehr kaufe. Er konnte das Geräusch nicht ertragen.
Es trieb ihn, aufzustehen und aus dem Zimmer zu stürzen, er mußte alle Kraft anwenden, unbeweglich zu bleiben, auch nicht einen Finger zu rühren, als könnte die geringste Bewegung die anderen unaufhaltsam nach sich reißen.
Als die Mutter gegessen hatte, sagte er:
»Du hast geweint, Selma.«
Selma gab keine Antwort. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie barg den Kopf in den Händen und schluchzte. »Sie hat Angst vor den Wehen«, rief die Mutter so schallend, daß Josef Blau fürchtete, man habe es in allen Wohnungen des Hauses gehört. »Es wird gut gehen. Sie ist stark und gesund.«
Sie klopfte mit dem Fingerknöchel der geballten Linken gegen den Tisch. Sie ahnte die Gefahren, die ihre Worte beschworen, und hoffte, sie so mühelos zu bannen.
»Wenn du wüßtest, wie sie dich liebt. Der Junge soll nicht blond sein wie sie, sondern aussehen, wie du! Schön bist du ja nicht. Das glaubst du doch selbst nicht.«
Selma nickte mit dem Kopf. Josef Blau verstand sie. Sie fühlte, daß er an ihr zweifelte; sie wollte, es sollte häßlich sein, ihm ähnlich, mit rotgeränderten Augen, abstehenden Ohren, platter Nase, daß der Vater es erkenne. Die Mutter nahm einen zweiten Apfel. Josef Blau erhob sich. Er entfernte sich vom Tisch gegen das Fenster. Der dunkle Lampenschirm schnitt einen hellen Kreis in den Fußboden. Die Helligkeit drang nicht bis zu Josef Blau. Die Mutter saß mit dem Rücken gegen ihn. Sie sah nicht, daß er sprach, sie würde das Gespräch nicht unterbrechen.
»Du weinst, weil du mich nicht verstehst, Selma«, sagte er leise. »Man soll nicht sprechen. Man weiß nicht, was man beruft. Man soll warten, Selma, verstehst du mich nicht?« »Ich kann nicht warten«, sagte sie und hob den Kopf. »Ich muß davon sprechen. Wenn ich schweige, fürchte ich, daß ich darunter sterbe.«
»Schweig, schweig, Selma!« sagte er.
»Mit wem soll ich denn sprechen, wenn nicht mit dir?« sagte sie. Ihre großen Augen sahen ihn an. »Ich habe keinen anderen außer dir.«
Seine Hand griff rückwärts nach dem Fensterbrett. Der andere war schon in ihrem Gehirn. Sie wußte schon, daß sie einen anderen nicht hatte. Sie war vorbereitet, den anderen zu empfangen, der ihr begegnen würde, vielleicht ihr schon begegnet war.
»Was ist mit dem anderen?« fragte er.
»Ich habe niemand außer dir.«
»Du liebst mich nicht mehr.«
»Wen sollte ich lieben?«
»Du sagst nicht, daß du mich liebst. Nun ist es zu spät, es zu sagen.«
»Warum glaubst du mir nicht«, sagte sie und trat auf ihn zu. Die Mutter wandte sich um. Dann neigte sie sich über die Zeitung, die sie auf der Tischplatte vor sich ausgebreitet hatte.
»Warum glaubst du mir nicht? Ach, daß ich dir beweisen könnte. Aber ich kann es dir nicht beweisen.«
Josef Blau richtete sich auf. Sie stand einen Schritt von ihm. Ihr Atem streifte seine Stirn. Sein Mund hatte sich verzogen. Er sah sie an, unbeweglich, drohend, aus weit aufgerissenen Augen.
»Doch«, sagte er, »doch!«
Sie senkte den Kopf, als warte sie auf den Spruch eines Richters.
Seine Hand bewegte sich mit vorgestrecktem Zeigefinger stockend gegen ihren Kopf. Seine Lippen formten schon das Wort, das er sprechen wollte. Er sprach es nicht, die Stimme der Mutter dröhnte vom Tisch her.
»Der alte Skopak ist gestorben!« rief sie.
Josef Blaus erhobene Hand fiel herab. Die Mutter stand auf. Der Stuhl fiel krachend hinter ihr zu Boden. Sie beugte sich über die Lampe, um den Docht zurückzuschrauben. »Wie soll ich es beweisen?« fragte Selma.
Blau hatte den Rücken an die Wand gelehnt. Er sah Selma nicht mehr an. Sein Kopf war gegen die Brust geneigt, die Arme hingen herab. Nun reichte er ihr kaum an die Schultern.
»Trage lange Kleider«, sagte er tonlos, indes seine Linke abwinkte, wegschob. »Bis an die Erde auf der Straße, das genügt.«
»Man wird über mich lachen.«
»Gut, gut. Trage lange Kleider.«
Selma ergriff seine Hand. Ehe er es verhindern konnte, drückte sie sie gegen ihren Leib.
»Hörst du?« fragte sie.
»Siebzig Jahre ist er alt geworden«, rief die Mutter.
Er hatte Selma die Hand entwunden.
»Geh«, sagte er dumpf. »Wenn du mich liebst, so geh!«
Er betrat das Schlafzimmer gegen Mitternacht. Er hatte die Vorbereitung für die morgige Aufgabe vollendet und die sorgfältig formulierten Sätze in ein Heft mit biegsamen schwarzen Deckeln eingetragen. Sein Bett stand neben dem Selmas. Selma schlief. Josef Blau entkleidete sich leise, um sie nicht zu wecken.
Es