Jan schöpft Verdacht. Carlo Andersen
können. Der kleine Jesper wurde sehr still, und beinahe kamen ihm die Tränen. Er dachte daran, daß es nur noch wenige Monate dauerte, bis er alle seine guten Freunde verlassen mußte. Mehrere seiner Kameraden wollten studieren, auch Erling und Jan, die Ingenieure werden wollten. Er selbst aber ... Mehr als eine bescheidene Bürostelle würde er kaum bekommen können. Seine Eltern hatten einmal gesagt: «Ja, Jesper, so geht es einem, wenn man in der Schule nicht fleißig ist.» Aber das war eigentlich ungerecht, denn Jesper gab sich die größte Mühe. Er hatte eben keine Begabung, jedenfalls bei weitem nicht in dem Maße wie Erling, der Klassenerste.
Jan wußte sogleich, was seinen kleinen Freund bewegte; deshalb schlug er ein anderes Thema an. Das gerade ausgetragene Wettsegeln eignete sich vortrefflich dafür, und als man ausführlich darüber sprach, hatte Jesper seinen Kummer bald vergessen. Schließlich hatte er doch auch dazu beigetragen, daß ihr Segelboot den ersten Preis bekam.
Erling seufzte vor Wohlbehagen: «Ach, liebe Freunde, geht es uns nicht prächtig? Gibt es etwas Schöneres als einen friedlichen Herbstabend? Hier sitzen wir um einen reichgedeckten Tisch ... alle sind froh und zufrieden ... und es besteht keine Gefahr, daß Jan uns gleich wieder in eine total verrückte Kriminalgeschichte hineinzerrt. Mehr kann man schließlich nicht verlangen.»
«Doch», sagte Jesper, «die Kriminalgeschichte.»
Erling zuckte zusammen, und er warf seinem kleinen Freund einen vorwurfsvollen Blick zu. «Hör mal, Krümel, wenn du schon den Mund aufmachst, dann solltest du dich so ausdrücken, wie es deine beschränkte Hirnmasse erlaubt. Jan und ich haben dich in den vergangenen Jahren bei manchen ernsten Unternehmungen dabei gehabt, aber mir scheint...»
«Halt den Mund, Dicker!» befahl Jan lachend. «Wir können dem Krümel immerhin dafür danken, daß Clausen und seine Bande seinerzeit so schnell unschädlich gemacht wurden. Hätten wir anderen das allein schaffen müssen, wären wir schön dagestanden.»b
Der kleine Jesper wuchs zusehends, denn es machte ihn besonders stolz, wenn Jan ihn lobte.
Erling nickte ihm gnädig zu. «Gewiß, ganz richtig, Ehre, wem Ehre gebührt. Wenn du so bleibst, lieber Freund, wirst du nie ein böses Wort von Onkel Erling hören. Ich hoffe jedoch sehr, daß du keine Gelegenheit mehr bekommen wirst, Mut und Schläue an den Tag zu legen...»
«Warum nicht?»
«Ganz einfach, weil das bedeuten würde, daß wir erneut in eine dieser gefährlichen und nervenaufreibenden Verbrecher-Geschichten hineingezogen würden. Und wie ihr wißt, liegt das meinem friedlichen Gemüt nicht gerade. Aber wir wollen gar nicht darüber sprechen, um das Unheil nicht herauszufordern. Ich stifte als Abschluß des guten Mahles einen leckeren Butterkuchen, wenn Jesper mir die Mühe abnimmt, ihn zu besorgen. Der Weg zum nächsten Bäcker ist ja nicht weit.»
Die anderen lachten, denn sie kannten ihren faulen Freund ja zur Genüge. Er machte keine Bewegung zuviel, wenn er es irgendwie vermeiden konnte. Anderseits ließ er sie aber auch nie im Stich, wenn wirklich Not am Mann war.
Jesper machte sich sogleich auf, um den Butterkuchen zu kaufen. Carl räumte in der Kabine auf, während Erling und Jan sich an Deck unterhielten.
Erling sagte: «So gefällt es mir, mein Freund. Kannst du dir etwas Besseres vorstellen, als so einen milden Herbstabend, wo man sich von seinen Leistungen ausruhen kann ... frei von allen trüben Gedanken an böse Verbrecher...?»
«Na ja, hm...»
Erling seufzte ergeben. «Gewiß, das hätte ich mir denken können. Wie ich schon sagte: dir geht es immer am besten, wenn du etwas um die Ohren hast und du mitten im Brennpunkt der Ereignisse stehst...»
Jan lächelte. «Mir geht es jetzt wahrhaftig ausgezeichnet.»
«Wenn es nur dabei bliebe, lieber Freund! In den letzten Jahren sind wir dir alle durch dick und dünn gefolgt, und das war zeitweise schwer genug ... Aber mir scheint, in den letzten Wochen hatten wir des Guten doch ein wenig zuviel.»
«Du meinst wohl wieder den Meisterspion?» Jan lachte. «Nun laß uns aber nicht mehr darüber sprechen; wir wollen lieber den gesegneten Frieden und die Ruhe, die über dem Hafen liegt, genießen...»
In diesem Augenblick tönte ein lauter gellender Schrei durch die Dunkelheit: «Nein, nein! Laß mich los!»
Zweites kapitel
«Was war das?» fragte Erling atemlos.
Und Jan erklärte trocken: «Das war eine Frau, die Hilfe braucht. Da ist sie schon!»
Er wies auf eine junge Frau, die rasch über die Mole rannte, unmittelbar gefolgt von einem Mann in sportlicher Segelkleidung, der mit den Armen gestikulierte und ihr etwas zurief.
Jan sprang unwillkürlich auf, aber Erling war auch nicht langsam; er packte Jan am Hosenboden und hielt ihn fest.
«Langsam, mein Freund! Immer mit der Ruhe.»
«Ja, aber...»
«Nein, unter gar keinen Umständen», sagte Erling und schnappte nach Luft, ohne seinen Griff zu lockern. «Eben war noch alles so geruhsam und friedlich, und jetzt...»
«Laß los, du dicker Esel!»
«Nein.»
Die Frau und ihr Verfolger waren schon verschwunden, durch die Anlagen hinaus auf den Ongardsvej. Die lauten Rufe des Mannes hörte man immer noch, aber die Worte waren nicht zu verstehen.
Ergeben ließ Jan sich auf die Ruderbank fallen. «Ach, Dicker, du bist aber wirklich ein Dussel erster Güte. Warum, zum Teufel, hast du mich festgehalten?»
«Im Hinblick auf unser gemeinsames Wohl, mein Freund», antwortete Erling ruhig. «Nun liegt endlich eine ruhige, friedliche Zeit vor uns. Wenn ich dich aber hinter diesem sonderbaren Paar hätte herlaufen lassen, würden wir vermutlich bald wieder in irgendeine nervenaufreibende Sache verwickelt sein, die uns gar nichts angeht.»
«Na, und wenn schon?»
Erling seufzte. «Lieber Jan, ich will dir nur das eine sagen: meine Nerven vertragen nicht mehr viel...»
«Quatsch!»
«Schon gut. Das ist deine Auffassung, aber ich halte mich an meine.»
Gerade kam Jesper vom Bäcker zurück. Er stellte sein Rad ab und war so eifrig bestrebt, rasch an Bord zu kommen, daß die Tüte mit dem Butterkuchen klatschend auf das Deck fiel.
«Krümel, du kleines Ungeheuer», rief Erling vorwurfsvoll. «Wie behandelst du unseren herrlichen Butterkuchen?»
«Na, ihr solltet bloß ...»
«Sei so gut und heb ihn erst auf.»
Jesper gehorchte, begann aber sogleich wieder zu erzählen: «Donnerwetter, das war vielleicht spannend, was mir da eben auf dem Strandvej passiert ist. Eine junge Frau kam in voller Fahrt angerannt, während ein Mann ihr nachlief. Er rief ihr etwas zu und wollte sie einholen, aber die konnte ihre Beine gebrauchen, das muß man ihr lassen. Sie stürzte sich mitten in den Verkehr hinein, so daß alle Autos bremsen mußten, und als von Norden her ein Taxi mit grünem Licht auftauchte, hielt sie es an und sprang hinein, bevor der Mann sie erwischte. Er blieb auf dem Gehsteig stehen und drohte ihr mit geballter Faust...»
Erling wehrte mit beiden Händen ab. «Nun bremse schon deine Beredsamkeit, Krümel. Den Anfang des Dramas, das du so spannend findest, haben wir mit erlebt. Sieh lieber zu, ob man den Butterkuchen noch retten kann, wenn er nicht schon ganz hin ist...»
«Du hast dir die Nummer des Taxis wohl nicht gemerkt?» fragte Jan.
Jesper schüttelte den Kopf. «Nein, die Nummer nicht, aber die Quersumme.»
«Die Quersumme?»
«Ja. Du weißt doch, das ist meine schwache Seite. Ich kann keine Nummernschilder sehen, ohne gleich die Quersumme zu errechnen.»
«Und wie war die Quersumme?»
«Siebzehn.»