Mild ist die färöische Sommernacht - Ein Färöer-Krimi. Jógvan Isaksen
nicht.
Und dann der Brief an mich. Es war nicht sicher, daß es etwas bedeutete, aber trotz des leichten Tons kam es mir so vor, als hätte sie einen ernsthaften Grund, mit mir zu reden. Denn wenn wir miteinander telefonierten, war fast immer ich es, der anrief. Wenn sie also wochenlang versucht hatte, mich anzurufen, mußte das etwas bedeuten.
Aus Kopenhagen hatte ich die Polizeiwache in Tórshavn angerufen und mit einem alten Schulfreund gesprochen, der jetzt Kriminalbeamter war. Er erzählte mir, daß der Vorfall auf Støðlafjall als ein selbstverschuldeter Unfall registriert worden war. Auf meine Frage, ob es nicht irgendetwas Ungewöhnliches an diesem Unfall gab, wollte er zunächst nichts sagen, aber dann kam es:
“Es gibt ein merkwürdiges Detail bei Sonja Pætursdóttirs Tod. Sie ist zu weit gefallen, bevor der Körper auf den Felsen aufgeprallt ist. Als hätte sie Anlauf genommen.”
3
Nebel und Sprühregen. Ich stand unter der Dachtraufe des Flughafengebäudes und rauchte eine Zigarette. Da das Flugzeug verspätet war, gab es weder Bus- noch Fähranschluß, und die Reisenden mußten warten. Ich beneidete diejenigen, die ihr Auto am Flughafen stehen hatten und deshalb sofort losfahren konnten. Hugo war einer von ihnen, aber er sah auf dem Weg zu seinem Auto weder nach rechts noch nach links. Als er losfuhr, sah ich, daß sein Auto ein funkelnagelneuer Nissan Bluebird war. Woher um alles in der Welt hatte Hugo Geld für so ein Auto? Er war mit einer Dänin verheiratet gewesen und hatte zwei Kinder, war aber vor kurzen geschieden worden. Das alles konnte nicht gratis sein. Danach war er wieder auf die Färöer gezogen und hatte Arbeit bei einem der wohlhabenderen Ingenieure bekommen, einem derjenigen, die für den Staat bauten. Vielleicht ein Firmenauto?
Nach langem Warten kam endlich der Bus, aber bei Oyrargjógv war die Fähre noch nicht da. Ein großer Teil der Reisenden stieg aus und ging auf dem Anleger herum, Nieselregen oder nicht, ich war unter ihnen. Einige standen zusammen und tranken aus einer Whiskyflasche, von ihnen war lautes Gelächter zu hören. Ich kannte einige flüchtig - die gleichen “Kumpane”, die ich in Kastrup gemieden hatte. Der Tag war sowieso gelaufen, also mischte ich mich mit einer Kognakflasche in der Jackentasche unter die Gruppe.
Als ich abends die Wohnung in der Jóannes Paturssonargøta erreichte, die ich für den Sommer gemietet hatte, war ich leicht beschwipst, und es konnte keine Rede davon sein, jemanden zu besuchen. Zumindest nicht die nächsten Stunden. Ich schmiß die Jacke hin, trat die Schuhe von den Füßen, warf mich aufs Bett und schlief ein.
Um halb neun wachte ich auf. Der Geschmack in meinem Mund war nicht gerade angenehm, er erinnerte an Sägemehl, und ich fühlte mich benebelt. Aber dagegen gab es etwas. Als ich aus der Dusche herauskam und mir die Zähne geputzt hatte, schien die Welt viel freundlicher auszusehen, obwohl die Wohnung im Keller eines Reihenhauses lag und deshalb ziemlich dunkel war. Es roch auch eine Spur muffig, besonders, wenn man die Nase in den Kleiderschrank steckte.
Die Wohnung gehörte einem Freund, der zur See fuhr, aber er war fast nie auf den Färöern. Zwischendurch kam er mal, um seine Familie zu besuchen und im Bierclub vorbeizuschauen, ansonsten verbrachte er seine freien Stunden in Kopenhagen. Ich konnte deshalb seine Wohnung benutzen, so oft ich wollte, und das gefiel mir gut. Ich kam mehrmals im Jahr auf die Färöer und hatte keine Familie in Tórshavn. Nicht einmal einen Vetter oder eine Kusine. Ich hatte keine Eltern mehr, und Geschwister hatte ich auch nicht.
Abgesehen davon, daß die Wohnung dunkel, die muffige Luft schwer und nur das Notwendigste in ihr vorhanden war - darunter natürlich Fernseher und Video - war sie absolut brauchbar. Sie lag zentral, nur einen kurzen Fußweg zu allem in Tórshavn, das Ehepaar, das darüber wohnte, war alt, taub und bekam kaum noch etwas mit, und außerdem bezahlte ich nichts dafür. Ich höre noch das Gelächter meines Freundes, als ich etwas davon murmelte, Miete zahlen zu wollen: “Rutsch mir den Buckel runter! Alle, die so dumm sind und schreiben, haben doch keinen roten Heller. Hau’ bloß ab mit deinen paar Kröten!” Er goß erneut Chivas Regal in unsere Gläser und grinste mich an.
4
Vor dem Bierclub Ølankret warteten immer Leute, die versuchten, die Mitglieder zu überreden, sie mit hineinzunehmen. Man konnte nur als Mitglied oder Gast eines Mitglieds hineingelangen. Es war verboten, Leute von der Treppe mitzunehmen, aber das wurde nicht immer beachtet.
Als sie mich allein kommen sahen, kam es fast zu einem Tumult. “Nimm mich doch mit rein!” - “Ach, Schätzchen! Können wir beide nicht mit dir rein?” - “Ei, Alter! Bist du allein?”
Ich zwängte mich durch die Menge und sagte, daß sich da nichts machen lasse. Ich würde später Gäste bekommen. Ich war schon zu lange Mitglied, um mich darauf einzulassen, irgendwelche Leute mit hineinzunehmen.
“Arschloch!” dröhnte es mir noch in den Ohren, als ich die Tür zur Bar öffnete. Es war nach Mitternacht und deshalb überfüllt. Die Stimmung war laut und heftig, und mit der Musik aus dem Tanzraum oben ergab sich ein kakophonisches Erlebnis. Der Rauch hing so dicht unter der Decke, daß ich an Opiumhöhlen denken mußte.
Ich grüßte nach rechts und links, ich kannte eine ganze Reihe Gesichter und wurde immer wieder gefragt, wann ich gekommen war und wann ich wieder abreisen würde. Als ich es 10, 20mal erklärt hatte, nahm die Welle der Fragen ab, und ich kam an die Bar.
Mit einem doppelten Gin Tonic in der einen Hand und einer Zigarette in der anderen setzte ich mich an einen Tisch, bereit, mich zu amüsieren und gutzuheißen, was sich mir so bot.
Kurz vor der Sperrzeit, als das summende Geräusch der Redenden seinen Höhepunkt erreichte, sah ich Hugo. Er stand mitten im Raum, vornübergebeugt und die Augen geschlossen. Die vielen Menschen, die zwischen dem ersten Stock und der Bar hinund herwogten, nahmen ihn wie ein Strom in verschiedene Richtungen mit. Er selbst war nur halb anwesend und ließ sich mitreißen.
Plötzlich öffnete er die Augen und sah mich direkt an.
“Hannis”, brüllte er. “Alter Freund, willst du einen Schluck?” Er zog eine halbe Flasche hervor. Ich ging zu ihm hinüber und konnte ihn dazu bringen, die Flasche wieder in die Tasche zu stecken. Ansonsten hätte es nur damit geendet, daß wir beide rausgeschmissen worden wären.
Hugo hing schwer und willenlos an mir.
“Ich habe dich heute wohl gesehen, aber ich konnte nicht mit dir reden.”
Seine Zunge verhaspelte sich, und er sprach so undeutlich, daß ich kaum verstehen konnte, was er in all dem Lärm sagte.
“Ich weiß nämlich was, was du nicht weißt”, er versuchte, gerissen auszusehen, aber das einzige, was dabei herauskam, waren ein paar unschöne Grimassen.
“Und was weißt du?”, fragte ich.
“Das sage ich nicht”, murmelte Hugo.
Ich versuchte mich von ihm zu befreien, aber er krallte sich fest und drückte sein Gesicht dicht an meins. Unsere Nasen berührten sich.
“Hast du gewußt, daß Sonja und ich wieder zusammen waren?” - “Nein, das hast du nicht gewußt”, fügte er selbst hinzu, und erstickte mich fast in saurem Schnapsatem. “Wir wollten heiraten. Das hat sie mir versprochen, und jetzt ist sie tot.”
Ich konnte mein Gesicht wegdrehen, so daß ich dem schlimmsten Gestank entging. Tränen liefen über Hugos Wangen. Das auch noch.
Irgendwie schaffte ich es, ihn in eine Ecke zu bugsieren, in der es zwei Sitzplätze gab.
“Also, das ist dein Geheimnis, Hugo?”, fragte ich, vor allem, um überhaupt etwas zu sagen. Die Tränen versiegten, und er sah mich überrascht an.
“Geheimnis, von was für einem Geheimnis redest du da?”
“Du hast doch gerade eben gesagt, daß du was weißt, was ich nicht weiß.”
Er überlegte einen Augenblick, seine Augen waren nur halb geöffnet.
“Ach das, das ist was ganz anderes.”
“Was ganz anderes?