Für unsere Sünden gestorben?. Burkhard Müller
absteigende Gott Wer den Begriff gebraucht, denkt zuerst natürlich daran, dass Gott in Jesus zu den Menschen herabgekommen ist. Gott ist nicht oben in seiner göttlichen Welt geblieben, sondern nach unten in die wechselvolle Geschichte der Menschen hineingegangen. Wir können uns heute kaum noch vorstellen, wie anstößig das damals klang. Gewiss, es gab noch Menschen, die sich an den Göttersagen vergnügten mit einem Himmel voller Götter, die sich stritten, die sich vertrugen, die gegeneinander intrigierten, die sich paarten und bekämpften, die auch schon mal den Himmel verließen und nach unten unter die Menschen kamen, wie z.B. der Gott Zeus, der lüstern seine Finger nicht von schönen Frauen lassen konnte.
Aber die Nachdenklichen, die Gebildeteren, die philosophisch Geschulten gingen selbstverständlich davon aus, dass die wahre Gottheit in unveränderlicher Erhabenheit und Größe das ewige unwandelbare Sein repräsentierte. Sie konnten über die christliche Botschaft von Gottes Herabsteigen nur den Kopf schütteln. Ihnen war unbegreiflich, dass Gott herunterkommt. Wenn er kommt, dann ist er kein Gott. Denn Gottes ewiger Platz ist nach ihrer Sicht einzig im Himmel.
Gott sucht unten die, die unten sind Wohin aber kommt Gott? Was ist das Ziel dieses Abstiegs? Wen sucht der herabkommende Gott unten auf? Sind es die Menschen im Allgemeinen?
Nun, das wird in der Bibel mehrfach genauer eingegrenzt: Gott kommt speziell zu den Menschen, die ganz am Boden sind, um sie aufzuheben. (Psalm 113,6 »der den Geringen aufrichtet aus dem Staube und erhöht den Armen aus dem Schmutz«; 1. Samuel 2,8 »Er hebt auf den Dürftigen aus dem Staub und erhöht den Armen aus der Asche«)
Bei Jesus ist das ein geradezu programmatisches Konzept des Handelns: Er sucht die Schwachen und Gefallenen auf. Darum finden wir ihn in »schmutziger Gesellschaft«, bei Zöllnern, Ehebrecherinnen, Kranken und Aussätzigen. Darin ist er wie ein guter Arzt, der die Kranken besucht und nicht die Gesunden. (Matthäus 9,12: »Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.«)
Wahrscheinlich haben Sie gedacht, als ich das erste Mal dieses schwierige Fremdwort »Kondeszendenz« erwähnte: »Ach, wie weltfern die Theologie mit ihren alten Begriffen doch ist!« Aber so trockene theoretische Begriffe wie Kondeszendenz können eine dynamische Wirkung auf uns haben, die Richtung unserer Lebensführung eventuell umdrehen, nämlich nach unten statt nach oben. Hat Paulus das begriffen, wenn er z. B. seine Gemeinde auffordert: »Haltet euch herunter zu den Geringen!« (Römer 12,16)?
Kondeszendenz Gottes ist so etwas wie das göttliche Gegenprogramm gegen unsere Ethik der Karriere und bremst uns deutlich in unserer Neigung, uns ausschließlich nach oben zu orientieren. Kondeszendenz: Das »Herabkommen Gottes« könnte ein grundlegendes Stichwort für Sozialpolitiker werden.
Gott steigt herab in unser Denken und Sprechen Kondeszendenz beschreibt nach der Meinung der alten Theologen vor allem das erstaunliche Faktum, dass wir von Gott, der so anders ist als wir, überhaupt mit unseren menschlichen Worten reden können. Gott geht ein in menschliche Worte und menschliche Rede, um sich uns verständlich zu machen.
Bei den Hebräern ist Hebräisch die Sprache Gottes. Für die Griechen spricht Gott griechisch. Latein ist nicht heiliger als die Sprache der Germanen, das Deutsch, als Kölsch oder Schwäbisch. Kein Wort in keiner Sprache ist umfassend geeignet, um zu sagen, wer Gott ist. Trotzdem bewegt sich Gott hinab in die menschliche Sprache mit ihren Worten und Vorstellungen, um überhaupt mit dem Menschen sprechen zu können. Wir reden von dem Gesicht Gottes, seinen Augen, seiner Nase, seinen Ohren, seinem Mund. Und wissen dabei ziemlich genau, dass unser Gott nicht wirklich ein Gesicht, Augen, Nase, Ohren und Mund hat. Aber wir dürfen die Bilder aus unserer Sprache benutzen, um mit ihnen anzudeuten, dass Gott Nähe zu uns Menschen sucht. Gott ist immer anders und mehr, als wir ausdrücken. Aber wir dürfen in vielen verschiedenen Bildern von ihm reden. Er kommt in unsere menschliche Bilderwelt hinein.
Dieses Phänomen wird uns wieder begegnen, wenn wir die ersten Christen bei ihrem schwierigen Bemühen begleiten, mit menschlichen Worten auszudrücken, wer der auferstandene Christus denn wirklich ist und was er wirklich für uns getan hat. Da probieren sie die Bilder, Vergleiche und Metaphern aus und hoffen damit wenigstens die Richtung anzuzeigen, in der man den auferstandenen Christus im Glauben verstehen kann. Manche Bilder von der Welt Gottes sind gut, manche sind schlecht. Ob das traditionelle Bild vom Sühnopfer Christi gut und geeignet ist, werden wir im Folgenden genau überlegen.
Der hochgelehrte Wissenschaftler versteht es eventuell, sehr komprimiert und abstrakt von den Dingen Gottes zu reden. Aber diese Gelehrtensprache ist der Wahrheit Gottes nicht näher als so schlichte Worte über Gott, die jeder verstehen kann: »Du bist bei mir!« (Psalm 23,4)
Es gibt Metaphern für Christus, denen man das nicht sofort ansieht (z. B. »Sohn Gottes«). Sie enthalten aber deswegen nicht größere Wahrheit als andere Bilder, die man sofort als Bilder erkennt (Johannes 15,5: »Ich bin der Weinstock.«). All unser Reden über Gott ist menschliches Reden.
Worte an andere weitergeben (übersetzen) Das heißt auch, ihren Inhalt zu verändern. Übersetzer können ein Lied davon singen, dass Übersetzen in eine andere Sprache manchmal so etwas wie die Übertragung in eine andere Welt bedeutet.
Lasen im Mittelalter die Christen ihre Bibel auf Latein, so wird den Gelehrten im 15. Jahrhundert bewusst, dass man doch die Bibel in ihrer Ursprache lesen sollte, wenn man sie denn wirklich verstehen will. Und Luther hat die Bibel ins Deutsche übersetzt, aber nicht aus dem gebräuchlichen Latein, das schon selber eine Übersetzung und Übertragung aus einer anderen Sprache war. Luther griff statt zur lateinischen Bibel zum Original, zum hebräischen Text des Alten Testaments und zum griechischen Text für das Neue Testament. Und dann hat er übersetzt, nein: übertragen, nicht kleinlich Wort für Wort, sondern genial Sinn für Sinn. Inzwischen hat man untersucht, wie der Glaube der ersten Christen auf palästinensischem Boden aus der orientalischhebräischaramäischen Welt in die griechische Welt übersetzt wurde. Das war nicht einfach.
Das Beispiel »Sohn Gottes« Was »Sohn Gottes« meint, ist für Christen doch ganz klar, möchte man meinen. Aber gerade dieser Begriff nimmt schon im Alten Testament eine hochinteressante Entwicklung. Wer in der orientalischen, also in der hebräischen und aramäischen Welt vom »Sohn Gottes« redete, dachte dabei an einen Menschen, der zum König gesalbt wurde (hebr. Messias = gr. christos = deutsch: der Gesalbte). Denn – so war die Vorstellung – bei diesem Festakt der Einsetzung eines neuen Königs wurde dieser neue König von Gott zum Gottessohn ernannt, also gewissermaßen per Adoption zu einem Sohn Gottes gemacht.
Viele sehen im Psalm 2 eine Liturgie der Ernennung des Königs und seiner Adoption zum Sohn Gottes. Mit dem Satz »Du bist mein Sohn« wurde dem neu gesalbten König durch die Priester die Gottessohnschaft zugesprochen.
(»Ich habe meinen König eingesetzt auf meinem heiligen Berg Zion. Kundtun will ich den Ratschluss des Herrn. Er hat zu mir gesagt: ›Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt.‹« Psalm 2,7f.)
Adoption zum Sohn Gottes durch die Auferstehung Es gibt einen sehr frühen Text der ersten Christen, den Paulus in Römer 1,3–4 zitiert:
»Jesus Christus, unser Herr,
geboren aus dem Geschlecht Davids
nach dem Fleisch
und nach dem Geist, der heiligt,
eingesetzt als Sohn Gottes in Kraft
durch die Auferstehung von den Toten.«
Jesus als Mensch (»nach dem Fleisch«) ist Nachkomme des Königs Davids. (Die Jungfrauengeburt ist hier unbekannt.) Dieser Mensch wird durch die Auferstehung zum Sohn Gottes eingesetzt, »adoptiert«. Jesus, der Mensch, ist also seit Ostern Sohn Gottes.
Adoption zum Sohn Gottes bei der Taufe Der Evangelist Markus erzählt keine Weihnachtsgeschichte wie Lukas oder Matthäus. Er weiß nichts von einer wunderbaren Geburt Jesu. Aber er weiß, seit wann Jesus Gottes Sohn ist. Rechtzeitig zum Beginn seines Wirkens geschieht die Adoption zum Sohn Gottes. Diese Adoption vollzieht sich bei Markus am Jordan, bei der Taufe Jesu durch Johannes den