Der Herr auf der Galgenleiter. Hugo Bettauer

Der Herr auf der Galgenleiter - Hugo Bettauer


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Millionen in Devisen auf Zürich, Amsterdam, Paris und Rom, und heute, nun heute war Lothar Leichtwag einer von denen, die man mit Hohn und Wut, mit Haß und Bewunderung Kronenmilliardäre nannte.

      III. Kapitel

      Der dreiunddreißigjährige Kronenmilliardär war am Schottentor angelangt und blieb unschlüssig stehen. Sein Magen knurrte, und er überlegte, ob er nicht ins Café Landtmann gehen und rasch frühstücken sollte, erinnerte sich aber, daß er kein Geld bei sich hatte. Hätte natürlich weggehen können, ohne zu bezahlen, da er dort Stammgast war. Aber nein, lieber zuerst sich um die Börse kümmern und Geld holen. Und aufgeräumt ging er über den Schottenring, um in die Wipplingerstraße einzubiegen.

      Himmel! Wenn mir das vor fünf Jahren passiert wäre, daß ich um zwölf Uhr noch mit leerem Magen hätte umherrennen müssen! Mit welch bolschewistischem Ingrimm würde ich die Fäuste geballt, die Menschen verflucht, den Kapitalismus zur Hölle gewünscht haben! Und heute? Ganz sympathische kleine Hungerkur mit der Gewißheit, daß das Mittagessen um so herrlicher munden wird.

      In der Wipplingerstraße drückte sich Lothar dicht an die Mauer eines Hauses, aus dessen offenen Hochparterrefenstern das Tippen einer Schreibmaschine erklang. Und ein Schatten flog über sein hübsches Gesicht.

      Da saß nun Grete an der Schreibmaschine und plagte sich, während er – na ja, das ist eben so und nicht anders, und sie würde sich schon trösten. Vielleicht mit dem neuen Konzipienten des Herrn Laufer, der ja ein ganz netter Kerl ist. Wenn sie bei ihm anklopfen wollte wegen einer Mitgift, er ließe sich sicher nicht lumpen. Aber davon konnte keine Rede sein, das Mädel war stolz wie eine Herzogin. Dumm sind die Weiber, wissen oft gar nicht, wie leicht das Leben zu deichseln ist.

      Nun war Lothar in der Wollzeile angekommen. Was war denn da wieder los? Gerade vor dem Hause der Firma Schwarzseher & Lustig wimmelte es von Menschen, gestikulierenden, kreischenden, aufgeregten Männern und Frauen. Ein Schutzmann schrie: »Bitte, weitergehen!« Niemand ging aber weiter, es brandete und wogte gerade vor dem Hause der Bankiers.

      IV. Kapitel

      Unklare, verschwommene Gedanken huschten im Bruchteil einer Sekunde durch das Gehirn Lothars. Die Rollbalken waren geschlossen. In der Menschenmasse erkannte er Gesichter, die er oft in den Schalterräumen des Bankhauses gesehen hatte. War das nicht der alte Buchhalter Elias? Was konnte geschehen sein? Wieder einmal Demonstrationen? Plünderungen? Oder ein Unfall?

      Und aus dem tiefsten Unterbewußtsein huschten in Lothar, während er sich durch die Menschen drängte, blitzartig dumpfe Empfindungen, Fragen, Angstgefühle auf. Warum habe ich mein ganzes Vermögen bei einem Bankhaus liegen? Ist dieser Schwarzseher nicht das Prototyp des leichtsinnigen Hasardeurs? Ja, aber Lustig bremst und ist solid wie ein Felsblock. Und sicher verfügen die beiden über ungeheuere Reichtümer. Was aber ist los?

      Nun stand Lothar Leichtwag vor dem Haustor, das von zwei Schutzleuten flankiert wurde. Und plötzlich sah er neben sich ein graues, kleines Männchen, Herrn Elias, und dieses Männchen schluchzte, während ringsumher Leute wie toll auf ihn einschrien.

      »Diese verfluchten Hunde!Diese Diebe!«

      »Alles, was mir mein armer Mann hinterlassen, liegt drinnen!«

      »Lynchen muß man diesen Gauner, den Schwarzseher!«

      »Kunststück, sich aufzuhängen, wenn man Tausende von Existenzen ruiniert hat!«

      Fassungslos sah Lothar um sich. Es schwindelte ihm, und in den Knien fühlte er Bleiklumpen.

      »Herr Elias, um Himmels willen, was ist denn geschehen?«

      Mit diesen Worten packte er den schluchzenden Buchhalter am Arm und zog ihn an den Schutzleuten vorbei unter das Tor.

      »Was geschehen ist? Sie wissen noch nichts? Es steht doch schon in der Mittagszeitung.«

      »Nichts weiß ich! Was steht in der Mittagszeitung, reden Sie doch endlich und hören Sie auf, zu heulen wie ein kleines Kind!«

      »Herr Doktor, wenn Sie wie ich dreißig Jahre in diesem Hause gedient hätten – und jetzt, die Schande und die Beschimpfungen, als wenn ich was dafür könnte.«

      »Reden Sie schon endlich einmal, Mensch«, brüllte Lothar, um den sich die Welt zu drehen begann. »Was ist denn geschehen?«

      »Was geschehen ist? Herr Lustig hat sich heute nacht im Bureau erhängt und die Kassen sind leer!«

      Lothar griff sich an den Hals, in dem er ein Würgen und Brennen zu verspüren glaubte.

      »Was, Herr Lustig – sich aufgehängt – die Kassen sind leer – Herr Elias, sind Sie verrückt?«

      »Ich wollte, ich wäre es«, sagte der alte Mann wehmütig, »ich gebe gerne mein bißchen Verstand dafür her, wenn das Ganze nur ein böser Traum wäre.«

      Und endlich begann er zusammenhängend zu berichten: »Am vergangenen Samstag, also vor sechs Tagen, ist Herr Lustig auf dringenden Wunsch des Herrn Börsenrates in geschäftlichen Angelegenheiten nach Budapest gefahren, um dort wegen einer Aktiengründung zu verhandeln. Am nächsten Tag, am Sonntag, ist der Herr Börsenrat, was ja öfters vorzukommen pflegte, allein ins Bureau gekommen, wo er sich ein paar Stunden lang aufhielt. Montag früh kam er nicht, sondern es wurde dem Prokuristen ein Brief gebracht, in dem Herr Schwarzseher mitteilte, daß er in dringender Angelegenheit nach Berlin müsse und erst Ende der Woche zurück sein werde. Die Schlüssel zu dem großen Tresor nehme er mit, da ohnedies keine größeren Zahlungen fällig seien, aber anbei folge der Schlüssel zu dem kleinen Kassenschrank im Kassenraum. Der Prokurist möge über die darin befindlichen Gelder disponieren und heute schon, also vier Tage vor Ultimo, die Gehälter auszahlen, und zwar nicht nur für den abgelaufenen Monat, sondern für das kommende Quartal im vorhinein, damit seine Beamten und Angestellten sich angesichts der fortschreitenden Teuerung mit Lebensmitteln und Bedarfsartikeln für die nächste Zeit eindecken könnten. Wir waren über diese Noblesse des Herrn Schwarzseher ordentlich gerührt, und ich muß Ihnen sagen, Herr Doktor, ich bin es auch jetzt noch, denn nun sehe ich, daß der Herr Börsenrat uns auf diese Weise vor plötzlicher Not hat bewahren wollen.«

      »Weiter, weiter!« drängte Lothar, dessen sich eine seltsame, leichenhafte Ruhe bemächtigt hatte.

      »Nun, gestern hat Herr Lustig aus Budapest telephonisch angerufen und durch den Prokuristen von der Reise seines Kompagnons erfahren. Der Prokurist sagt, daß Herr Lustig seiner Verwunderung über diese Reise, von der er nichts gewußt, Ausdruck gegeben und erklärt habe, sofort mit dem nächsten Zug zurückfahren zu wollen. Tatsächlich kam er gestern spät abends an und begab sich direkt von der Bahn hierher. Nun, er hat ja ebenfalls Schlüssel zu dem Tresor, und so sah er denn sehr bald die ganze Bescherung. Der Tresor leer, ausgeplündert, alle Effekten, Devisen, Valuten und Kronenbestände fort. Nach Mitternacht rief Herr Lustig den Prokuristen an, ließ ihn wecken und sagte ihm: ›Herr Siegel, das Bankhaus Schwarzseher und Lustig hat aufgehört zu existieren. Mein Kompagnon hat nichts zurückgelassen als einen Brief, in dem er mir mitteilt, daß er seit Monaten auf den Rückgang der Tschechenkrone ohne mein Wissen waghalsig gespielt habe und durch die neuerliche Tschechenkronenhausse der letzten Zeit das Bankhaus ruiniert und alle von den Kommittenten anvertrauten Depots verloren seien. Er, Schwarzseher, entziehe sich der unvermeidlichen Verhaftung durch die Flucht ins Ausland und bekunde nachdrücklich, daß seinem Kompagnon kein Verschulden treffe. Er nehme, da er keine Lust habe, als Bettler seine Tage zu beschließen, mit, was noch vorhanden sei.‹

      Herr Siegel, der wie vom Schlag gerührt war, obwohl er schon seit geraumer Zeit Unheil ahnte, wollte sofort ins Bureau kommen, aber Herr Lustig hielt ihn mit den Worten davon ab: ›Es hat keinen Zweck. Ich bin todmüde und werde mich jetzt auch nach Hause begeben. Morgen, zeitig früh, werden Sie mich im Bureau finden.‹

      Nun, man hat ihn auch gefunden. Als die Reinmachefrauen um sieben Uhr kamen, hing Herr Lustig als Leiche an dem Spiegelhaken in seinem Zimmer.«

      Der Buchhalter begann neuerlich zu schluchzen. Lothar stierte geistesabwesend vor sich hin und sprach unhörbar wohl zehnmal die Worte


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