Unterm Rad. Hermann Hesse

Unterm Rad - Hermann Hesse


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erwarte ich eine besondere Leistung von dir.“

      „Wenn ich aber durchfalle“, meinte Hans schüchtern.

      „Durchfallen?!“ Der Geistliche blieb ganz erschrocken stehen. „Durchfallen ist einfach unmöglich. Einfach unmöglich. Sind das Gedanken!“

      „Ich meine nur, es könnte ja doch sein ...“

      „Es kann nicht, Hans, es kann nicht; darüber sei ganz beruhigt. Und nun grüß mir deinen Papa und sei mutig!“

      Hans sah ihm nach; dann schaute er sich nach dem Schuhmacher um. Was hatte der doch gesagt? Aufs Latein käme es nicht so sehr an, wenn man nur das Herz auf’m rechten Fleck habe und Gott fürchte. Der hatte gut reden. Und nun noch der Stadtpfarrer. Vor dem konnte er sich überhaupt nimmer sehen lassen, wenn er durchfiel.

      Bedrückt schlich er nach Hause und in den kleinen, abschüssigen Garten. Hier stand ein morsches, längst nicht mehr benutztes Gartenhäuschen; darin hatte er seinerzeit einen Bretterstall gezimmert und drei Jahre lang Kaninchen drin gehabt. Im vorigen Herbst waren sie ihm weggenommen worden, des Examens wegen. Er hatte keine Zeit mehr für Zerstreuungen gehabt.

      Auch im Garten war er schon lang nimmer gewesen. Der leere Verschlag sah baufällig aus, die Tropfsteingruppe in der Mauerecke war zusammengefallen, das kleine, hölzerne Wasserrädchen lag verbogen und zerbrochen neben der Wasserleitung. Er dachte an die Zeit, da er das alles gebaut und geschnitzt und seine Freude daran gehabt hatte. Es war auch schon zwei Jahre her — eine ganze Ewigkeit. Er hob das Rädchen auf, bog daran herum, zerbrach es vollends und warf es über den Zaun. Fort mit dem Zeug, das war ja alles schon lang aus und vorbei. Dabei fiel ihm sein Schulfreund August ein. Der hatte ihm geholfen das Wasserrad zu bauen und den Hasenstall zu flicken. Nachmittage lang hatten sie hier gespielt, mit der Schleuder geschossen, den Katzen nachgestellt, Zelte gebaut und zum Vesper rohe gelbe Rüben gegessen. Dann war aber die Streberei losgegangen und August war vor einem Jahr aus der Schule getreten und Mechanikerlehrling geworden. Er hatte sich seither nur noch zweimal gezeigt. Freilich, auch der hatte jetzt keine Zeit mehr.

      Wolkenschatten liefen eilig übers Tal, die Sonne stand schon nahe am Bergrand. Einen Augenblick hatte der Knabe das Gefühl, er müsse sich hinwerfen und heulen. Statt dessen holte er aus der Remise das Handbeil, schwang es mit den schmächtigen Ärmlein durch die Luft und hieb den Kaninchenstall in hundert Stücke. Die Latten flogen auseinander, die Nägel bogen sich knirschend, ein wenig verfaultes Hasenfutter, noch vom vorjährigen Sommer, kam zum Vorschein. Er hieb auf das alles los, als könnte er damit sein Heimweh nach den Hasen und nach August und nach all den alten Kindereien totschlagen.

      „Na na na na na, was sind denn das für Sachen?“ rief der Vater vom Fenster her. „Was machst du da?“

      „Brennholz.“

      Weiter gab er keine Antwort, sondern warf das Beil weg, lief durch den Hof auf die Gasse und dann am Ufer flußaufwärts. Draußen in der Nähe der Brauerei standen zwei Flöße angebunden. Mit solchen war er früher oft stundenweit flußab gefahren, an warmen Sommernachmittagen, vom Fahren auf dem zwischen den Stämmen klatschenden Wasser zugleich erregt und eingeschläfert. Er sprang auf die losen, schwimmenden Stämme hinüber, legte sich auf einen Weidenhaufen und versuchte sich vorzustellen, das Floß sei unterwegs, fahre bald rasch, bald zögernd an Wiesen, Äckern, Dörfern und kühlen Waldrändern vorüber, unter Brücken und aufgezogenen Stellfallen durch, und er liege darauf und alles wäre wieder wie sonst, da er noch am Kapfberg Hasenfutter holte, in den Gerbergärten am Ufer angelte und noch kein Kopfweh und keine Sorge hatte.

      Müd und verdrossen kam er zum Nachtessen heim. Der Vater war wegen der bevorstehenden Examensreise nach Stuttgart heillos aufgeregt und fragte ein dutzendmal, ob die Bücher eingepackt seien, ob er den schwarzen Anzug bereit gelegt habe, ob er nicht unterwegs noch in der Grammatik lesen wolle, ob er sich wohl fühle. Hans gab kurze, bissige Antworten, aß wenig und sagte bald Gutnacht.

       „Gut Nacht, Hans. Schlaf nur gut! Also um sechs Uhr weck ich dich morgen. Hast du auch den Lexikon nicht vergessen?“ „Nein, ich hab ‚den‘ Lexikon nicht vergessen. Gut Nacht!“

      Auf seinem Stüblein saß er noch lang ohne Licht wach. Das war bis jetzt der einzige Segen, den ihm die Examengeschichte gebracht hatte — das eigene kleine Zimmer, in dem er Herr war und nicht gestört wurde. Hier hatte er im Kampf mit Ermüdung, Schlaf und Kopfweh lange Abendstunden über Cäsar, Xenophon, Grammatiken, Wörterbüchern und mathematischen Aufgaben verbrütet, zäh, trotzig und ehrgeizig, oft auch der Verzweiflung nah. Hier hatte er aber auch die paar Stunden gehabt, die ihm mehr wert waren als alle verlorenen Knabenlustbarkeiten, jene paar traumhaft seltsamen Stunden voll Stolz und Rausch und Siegesmut, in denen er sich über Schule, Examen und alles hinweg in einen Kreis höherer Wesen hinübergeträumt und gesehnt hatte. Da hatte ihn eine freche, selige Ahnung ergriffen, daß er wirklich etwas anderes und Besseres sei als die dickbackigen, gutmütigen Kameraden und auf sie vielleicht einmal aus entrückter Höhe überlegen herabsehen dürfe. Auch jetzt atmete er auf, als sei in diesem Stüblein eine freiere und kühlere Luft, setzte sich aufs Bett und verdämmerte ein paar Stunden in Träumen, Wünschen und Ahnungen. Langsam fielen die hellen Lider ihm über die großen, überarbeiteten Augen, öffneten sich nochmals, blinzelten und fielen wieder herab, der blasse Knabenkopf sank auf die hagere Schulter, die dünnen Arme streckten sich müde aus. Er war in den Kleidern eingeschlafen, und die leise, mütterliche Hand des Schlummers ebnete die Wogen in seinem unruhigen Kinderherzen und löschte die kleinen Falten auf seiner hübschen Stirn.

      Es war unerhört. Der Herr Rektor hatte sich, trotz der frühen Stunde, selber auf den Bahnhof bemüht. Herr Giebenrath stak im schwarzen Gehrock und konnte vor Aufregung, Freude und Stolz gar nicht stillstehen; er trippelte nervös um den Rektor und um Hans herum, ließ sich vom Stationsvorstand und von allen Bahnangestellten gute Reise und viel Glück zu seines Sohnes Examen wünschen und hatte seinen kleinen, steifen Koffer bald in der linken, bald in der rechten Hand. Den Regenschirm hielt er einmal unter den Arm, dann wieder zwischen die Knie geklemmt, ließ ihn einigemal fallen und stellte dann jedesmal den Koffer ab, um ihn wieder aufheben zu können. Man hätte meinen sollen, er reise nach Amerika und nicht mit Retourbillett nach Stuttgart. Der Sohn schien ganz ruhig, doch würgte ihn die heimliche Angst in der Kehle.

      Der Zug kam an und hielt, man stieg ein, der Rektor winkte mit der Hand, der Vater zündete sich eine Zigarre an, unten verschwand im Tal die Stadt und der Fluß. Die Reise war für beide eine Qual.

      In Stuttgart lebte der Vater plötzlich auf und begann fröhlich, leutselig und weltmännisch zu werden; ihn beseelte die Wonne des Kleinstädters, der für ein paar Tage in die Residenz gekommen ist. Hans aber wurde stiller und ängstlicher, eine tiefe Beklemmung ergriff ihn beim Anblick der Stadt; die fremden Gesichter, die protzig hohen, aufgedonnerten Häuser, die langen, ermüdenden Wege, die Pferdebahnen und der Straßenlärm verschüchterten ihn und taten ihm weh. Man logierte bei einer Tante und dort drückten die fremden Räume, die Freundlichkeit und Gesprächigkeit der Tante, das lange zwecklose Herumsitzen und das ewige aufmunternde Zureden des Vaters den Knaben vollends ganz zu Boden. Fremd und verloren hockte er im Zimmer herum, und wenn er die ungewohnte Umgebung, die Tante und ihre städtische Toilette, die großmustrige Tapete, die Stutzuhr, die Bilder an der Wand oder durchs Fenster die geräuschvolle Straße ansah, kam er sich ganz verraten vor und es schien ihm dann, er sei schon eine Ewigkeit von Hause fort und habe alles mühselig Gelernte einstweilen völlig vergessen.

      Nachmittags hatte er nochmals die griechischen Partikeln durchnehmen wollen, aber die Tante schlug einen Spaziergang vor. Einen Augenblick tauchte vor Hansens innerem Blick etwas wie Wiesengrün und Waldgebrause auf und er sagte freudig zu. Bald genug sah er aber, daß auch das Spazierengehen hier in der großen Stadt eine andere Art von Vergnügen sei als daheim.

      Er ging allein mit der Tante, da der Papa in der Stadt Besuche machte. Schon auf der Treppe ging das Elend los. Man begegnete im ersten Stockwerk einer dicken, hoffärtig aussehenden Dame, vor welcher die Tante einen Knix machte und die sofort mit großer Eloquenz zu plaudern begann. Der Halt dauerte mehr als eine Viertelstunde. Hans stand daneben, an das Treppengeländer gepreßt, wurde vom Hündlein der Dame berochen und angegrollt und


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