Marcel Hirscher. Alex Hofstetter
sind. Schimmelige Zimmer, Bedingungen wie beim Ausflug einer Schülergruppe.“ Marcel befindet sich trotz Knöchelbruch im August 2017 - in der Form seines Lebens befindet. Und das heißt bei Hirscher etwas. Auf dem Langstreckenflug trifft Marcel Heinz Fischer, trinkt mit Österreichs ehemaligem Bundespräsidenten in 10.000 Metern Höhe eine Tasse Kaffee. Geschlaucht, aber entspannt checken Marcel und die zu diesem Zeitpunkt schon schwangere Laura im Hotel „Park Roche“ ein. Ein Top-Hotel, das alle Stückeln spielt. Allerdings im absoluten südkoreanischen Niemandsland. Bei klirrenden minus 20 Grad startet Marcel die Vorbereitungen auf die Kombination, tastet sich auf der von Bernhard Russi geplanten und durch den Urwald geschlagenen Abfahrt Training für Training an die Besten heran. Beim internationalen Medientermin stehen die Journalisten aus aller Welt Schlange. Stellen alle die gleiche Frage: „Holst du dir diesmal dein Olympia-Gold?“ Marcel zuckt nur mit den Schultern, sagt: „Ich weiß, dass ich eigentlich nur verlieren kann, weil nur Gold für mich zählt.“ Nachsatz: „Und daheim in Österreich sind sowieso alle verrückt, erwarten die wildesten Dinge von mir.“ Während Marcel im Scheinwerferlicht Frage und Antwort steht, haben es andere im „Hotel Roche“ entspannter. Die Deutschen spielen sich am Nebentisch eine Partie Bauernschnapsen aus, eine Etage tiefer ermitteln die Norweger auf der Playstation ihren FIFA-Champion. Marcel wird auch gefragt, warum er nicht nur in seinen Paradedisziplinen Slalom und Riesentorlauf antritt, warum er sich zu Beginn den Kombi-Stress antut? „Weil ich nicht eines Tages im Ledersessel sitzen will und mir denken muss: Wär ich doch nur diese Kombi gefahren…“ Eine goldene Vorahnung sozusagen.
Am Tag der Kombi sitzt Marcel in der Gondel hinauf zum Start der Abfahrt. Der Wind wird stärker. Die Gondel hält immer wieder an. Leichte Panik macht sich breit, Marcel wird doch nicht seine Startzeit verpassen? Es geht sich alles aus. Marcel legt eine solide Abfahrt hin –Platz zwölf. Im Slalom kommt es zum erwarteten Showdown zwischen ihm und Alexis Pinturault. Marcel zieht den „schwarzen Peter“, fährt bei eigentlich irregulären Bedingungen. Im Mittelteil des Slaloms weht bei der Fahrt von Marcel genau in Knöchelhöhe der Schnee. Marcel erinnert sich: „Ich hab versucht, am Start ein bisschen zu verzögern, weil ich genau gesehen hab, dass der Wind über den Steilhang hinauf zieht. Aber es hat eh nix geholfen, ich musste raus aus dem Starthaus. Das war dann das Rennen, in dem ich am meisten in meiner Karriere geflucht habe. Eigentlich hab ich durchgehend von oben bis unten geflucht.“ Die Worte sind nicht druckreif, aber sinngemäß ist Marcel einfach fassungslos, dass man ihn bei derartigen Bedingungen auf die Strecke schickt. Es geht ja immerhin um Olympia-Gold … Marcel bleibt aber am Gas, packt seine gesamte Klasse und Routine aus, „errät“ jeden Schwung, trotzdem droht jede Sekunde der Einfädler. Marcel kommt mit Bestzeit ins Ziel, nur noch Pinturault kann ihm Gold entreißen. Der Franzose hat deutlich mehr Glück mit dem Wind, bleibt aber 0,23 Sekunden zurück. Es ist vollbracht. Hirscher ist Olympiasieger. Spricht von einer tonnenschweren Last, die ihm von den Schultern fällt. Trotzdem: irgendwie wirkt alles so eigenartig. Gar nicht so „besonders“. Was damit zusammenhängt, dass kaum Zuschauer den Weg ins Skistadion gefunden haben. Skifahren hat bei den Südkoreanern eben einen ähnlichen Stellenwert wie bei uns in Österreich Koreas Nationalsportart Shorttrack. Bei der ersten Siegerehrung einige Minuten nach dem Rennende sind es neben den Journalisten vielleicht noch hundert Fans, die beim „Land der Berge“ die Hauben vor Hirscher und Österreich ziehen. Danach spricht Marcel erstmals als Olympiasieger zu den Medien. Meint sinngemäß: „So, jetzt habt’s eure Goldene, jetzt könnt’s aufhören mit den Fragen.“ Und sagt: „Schaut’s euch das an, da haben wir sogar in Beaver Creek mehr Zuschauer! Irgendwie hab ich mir das in meinen Kindheitsträumen anders vorgestellt.“ Mit dieser Gewissheit, das Ziel Olympia-Gold erfolgreich abgehakt zu haben, riskiert Marcel auch im Riesentorlauf, in dem er im Gegensatz zur Kombi haushoher Favorit ist, sein letztes Hemd. Führt nach Durchgang eins, demoliert auch im Finale die Konkurrenz und holt 1,27 Sekunden vor Henrik Kristoffersen Gold. Zum ersten und einzigen Mal sagt Marcel danach klipp und klar: „Ja, das ist derzeit der beste Hirscher aller Zeiten.“ Im abschließenden Slalom scheidet Marcel trotzdem aus. Naja, mit zweimal Gold in der Jackentasche recht problemlos zu verkraften. „Nein, ich bin kein bisschen enttäuscht. Seid ihr denn jetzt alle völlig verrückt geworden? Die Mission Olympia war ein voller Erfolg und ist jetzt erledigt.“ Ein für alle Mal. Aber irgendwie kann Marcel der Olympische „Geist“ auch bei seinen dritten und letzten Winterspielen nicht so recht begeistern: „Klar bin ich froh, dass ich auch meine Olympia-Goldene hab. Und im Leben ist es halt fast immer so: in Erinnerung bleiben die schönen Dinge. Aber dieses Tohuwabohu, diese Reglementierungen. Irgendwie fühlt man sich als Sportler am Ende des Tages nur noch als Produkt. Wirklich warm bin ich mit Olympia nie geworden… Durch all diese Erlebnisse wurde Olympia für mich doch ziemlich entzaubert.“
Ein Fass Zaubertrank
„Manchmal war ich mir selbst ein Rätsel“
Materialakribie bis zum Exzess – ja, okay. Körperliches Training bis zum Erbrechen – ja, das machen vielleicht „viele“ andere auch. Was Experten, Trainer, Fans und Konkurrenten aber am meisten an Marcel bewundern, ist seine mentale Stärke. Sie ist für viele der wahre Grund, warum Marcel auf der Ergebnisliste fast immer über allen anderen stand. Aber woher kommt diese mentale Stärke? „Sie ist ein Geschenk, das man sich nicht kaufen und auch nicht antrainieren kann. Man hat sie oder man hat sie eben nicht.“ Es ist sozusagen das goldene Geschenk, das Marcel vom lieben Gott mitbekommen hat. „Wir wissen ja: Es gibt Trainings-Weltmeister und es gibt Weltmeister. Es geht gar nicht darum, dass der eine oder andere besser Ski fährt. Da gibt es oft keinen großen Unterschied. Es geht darum, es im Rennen zu zeigen. Und ich hab das Glück, ein echtes Rennpferd zu sein. Das war ich schon als Kind.“ Es ist quasi Marcels Erfolgsmedizin, sein Zaubertrank. Und wie Obelix dürfte auch der kleine Marcel in diesen Zaubertrank hineingefallen sein und dabei genug für ein ganzes Leben davon getankt haben. „Da war ein Fass, das ich aufmachen konnte, wenn ich wollte und wenn ich es unbedingt brauchte.“ Ein Fass, in dem sich auch der Schalter für den „Rennmodus“ befand. „Wenn ich wollte, konnte ich diesen Schalter umlegen. Und der hat mir dann die paar zusätzlichen Prozente gebracht.“ Ein Fass, in dem sich auch eine gesunde Portion Zorn befand. „Alle sagen immer, dass die Freude das Wichtigste ist. Stimmt schon. Aber nicht in der einen Minute, in der es um alles geht. Da musste ich zornig sein. Da brauchte ich diesen Druck, den ich mir teilweise auch selbst bewusst gemacht habe.“ Das Fass kann Marcel aber nicht nur auf der Skipiste öffnen. Marcel erinnert sich auch an CrossFit-Einheiten. „In meiner Karriere waren beim Bankdrücken meist hundert Kilogramm das Maximum. Eines Tages haben da beim CrossFit ein paar Burschen 130 Kilo gedrückt. Mir war’s in dieser Situation wichtig, das auch zu schaffen. Die Stimmung hat gepasst und ich hab auf einmal 130 Kilo drücken können … Wenn ich’s wirklich wollte und gebraucht hab, war da etwas, auf das ich zurückgreifen konnte.“
Und was waren – neben dem Durchgehen des Kurses – meist die allerletzten Gedanken im Starthaus? – „Ich MUSS gewinnen. Ich MUSS alles auf die Ski bringen, was ich draufhabe.“ Schon wenige Wochen nach dem Rücktritt denkt sich Marcel beim Anschauen des einen oder anderen Husarenritts in seiner Karriere: „Mit welchem Einsatz und mit welcher Intensität ich Ski gefahren bin, ist wirklich unglaublich. Hätte ich keine Handschuhe angehabt, hätte ich mich mit den Fingernägeln am Berg festgekrallt, um ja nicht auszuscheiden und so schnell wie möglich im Ziel zu sein. Ganz ehrlich: Manchmal war ich mir selbst ein Rätsel, wie ich das alles geschafft habe … Und diese Intensität, mit der ich das Ganze betrieben habe, ist auch der Grund, warum ich jetzt nicht mehr dabei bin. Das war einfach nur eine begrenzte Zeitspanne durchführbar.“
Die Stuhlalm
Raus aus dem Auge des Orkans. Raus aus den verrücktesten Tagen in Marcels Karriere. Entschleunigung. Wir landen im Jahr 1984 im Salzburger Land, wo die damals 28-jährige Niederländerin Sylvia während ihres Winterurlaubs, den sie mit Schwester und Schwager in Annaberg verbringt, unfreiwillig zur Entschleunigung gezwungen wird. Eine Autopanne. Skilehrer Ferdinand eilt zu Hilfe und erledigt wie ein echter Gentleman das Anlegen der Schneeketten. Es ist, wenn man so