Eden. Tim Lebbon
Eden scheint ein guter Ort zu sein, um zu sterben. Bevor sie eintraf, hatte sie gehofft, dass es so sein würde, doch jetzt ist sie davon überzeugt. Selbst wenn sie noch nicht bereit wäre, den ewigen Schlaf zu akzeptieren, ist Dunkelheit alles, was sie erwartet. Nach dem, was sie gesehen und erlebt hat und was vor ihr liegt, besteht kein Zweifel daran.
Der tiefe Wald, der sie umgibt, singt unbekannte Lieder in Stimmen, die sie nicht versteht. Sie war nie jemand, der um Aufmerksamkeit gebuhlt hat. Ganz im Gegenteil, und das war auch ihr Hauptgrund dafür, herzukommen. Sie kam, um sich selbst zu verlieren und so etwas wie Frieden zu finden. Stattdessen hat etwas sie gefunden.
Sie wischt sich Blut aus dem rechten Auge und ist überrascht, wie schnell es trocknet. Es formt eine Kruste, die ihr fast das Augenlid zuklebt. Sie will dem Tod nicht mit nur einem offenen Auge entgegentreten. Sie reißt sich ein paar Wimpern aus, als sie die gerinnende Masse auseinanderzieht. Nun sind ihre Fingerspitzen und Handinnenfläche damit verschmiert und es bildet dunkle Halbmonde unter ihren Nägeln. Sie starrt sie an und verspürt Traurigkeit über all das, was geschehen ist. Es ist nicht ihr Blut.
Sie sieht in das Blätterdach und den blauen Himmel darüber auf. Die Zweige schwingen in der Brise, ein beruhigender Tanz zum natürlichen Jazz der Vögel und Tiere und dem Ruf von etwas anderem. Wolkenfetzen ziehen vorüber. Der Anblick lässt sie schwindeln, doch sie schließt nicht die Augen.
Stattdessen schaut sie auf den Boden und sieht Schatten von den Bäumen fließen. Untermalt wird ihr Näherkommen vom anschwellenden Missklang der Waldgeräusche. Sie atmet zitternd aus. Nach all den Jahren und Kilometern, die sie hierhergeführt haben, hatte sie immer geglaubt, dass es am Ende die Krankheit sein würde, die sie erledigt. Sie hatte nichts Schlechtes im Sinn, als sie nach Eden kam, sondern hatte gehofft, unter ihren eigenen Bedingungen sterben zu können. Etwas Schlimmeres hatte sie nicht erwartet.
Als die Schatten ihre Haut berühren, legt sich ihre Hand um den filigranen Hals des Geistes, den sie gefunden hat.
1
»Unser Ziel war ambitioniert, unsere Absichten rein, unsere Herzen und Gedanken auf eine einfache Aufgabe gerichtet: die Welt zu retten.«
Ekow Kufuor, Oberster Vorsitzender des Vereinten Zonenrats
»Nach allem, was du getan hast, erstaunt es mich immer noch, dass du Angst vorm Fliegen hast.«
Jenn nahm die Bemerkung mit einem leisen Brummen zur Kenntnis, das sie über den Motorengeräuschen des alten Flugzeugs kaum hören konnte. Sie starrte auf Coves Hinterkopf, umklammerte mit rechts den Sitz vor sich und mit links Aarons Hand. Sie konnte spüren, wie der Schweiß ihre Handflächen zusammenklebte und wusste, dass es nicht nur ihr eigener war. Wenn er tatsächlich wegen des Flugs nervös war, würde der Schmerz durch ihren Klammergriff zumindest eine willkommene Abwechslung sein.
Doch Aaron hatte keine Angst vorm Fliegen. Aus dem Augenwinkel konnte sie sein Grinsen sehen, ein Ausdruck kindlicher Freude, während er bei dieser Flughöhe die Baumwipfel über ihnen vorbeirasen sah.
»Jenn.«
»Was?«
»Ich habe gesagt …«
»Ich hab dich gehört, Dad. Vielen Dank.«
»Erinnerst du dich, wie du mal diesen Basejump vom Burj Khalifa gemacht …«
»Das ist nicht hilfreich.« Er musste ihre wachsende Verärgerung wahrgenommen haben, denn er verstummte. Ohne den Kopf zu drehen, schaute sie nach rechts über den Gang hinweg und sah, was sie erwartet hatte – ihren Vater, der mit einem entspannten Lächeln auf seinem Platz saß.
Während das Flugzeug um sie herum vibrierte und auseinanderzureißen drohte, um sie alle über das tiefe Tal unter ihnen zu verstreuen, war er mit seinen Gedanken schon viel weiter. Er war stets einen Schritt voraus, eine Minute in der Zukunft.
»Das hier soll fliegen sein?«, sagte Gee von dem beengten Platz hinter ihr. »Fliegen beinhaltet eine gewisse Anmut und Kontrolle. Das hier ist eher so was wie ein langer Sturz.«
Wie als Antwort begannen Turbulenzen, den gesamten Flugzeugrumpf zu erschüttern, bevor die Maschine in ihren vorherigen Zustand einer kurz bevorstehenden Katastrophe zurückkehrte. Jenns Herz klopfte wie verrückt. Sie umklammerte den Sitz und Aarons Hand noch fester. Vorne rief der Pilot etwas auf Spanisch und lachte. Das gleiche kehlige Husten, das er ausgestoßen hatte, als Gee der Meinung gewesen war, sein ganzer Stolz sei wohl eher ein Fall für den Schrottplatz.
Jenn meinte, während dieser letzten Turbulenzen etwas zerbrechen gehört zu haben. Der Anblick der Maschine, bevor sie an Bord gegangen waren, hatte fast ausgereicht, um sie die Expedition abbrechen zu lassen und mit der Planung noch einmal von vorn zu beginnen, doch Aaron hatte sie davon überzeugt, dass sie sicher sei. »Ich kenne einen, der kennt diesen Kerl«, hatte er gesagt. »Er lässt das Flugzeug extra so aussehen, um unerwünschte Aufmerksamkeit zu vermeiden. Diese Maschine ist wie dein Dad – äußerlich heruntergekommen, mürrisch und altersschwach, aber hinter der Fassade in perfektem Zustand.«
Die Erinnerung zauberte ein nervöses Lächeln in ihr Gesicht und sie warf einen erneuten Seitenblick zu ihrem Vater. Als Reaktion zog er eine Augenbraue und einen Mundwinkel hoch. Er war Anfang fünfzig und damit der erfahrenste Entdecker unter ihnen. Er hatte genügend Abenteuer hinter sich, um ein Dutzend Bücher zu füllen, sollte er jemals die Muße haben, sie aufzuschreiben. Gelegentlich sprach er vom Ruhestand und dem Schreiben seiner Memoiren, doch sie wusste, dass das noch Jahrzehnte entfernt war. Er war noch nie der Typ gewesen, der zu Hause vor dem Fernseher hockte, selbst wenn er mal einen Fernseher sein Eigen nannte oder überhaupt ein Zuhause. In einer Welt, die unter der übermäßigen Last und Verschwendung der Menschheit litt, gab es immer noch Orte für ihn, die er erforschen konnte. Täler und Inseln, Steppen und Wälder, die vom zerstörerischen Griff der Menschen noch nicht erfasst worden waren, zumindest wenn man nicht zu genau hinsah. Doch das war manchmal sein Problem – dass er zu genau hinsah.
Ihr Vater war immer noch der Mittelpunkt ihrer Existenz, die Sonne, um die sich ihre Welt drehte. Auch wenn Aaron vor ein paar Jahren in ihr Leben getreten war und sie ihn liebte und sich eine Zukunft mit ihm vorstellen konnte, war es ihr Vater, nach dem sie sich orientierte, wenn sie in die große Schwärze blickte.
Von vorn kam ein weiterer Ruf. Sie hielt den Atem an und starrte an Coves Kopf vorbei ins offene Cockpit. Der Pilot schien unfähig, still zu sitzen, fummelte unermüdlich am Armaturenbrett herum, deutete aus dem Fenster, sprach mit sich selbst und schnippte Messanzeigen an.
»Machen Sie es aus und wieder an!«, rief Aaron und Jenn drückte seine Hand fest genug, um sie ihm zu brechen. Vielleicht würde das zumindest das Auseinanderbrechen des Flugzeugs übertönen. Er verzog sein Gesicht, protestierte aber nicht.
Sie trieben im sich windenden Tal nach links und nach rechts und als Jenn aus dem Fenster zu schauen wagte, sah sie, wie die Flügel durch Bäume rasten, Äste abbrachen und Blätter aufwirbelten. Sie waren so nah, dass sie aus dem Fenster greifen und sich eine Frucht hätte pflücken können. Aber ein so waghalsiger Flug war der Preis, den sie zahlen mussten, um dem Radar der Zeds auszuweichen, und dies war eine der Voraussetzungen, um unbemerkt Eden zu erreichen. Wenn die Zeds wüssten, dass sie hier waren, würde man sie verfolgen, bis sie gelandet waren oder abgeschossen wurden. Im Lauf der Zeit hatte sich die Zonenschutztruppe von Ort zu Ort und von Land zu Land in vollkommen unterschiedliche Einheiten aufgeteilt. Der eine Aspekt, der sie jedoch weiter vereinte, war ihre Entschlossenheit und Hingabe.
Nach der Landung war das Team immer noch eine sechsstündige Wanderung von der südlichen Grenze der unberührten Zone entfernt, doch auf diese Weise waren sie noch einigermaßen frisch und voll ausgerüstet, wenn sie in das gefährliche Grenzgebiet eindrangen.
Sie waren dabei, genug Gesetze zu brechen, um alle für lange Zeit im Gefängnis zu landen.
»Seht euch das mal an«, sagte Gee.
Jenn schaute an Aaron vorbei erneut aus dem Fenster. Das steile Tal