Italienische Reise. Johann Wolfgang Goethe

Italienische Reise - Johann Wolfgang Goethe


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aber nicht aus sich heraus kann; er mag stark in den Funfzigen sein und hat zu Hause einen siebenjährigen Knaben, von dem er bänglich Nachrichten erwartet. Ich habe ihm einige Gefälligkeiten erzeigt, er reist durch Italien bequem, aber geschwind, um es doch einmal gesehen zu haben, und mag sich gern im Vorbeigehen soviel wie möglich unterrichten; ich gebe ihm Auskunft über manches. Als ich mit ihm von Venedig sprach, fragte er mich, wie lange ich hier sei, und als er hörte, nur vierzehn Tage und zum erstenmal, versetzte er: »Il paraît que vous n’avez pas perdu votre temps.« Das ist das erste Testimonium meines Wohlverhaltens, das ich aufweisen kann. Er ist nun acht Tage hier und geht morgen fort. Es war mir köstlich, einen recht eingefleischten Versailler in der Fremde zu sehen. Der reist nun auch! Und ich betrachte mit Erstaunen, wie man reisen kann, ohne etwas außer sich gewahr zu werden, und er ist in seiner Art ein recht gebildeter, wackrer, ordentlicher Mann.

      Den 12. Oktober.

      Gestern gaben sie zu St. Lukas ein neues Stück: »L’Inglicismo in Italia«. Da viele Engländer in Italien leben, so ist es natürlich, dass ihre Sitten bemerkt werden, und ich dachte hier zu erfahren, wie die Italiener diese reichen und ihnen so willkommenen Gäste betrachten; aber es war ganz und gar nichts. Einige glückliche Narrenszenen wie immer, das Übrige aber zu schwer und ernstlich gemeint, und denn doch keine Spur von englischem Sinn, die gewöhnlichen italienischen sittlichen Gemeinsprüche, und auch nur auf das Gemeinste gerichtet.

      Auch gefiel es nicht und war auf dem Punkt, ausgepfiffen zu werden; die Schauspieler fühlten sich nicht in ihrem Elemente, nicht auf dem Platze von Chiozza. Da dies das letzte Stück ist, was ich hier sehe, so scheint es, mein Enthusiasmus für jene Nationalrepräsentation sollte noch durch diese Folie erhöht werden.

      Nachdem ich zum Schluss mein Tagebuch durchgegangen, kleine Schreibtafelbemerkungen eingeschaltet, so sollen die Akten inrotuliert und den Freunden zum Urteilsspruch zugeschickt werden. Schon jetzt finde ich manches in diesen Blättern, das ich näher bestimmen, erweitern und verbessern könnte; es mag stehen als Denkmal des ersten Eindrucks, der, wenn er auch nicht immer wahr wäre, uns doch köstlich und wert bleibt. Könnte ich nur den Freunden einen Hauch dieser leichtern Existenz hinübersenden! Jawohl ist dem Italiener das ultramontane eine dunkle Vorstellung, auch mir kommt das Jenseits der Alpen nun düster vor; doch winken freundliche Gestalten immer aus dem Nebel. Nur das Klima würde mich reizen, diese Gegenden jenen vorzuziehen; denn Geburt und Gewohnheit sind mächtige Fesseln. Ich möchte hier nicht leben, wie überall an keinem Orte, wo ich unbeschäftigt wäre; jetzt macht mir das Neue unendlich viel zu schaffen. Die Baukunst steigt wie ein alter Geist aus dem Grabe hervor, sie heißt mich ihre Lehren wie die Regeln einer ausgestorbenen Sprache studieren, nicht um sie auszuüben oder mich in ihr lebendig zu erfreuen, sondern nur um die ehrwürdige, für ewig abgeschiedene Existenz der vergangenen Zeitalter in einem stillen Gemüte zu verehren. Da Palladio alles auf Vitruv bezieht, so habe ich mir auch die Ausgabe des Galiani angeschafft; allein dieser Foliante lastet in meinem Gepäck wie das Studium desselben auf meinem Gehirn. Palladio hat mir durch seine Worte und Werke, durch seine Art und Weise des Denkens und Schaffens den Vitruv schon nähergebracht und verdolmetscht, besser als die italienische Übersetzung tun kann. Vitruv liest sich nicht so leicht, das Buch ist an sich schon düster geschrieben und fordert ein kritisches Studium. Dessenungeachtet lese ich es flüchtig durch, und es bleibt mir mancher würdige Eindruck. Besser zu sagen: ich lese es wie ein Brevier, mehr aus Andacht als zur Belehrung. Schon bricht die Nacht zeitiger ein und gibt Raum zum Lesen und Schreiben.

      Gott sei Dank, wie mir alles wieder lieb wird, was mir von Jugend auf wert war! Wie glücklich befinde ich mich, dass ich den alten Schriftstellern wieder näherzutreten wage! Denn jetzt darf ich es sagen, darf meine Krankheit und Torheit bekennen. Schon einige Jahre her durft ich keinen lateinischen Autor ansehen, nichts betrachten, was mir ein Bild Italiens erneute. Geschah es zufällig, so erduldete ich die entsetzlichsten Schmerzen. Herder spottete oft über mich, dass ich all mein Latein aus dem Spinoza lerne, denn er hatte bemerkt, dass dies das einzige lateinische Buch war, das ich las; er wusste aber nicht, wie sehr ich mich vor den Alten hüten musste, wie ich mich in jene abstrusen Allgemeinheiten nur ängstlich flüchtete. Noch zuletzt hat mich die Wielandsche Übersetzung der »Satiren« höchst unglücklich gemacht; ich hatte kaum zwei gelesen, so war ich schon verrückt.

      Hätte ich nicht den Entschluss gefasst, den ich jetzt ausführe, so wär ich rein zugrunde gegangen: zu einer solchen Reife war die Begierde, diese Gegenstände mit Augen zu sehen, in meinem Gemüt gestiegen. Die historische Kenntnis förderte mich nicht, die Dinge standen nur eine Hand breit von mir ab; aber durch eine undurchdringliche Mauer geschieden. Es ist mir wirklich auch jetzt nicht etwa zumute, als wenn ich die Sachen zum erstenmal sähe, sondern als ob ich sie wiedersähe. Ich bin nur kurze Zeit in Venedig und habe mir die hiesige Existenz genugsam zugeeignet und weiß, dass ich, wenn auch einen unvollständigen, doch einen ganz klaren und wahren Begriff mit wegnehme.

      Venedig, den 14. Oktober, 2 Stunden in der Nacht.

      In den letzten Augenblicken meines Hierseins: denn es geht sogleich mit dem Kurierschiffe nach Ferrara. Ich verlasse Venedig gern; denn um mit Vergnügen und Nutzen zu bleiben, müsste ich andere Schritte tun, die außer meinem Plan liegen; auch verlässt jedermann nun diese Stadt und sucht seine Gärten und Besitzungen auf dem festen Lande. Ich habe indes gut aufgeladen und trage das reiche, sonderbare, einzige Bild mit mir fort.

      Ferrara bis Rom

      Den 16. Oktober, früh, auf dem Schiffe.

      Meine Reisegesellschaft, Männer und Frauen, ganz leidliche und natürliche Menschen, liegen noch alle schlafend in der Kajüte. Ich aber, in meinen Mantel gehüllt, blieb auf dem Verdeck die beiden Nächte. Nur gegen Morgen ward es kühl. Ich bin nun in den fünfundvierzigsten Grad wirklich eingetreten und wiederhole mein altes Lied: dem Landesbewohner wollt ich alles lassen, wenn ich nur wie Dido so viel Klima mit Riemen umspannen könnte, um unsere Wohnungen damit einzufassen. Es ist denn doch ein ander Sein. Die Fahrt bei herrlichem Wetter war sehr angenehm, die Aus- und Ansichten einfach, aber anmutig. Der Po, ein freundlicher Fluss, zieht hier durch große Plainen, man sieht nur seine bebuschten und bewaldeten Ufer, keine Fernen. Hier wie an der Etsch sah ich alberne Wasserbaue, die kindisch und schädlich sind wie die an der Saale.

      Ferrara, den 16. nachts.

      Heute früh sieben Uhr deutschen Zeigers hier angelangt, bereite ich mich, morgen wieder wegzugehen. Zum erstenmal überfällt mich eine Art von Unlust in dieser großen und schönen, flachgelegenen, entvölkerten Stadt. Dieselben Straßen belebte sonst ein glänzender Hof, hier wohnte Ariost unzufrieden, Tasso unglücklich, und wir glauben uns zu erbauen, wenn wir diese Stätte besuchen. Ariosts Grabmal enthält viel Marmor, schlecht ausgeteilt. Statt Tassos Gefängnis zeigen sie einen Holzstall oder Kohlengewölbe, wo er gewiss nicht aufbewahrt worden ist. Auch weiß im Hause kaum jemand mehr, was man will. Endlich besinnen sie sich um des Trinkgeldes willen. Es kommt mir vor, wie Doktor Luthers Tintenklecks, den der Kastellan von Zeit zu Zeit wieder auffrischt. Die meisten Reisenden haben doch etwas Handwerkspurschenartiges und sehen sich gern nach solchen Wahrzeichen um. Ich war ganz mürrisch geworden, so dass ich an einem schönen akademischen Institut, welches ein aus Ferrara gebürtiger Kardinal gestiftet und bereichert, wenig teilnahm, doch erquickten mich einige alte Denkmale im Hofe.

      Sodann erheiterte mich der gute Einfall eines Malers. Johannes der Täufer vor Herodes und Herodias. Der Prophet in seinem gewöhnlichen Wüstenkostüme deutet heftig auf die Dame. Sie sieht ganz gelassen den neben ihr sitzenden Fürsten, und der Fürst still und klug den Enthusiasten an. Vor dem Könige steht ein Hund, weiß, mittelgroß, unter dem Rock der Herodias hingegen kommt ein kleiner Bologneser hervor, welche beide den Propheten anbellen. Mich dünkt, das ist recht glücklich gedacht.

      Cento, den 17. abends.

      In einer bessern Stimmung als gestern schreibe ich aus Guercins Vaterstadt. Es ist aber auch ein ganz anderer Zustand. Ein freundliches, wohlgebautes Städtchen von ungefähr fünftausend Einwohnern, nahrhaft, lebendig, reinlich, in einer unübersehlich bebauten Plaine. Ich bestieg nach meiner Gewohnheit sogleich den Turm. Ein Meer von Pappelspitzen, zwischen denen man in der Nähe kleine Bauerhöfchen erblickt, jedes mit seinem eignen Feld umgeben. Köstlicher Boden, ein mildes


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