Einfach nur so leben. Volker W. Degener
roten Streifen stand ihm prima.
Richtiggehend wütend wurde ich, als ich merkte, daß er wirklich mit allen Ehren entlassen wurde. Er war am Ziel. Er sah neue Aufgaben vor sich. Blacky ließ mich hier einfach zurück. Der zuständige Rennarzt verfügte mich in die geschlossene Abteilung des Trainingszentrums. Verfluchter Kerl, der Blacky. Ließ mich ganz allein losfahren mit der schweren Maschine.
Unser Trainingsprogramm für den neuen Rekord hatten wir noch gar nicht ganz abgeschlossen. Vielleicht wollte er ohne mich weitermachen. Hinter meinem Rücken sozusagen. Er sah in mir, weil ich so gut fuhr, einen gefährlichen Konkurrenten. Zum Schluß hatte er mir nicht einmal mehr die Hand geschüttelt, als er hinausging auf die Piste. Feiner Sportsmann. Aber immerhin war ein Funke dieser Begeisterung von ihm zu mir übergesprungen. Und die meisten Routen kannte ich inzwischen genau, sogar besser als er. Wir werden schon sehen.
Lianen
Was ist los mit dir?
Ich weiß es auch nicht.
Setz dich erst mal.
Laßt mich in Ruhe.
Das Personal hat sich um ihn versammelt. Ein enger Halbkreis neugieriger Gesichter dringt auf ihn ein. Jacobs meint, keine Luft mehr zu bekommen. Luftmangel macht ihm seit einigen Wochen zu schaffen.
Bleibt, wo ihr seid!
Er sieht so komisch aus.
Holt einen Arzt.
Nein, es ist nichts, sagt Jacobs.
Was hat er gesagt?
Nichts, das hat er schon oft gesagt.
Sie mögen ihn, den alten Eigenbrötler, der oben im fünften Stock ein dunkles Zimmer mit schrägen Wänden bewohnt. Bevor er Portier im Savoy Hotel wurde, fuhr er siebenunddreißig Jahre zur See. Das wissen sie, und eine Menge seiner kuriosen Geschichten kennen sie auch. Hans Jacobs erzählte gern von seinen Fahrten. In den tristen Morgenstunden war er der einzige, der im Hotel noch etwas erzählte. Das Wacheschieben steckte ihm in den Knochen.
Seht euch seine Hände an.
Der reißt sich ja das Hemd kaputt.
Wann kommt denn endlich ein Arzt?
Um diese Zeit?
Bitte, keinen Auflauf, denkt an die Gäste.
Der Chef wird wieder explodieren.
Er sieht so aus, als wollte er uns was Wichtiges sagen. Laßt mich hier vor dem Spiegel, sagt Jacobs.
Uber die meisten seiner Fahrten hatte er ihnen berichtet, exakte Schilderungen geliefert, nichts ausgelassen, nichts hinzugefügt. Er legte gleich los, wenn man ihn fragte. Bis auf diese eine Geschichte, von der er nicht wußte, ob er sie erzählen sollte, obwohl er immer wieder danach gefragt wurde, wenn die Leute seinen rechten Arm sahen. Jetzt wird er ihnen alles erklären. Dann werden sie ihn nicht mehr so neugierig anstarren.
Seine großen Hände zittern wieder stark. Sein Kopf schaukelt ein wenig, Jacobs hat Mühe, sich auf dem Stuhl zu halten. Mit einer Hand kratzt er sich vorsichtig unter dem geöffneten Hemd. Es schmerzt.
Das Dröhnen in seinen Ohren wird ständig stärker. Nie konnte er sich daran gewöhnen, obwohl er es schon lange an sich selbst miterlebt. Stimmen sind unüberhörbar geworden. Das Geräusch in seinem Kopf wird von Erlebnisfetzen überlagert. Seine eigenen vier Wände sind ihm fremd. Alles drängt durcheinander. Das muß geordnet werden. Das gelingt ihm vielleicht, wenn er zu erzählen anfängt. Er ist sich nicht sicher, ob irgend jemand etwas versteht.
In Shimizu hatte es einen jungen Japaner mit außergewöhnlicher Begabung gegeben, einen äußerst sensiblen Künstler der farbigen Nadelstiche, wie man sagte. Er schuf Tätowierungen ohne jeden Makel, herrliche Kompositionen. Seine Originalität war stadtbekannt, wie man sagte, vor allem in Seemannskreisen rühmte man ihn, auf offener See war er in aller Munde, jeder im Hafen wußte etwas über ihn zu berichten. Hans Jacobs fand ihn ohne Schwierigkeiten, als sein Schiff dem warmen Kuroshio-Strom folgte und im Hafen Shimizu anlegte.
Er schwankt auf seinem Stuhl, man hält ihn, der immer wieder an den Knöpfen seines Hemdes zerrt, behutsam an den Armen fest.
Zunächst trieben Jacobs nur Neugier und Langeweile zu dem großen Meister. Die Ornamente, Anker und Frauen, die albernen Sprüche, wogenden Brüste, die interessierten ihn nicht besonders. Als er in der bescheidenen Hütte des jungen Mannes stand, wunderte er sich, daß er ohne Zögern den Arbeitsraum betreten hatte.
Der Tätowierer arbeitete nur wenige Stunden am Tag, konzentriert, verbissen, langsam. Dann verschwand er für den Rest des Tages, was zu Spekulationen Anlaß gab. Das hatte man Hans Jacobs vorher erzählt. Er wußte Bescheid.
Damit wollte er seine Geschichte beginnen:
Der Tätowierer richtete seine dunklen Augen ernst und abweisend auf den Fremden.
Sie kommen wegen einer Tätowierung, fragte der Japaner. Vielleicht, ich will mich nur umsehen.
Bitte sehr.
Danke.
Nehmen Sie sich Zeit.
Jacobs sieht in den Garderobenspiegel. Mühsam dreht er sich seinem Spiegelbild zu. Er ist erschreckt. Seine Gesichtshaut wird immer blasser. Was ihn dort aus dem Spiegel anglotzt, kann nichts mit ihm gemeinsam haben. Er ließ sich Zeit. Er betrachtete alle Muster gründlich. Er suchte lange nach dem richtigen Muster. Er wählte zögernd, wollte sich noch nicht festlegen. Der Tätowierer beobachtete ihn unauffällig. Das haben die Japaner so an sich, hatte man Jacobs erzählt. Immer mehr Muster kramte der junge Mann aus einem staubigen Stoß Vorlagen hervor. Scheinbar teilnahmslos legte er sie auf den Tisch unter dem Fenster. Sein Asketengesicht bekam erst Glanz, als Jacobs endlich ein Ornament ausgesucht hatte, das der Japaner ihm zum Schluß vorlegte. Die schmalen Hände des Fachmanns wurden unruhig, als sie die von kostbarem Papier umgebene Vorlage hervorzogen.
Wie lange werde ich das noch aushalten, fragt sich Jacobs. Sein Spiegelbild verzerrt sich zur Unkenntlichkeit. Er möchte Fragen beantworten. Aber niemand stellt Fragen. Es muß doch weitergehen mit der Geschichte.
Wie lange wird es dauern, fragte Jacobs.
Vier Tage, mein Herr.
Vier Tage, das geht nicht, in zwei Tagen geht mein Schiff. Dann kann ich es nicht machen, mein Herr.
Enttäuschung peinigte das Gesicht des Japaners. Aber Hans Jacobs hatte sich in den Kopf gesetzt, Shimizu nicht ohne Tätowierung zu verlassen. Seine Starrköpfigkeit konnte er sich selbst nicht erklären. Und die anderen auf dem Schiff würden ihn für verrückt halten.
Na schön, ich werde abheuern.
Sie werden es nicht bereuen, mein Herr.
Schon gut, sagte Jacobs.
Er packte seine Habseligkeiten in einen Seesack und ein mit Arabesken verziertes grünes Tuch und brachte alles mit zu dem Tätowierer.
Der Japaner arbeitete tatsächlich nur jeweils zwei Stunden am Tag. Er konzentrierte sich, man hatte es oft genug erklärt, ganz auf sein Werk, ließ mit dem Schattierstift eine Skizze auf Jacobs Haut entstehen, beschäftigte sich lange mit dem Desinfizieren der Stifte. Alle anderen Kunden schickte er fort. Seine Augen machten aufgeregte Wanderungen während der Arbeit unter der nackten Glühbirne auf der nackten Haut des Seemanns. Sobald er den ersten Nadelstich setzte, stand Schweiß auf seiner Stirn.
Jacobs lebte in der Hütte, schlief nachts auf der Strohmatte und teilte auch das Essen, das er im Hafen erstand, mit dem Japaner, der wider Erwarten nach der Arbeit nicht spurlos verschwand, kochte Tee, unterhielt sich lange Nächte hindurch mit ihm. Sie sprachen von den wenigen Möglichkeiten, dem eigenen Empfinden höchsten Ausdruck zu geben, von dem Wunsch nach einem besonderen Kennzeichen, von der schlichten Freude, ein Bild zu sein. Jacobs ging von Zeit zu Zeit in den Hafen, um nach den einlaufenden Schiffen zu sehen.
Ich halte es nicht mehr aus, denkt Hans Jacobs, vielleicht sagt