Aufgetaucht. Victoria Arlen

Aufgetaucht - Victoria Arlen


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erfinden?

      Jeder hat schon einmal den Spruch gehört: „Das ist alles Kopfsache.“ Meistens ist das einfach eine flapsige Art zu sagen: „Lass dich nicht so gehen“ oder „Reiß dich zusammen“. Ich habe nie gedacht, dass dieser Spruch ernst gemeint sein könnte. Aber die Ärzte, zu denen ich komme, gebrauchen mir gegenüber solche Formulierungen und verwenden Worte wie psychosomatisch. Damit wollen sie ausdrücken: „Du machst das nur, um Aufmerksamkeit zu bekommen!“ oder sie wählen das Wort als Umschreibung für: „Wir haben keine Ahnung, was mit dir los ist!“. Aber letztendlich läuft alles auf das Gleiche hinaus: Sie glauben mir einfach nicht.

      Immer öfter höre ich Sätze wie: „Die Schmerzen, die du hast, sind in Wirklichkeit gar nicht da, Victoria. Ja, der Reflex in deinem rechten Bein funktioniert nicht mehr und du hast Probleme beim Gehen, aber mach dir keine Sorgen. Das ist alles nur Kopfsache. Lege einfach den Schalter um, dann geht es dir wieder gut“ oder „Du fühlst dich nicht gut? Du bist ein Drilling. Du willst nur mehr Aufmerksamkeit bekommen. Medizinisch ist alles in Ordnung. Dir geht es gut.“

      Mir geht es NICHT gut.

      Kann mir jemand helfen?

      Oder mir sagen, was los ist?

      Bitte?

      Bitte!

      Etwas stimmt ganz und gar nicht mit mir. Das weiß ich, aber das scheint keinen Arzt zu interessieren. Mit mir geht es rasant bergab.

      Bitte.

      Bitte glaubt mir!

      Bitte helft mir!

      Ich werde von einem Arzt zum anderen geschickt, aber keiner hilft mir. Seit meinem Besuch in einer bekannten Kinderklinik in Massachusetts hat man mir anscheinend den Stempel „psychisch krank“ verpasst, und kein Arzt nimmt mich mehr ernst.

      Aber ich habe Schmerzen.

      So starke Schmerzen.

      Warum hört mir keiner zu?

      Etwas stimmt hier nicht!

      Ich bin nicht verrückt.

      Bitte.

      Ich bin nicht verrückt.

      Meine Familie und ich wissen es damals nicht, aber die lange Reihe von Fehldiagnosen beginnt gerade erst.

      *

      Jetzt ist Juni. Der Sommer rückt mit Riesenschritten näher, und ich will nichts anderes, als mit meinen Freunden spielen und das Schuljahr abschließen. Ich bete jeden Abend, dass ich wieder gesund werde und zu Kräften komme. Inzwischen kann ich die Schmerzen einigermaßen aushalten – ich habe mich an sie gewöhnt –, aber die Schwäche in meinen Beinen ist beängstigend. Ohne meine Beine verliere ich schnell meine Selbstständigkeit. Ich verpasse schon jetzt so viel. Ich möchte einfach wieder mein gewohntes Leben zurückhaben.

      Irgendwann fangen beide Füße an zu brennen, als ginge ich über heiße Kohlen. Stechende Schmerzen schießen an meinen Beinen hinauf. Jeden Tag ziehen sie höher und höher und werden immer stärker. In meinen Beinen wütet die gleiche Art von Schmerz wie in meiner rechten Seite. Ich ziehe meinen rechten Fuß immer noch nach, und jetzt geben auch noch meine Knie nach. Jedes Mal, wenn ich stehe, sacken sie unter mir zusammen, und ich knicke zu Boden. Trotzdem bin ich fest entschlossen, mir von niemandem helfen zu lassen. Deshalb hangle ich mich an Möbeln und an der Wand entlang, um mich auf den Beinen halten zu können.

      Das vergeht bestimmt wieder.

      Falsch.

      Meine Beine werden schwächer. Ich kann nicht mal mehr mit den Zehen wackeln. Und die Schmerzen werden noch stärker.

      Doch eines Morgens sind sie abrupt weg. So sehr ich es feiern möchte, dass ich schmerzfrei bin, wären mir die Schmerzen doch lieber als das, was danach kommt: Nichts.

      Keine Bewegung mehr. Keine Funktion. Nichts. Ganz tief innen weiß ich genau:

      Hier stimmt etwas absolut nicht.

      Ende Juni bezeichnen die Ärzte in zwei weiteren großen Kliniken in Massachusetts meinen Zustand erneut als „psychosomatisch“. Da sie nicht erklären können, was ich habe, bezeichnen auch sie mich als „psychisch krank“, um meinem Zustand irgendeinen Namen zu geben. Das bedeutet im Klartext: Die Ärzte schreiben mich nun ganz ab und weigern sich, mir zu glauben, geschweige denn zu helfen. In einem verzweifelten Versuch, Antworten zu bekommen, bringt mich meine Mutter zu einem Heilpraktiker in Connecticut. Der Heilpraktiker macht sich große Sorgen um mich und greift sofort zum Telefon. Ehe wir uns versehen, sind wir unterwegs in ein weiteres großes Krankenhaus, dieses Mal in New York City. Zuerst sind die Ärzte ernsthaft besorgt und führen eine Reihe von Untersuchungen durch. Aber als eine Untersuchung nach der anderen keine eindeutigen Schlussfolgerungen nahelegt, kratzen sie sich ratlos am Kopf und fragen sich: Was bringt ein normales elfjähriges Mädchen, das immer aktiv und gesund war, dazu, so zu werden?

      Nach ungefähr einer Woche mit vielen Untersuchungen und erfolgloser Physiotherapie kommt eine der leitenden Ärztinnen zu uns ins Zimmer, hebt die Hände und sagt: „Ich habe keine Ahnung, was hier los ist.“ Dann geht sie und gibt uns lediglich ein Rezept für eine weitere Runde Physiotherapie. Und einen Rollstuhl.

      Rollstuhl?

      Das ist nur vorübergehend, oder?

      Meine einzige Berührung mit einem Rollstuhl hatte ich, als sich ein Mitschüler in der vierten Klasse bei einem Motorradunfall das Bein gebrochen hatte. Er hatte einen echt coolen gelben Rollstuhl, und ich erinnere mich, dass ich mich gefragt habe, wie es wohl sein muss, den ganzen Tag darin zu sitzen. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich eines Tages selbst in einem Rollstuhl hocke und dass der Rollstuhl für sehr lange Zeit die einzige Möglichkeit sein würde, mich fortzubewegen.

      Erst jetzt fange ich an, wirklich zu begreifen, dass meine Beine nicht mehr funktionieren. Ich kann mir aber absolut nicht erklären, warum sie mir nicht gehorchen.

      Warum kann ich nicht gehen?

      Warum kann ich meine Beine nicht fühlen?

      Wackle, Zeh!

      Bitte, wackle!

      Mein ganzes Leben lang war ich aktiv. Ich bin herumgerannt und habe getanzt, ohne irgendwelche Probleme zu haben. Und jetzt? Ich kann nicht einmal meine Fußzehen bewegen. Ich starre stundenlang meine Füße an und suche verzweifelt nach einem Lebenszeichen. Jede Minute, die vergeht, verstärkt meine Angst und Verwirrung.

      HILFE!

      Hauptsache, ich bin rechtzeitig zum Feldhockey-Camp im Juli wieder gesund! Ich bin fest entschlossen, in der sechsten Klasse in der Startmannschaft zu spielen. Aber für das Feldhockey-Camp müsste ich mich zumindest auf den Beinen halten können …

      Das Feuerwerk erhellt den Himmel und am See wird gefeiert. Es ist der 4. Juli, der amerikanische Nationalfeiertag. Ich sitze in meinem Rollstuhl vor dem Seehaus meiner Familie und bin verwirrt und traurig. Ich kann nicht mit den anderen Kindern herumlaufen, und es macht mich richtig krank, dass selbst das Sitzen in meinem Rollstuhl so ermüdend ist. Noch im letzten Sommer bin ich ohne die geringste Sorge mit den anderen herumgesprungen und habe mir das Feuerwerk angesehen. Jetzt klammere ich mich an diese Erinnerung wie an eine Rettungsleine. Meine Welt bricht in sich zusammen.

      Was geschieht mit mir?

      Was ist aus dir geworden, Victoria?

      Warum gibt mir niemand eine Antwort?

      Warum glauben mir die Ärzte nicht?

      Bin ich am Ende wirklich verrückt?

      Aber ich weiß, dass ich es nicht bin und dass das, was ich spüre beziehungsweise nicht spüre, echt ist. Doch ich fühle mich von den Ärzten im Stich gelassen, von denen immer wieder nur die Aussage kommt: „Das ist reine Kopfsache.“ Mein Zustand verschlechtert sich weiter, aber die „Spezialisten“ glauben mir nicht und helfen mir nicht.

      Meine Mutter macht mir immer wieder Hoffnung. Sie weigert sich zu akzeptieren, dass „man nichts machen kann“. Ihr Glaube


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