Das sogenannte Alte Testament. Gertrud Geddert
in die Freiheit, in die Selbstbestimmung …«
So verdrehte die Schlange die Wahrheit. Es stimmt, Gott wollte tatsächlich, dass die Menschen sich frei entscheiden, und dazu gehört ein gewisses Maß an Selbstbestimmung. Aber dass die Menschen direkt gegen Gottes Wort handeln, das hatte Gott zwar ermöglicht, aber keineswegs beabsichtigt. Gott war ein Risiko eingegangen, und das schlimmste, was hatte geschehen können, war tatsächlich eingetreten: Die Menschheit hatte sich entschieden, ihre eigenen Wege zu gehen.
Die Rede der Schlange war überzeugend gewesen. Aber als Eva und dann auch Adam Schritte in die Freiheit wagten, kam alles ganz anders, als die Schlange versprochen hatte. Angeblich würden sie wie Gott werden, doch die ersten Auswirkungen waren nicht sehr verheißungsvoll. Zuvor hatten sie in Harmonie mit ihrem Schöpfer und seiner Schöpfung gelebt. Jetzt wurde diese Harmonie an allen Ecken und Enden angekratzt. Gott suchte wie immer Gemeinschaft mit ihnen, aber nun versteckten sich die Menschen vor ihm (1. Mose 3,8–9). Anstelle der vorherigen intimen Beziehung herrschte jetzt Angst und der Wunsch, sich zu verbergen. Der Mann fing an, der Frau die Schuld zuzuweisen, beide begannen sich zu schämen (1. Mose 3,7.12–13).
Kurz darauf erfahren wir, dass der Auftrag Gottes, die Erde zu bevölkern, nur mit Schmerz erfüllt werden kann, und dass Gottes Auftrag, den Garten zu pflegen, als Überdruss und Kampf erlebt werden wird (1. Mose 3,16–19). Auch der Kampf zwischen dem Nachwuchs der Menschen und der Schlange wird vorausgesagt, ein Kampf, der zu den Hauptthemen der ganzen Bibel gehört. Die Menschheit lebt jetzt in einer Welt, die zwar immer noch Gottes gute Schöpfung darstellt, aber gleichzeitig auch ein Kampfgebiet zwischen Gut und Böse ist. Die Kampflinie scheint oft zwischen Menschen zu liegen, zwischen Feinden oder zwischen Religionen. Aber die Linie führt auch durch das Herz eines jeden Menschen: Wir haben ein zwiespältiges Herz und brauchen Gottes Hilfe, um wieder heil zu werden. Und das gilt nicht nur für uns persönlich, sondern auch für unsere Familien, unsere Gesellschaft, unsere Welt. »Jetzt wissen wir, wer der Feind ist: wir selbst.«
Doch nicht nur wir sind unsere Feinde: Durch die Schlange spricht eine Macht, die sich irgendwie gegen Gott und seine gute Welt stellt. Woher kam das Böse ursprünglich? Mit diesem Thema beschäftigten sich bereits die besten theologischen Köpfe, doch nur wenige Aussagen sind unumstritten. Aus unserer Sicht können wir folgende Ankerpunkte festmachen, die uns bei der Frage nach Gut und Böse weiterhelfen:
• Gott erschuf alles, was außer Gott existiert. Seit Ewigkeiten existiert nur Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde. Das Böse entstand irgendwann einmal und hat daher keinen gesicherten, bleibenden Platz.
• Gott ist absolut gut. Das Böse ist nicht Teil dessen, was Gott selbst ist oder was er will.
Theologische Erklärungsmodelle, die die Vorsehung und Allmacht Gottes zu sehr betonen – und zwar auf Kosten der Freiheit der Menschen und ihrer Verantwortung Gott gegenüber –, haben große Schwierigkeiten, mit den Fragen nach Gut und Böse umzugehen. Bei solchen theologischen Ansätzen sieht es so aus, als sei Gott daran schuld, wenn Böses geschieht.
Theologische Sichtweisen, bei denen die menschliche Freiheit stärker betont wird, betrachten Gott weniger als den alles kontrollierenden Gott, sondern stärker als liebenden, treuen Gott, der uns auch dann nah ist, wenn uns Böses widerfährt. Gott respektiert die Freiheit, die er uns gegeben hat, weil wir ihn nur so aus freien Stücken wiederlieben können.
Am besten errichten wir solche starren theologischen Systeme allerdings gar nicht erst, die es uns unmöglich machen, einfach auf Gottes Wort zu hören.
In 1. Mose 3 lesen wir, wie das erste Menschenpaar eine verbotene Frucht aß. Dies war der erste Schritt weg von Gott und seinem guten Plan. Wenn wir weiterlesen, ist bald von Mord und Rache die Rede (4,8.14.24). Schon im sechsten Kapitel der Bibel wird berichtet, wie das Böse die Oberhand gewann. Und so beschloss Gott, fast alles zu vernichten und neu anzufangen. Wir lesen von der Sintflut und dem Rettungsakt Gottes für Noah, dessen Familie und nur so vielen Vertretern der Tierwelt, wie in ein Schiff passen.
Was ist schief gelaufen?
Ursprünglich war die Welt »gut«, sogar »sehr gut« (1. Mose 1,10.31). Dann wurde durch den Sündenfall des ersten Menschenpaares vieles zerstört. Das Abbild Gottes wurde verzerrt. Zwischen Mann und Frau, Mensch und Mitmensch, Gärtner und Garten und vor allem zwischen Menschen und Gott bestand jetzt ein Zustand des ständigen Kampfes. Langsam verschlechterte sich die Lage, bis Gott beschloss, durch die Sintflut einen neuen Anfang zu machen. Aber auch das ging nicht lange gut und Gott verwirrte die Sprachen der Menschen, so dass diese in die weite Welt zerstreut wurden (»Babel-Geschichte« – 1. Mose 11).
Sollen wir diese Geschichten alle als historische Berichte lesen? Für manche Ausleger ist nichts wichtiger, als darauf zu bestehen, dass diese Texte wortwörtlich weitergeben, was damals geschah. Andere meinen, es gehe nur um die Bedeutung der Geschichte. Der Text wird dann als eine Erzählung verstanden, deren Geschichtlichkeit nicht wichtig ist. Oft wird behauptet, die Tierwelt führe schon seit Milliarden von Jahren einen Überlebenskampf. Es könne also kaum sein, dass alle im Garten friedlich zusammengelebt hätten, ehe die Menschen von der verbotenen Frucht aßen. Diese Ausleger behaupten, dass die ersten elf Kapitel der Bibel eher als Bildersprache und mythologische »Erklärungsgeschichten« verstanden werden sollten. Die Wahrheiten, die sie vermittelten, seien nicht so sehr »geschichtliche Tatsachen« als vielmehr Hinweise darauf, wie wir das Schicksal der Welt verstehen sollen.
Ist also die Geschichtlichkeit oder die Bedeutung wichtig? Beides! Irgendwie ist die Welt anders geworden, als Gott ursprünglich geplant hatte. Etwas ist im Lauf der Geschichte geschehen, was den Unterschied ausmachte. 1. Mose 3 erklärt, wie das geschehen ist. Aber das Ziel dieses Berichts ist, dass wir die Lektionen der Geschichte lernen und nicht nur an der Frage der Historizität hängen bleiben. Die Geschichten sind nicht erfunden, sondern Tatsachenberichte. Doch sie sind noch mehr als das: Sie erklären, wie die Welt so geworden ist, wie sie ist. Und sie geben uns Hinweise darauf, wie auch wir selbst manchmal von Gottes guten Absichten und Zielen abweichen.
An einigen Bibelstellen können wir sehen, dass die Versuchung aus dem Garten immer wiederkehrt, sogar oft mit drei ähnlichen Elementen. Eva stellte fest, dass es
1. köstlich wäre, von dem Baum zu essen,
2. dass der Baum eine Augenweide war und
3. dazu verlockte, klug zu werden (1. Mose 3,6; Einheitsübersetzung). Spätere Stellen zeigen, dass Israel in der Wüste ähnlichen Versuchungen ausgesetzt war und sie oft nicht bestand. Auch wir werden, parallel dazu, vor allem gewarnt, was in der Welt ist, die Begierde des Fleisches, die Begierde der Augen und das Prahlen mit dem Besitz (1. Johannes 2,16; Einheitsübersetzung). Die Versuchung von Jesus in der Wüste zeigt ebenfalls Parallelen: Er wurde versucht, aus Steinen Brot zu machen, Gott auf die Probe zu stellen und durch einen Schritt des Ungehorsams gegen Gott alle Reiche der Welt zu erlangen (Matthäus 4,1–11). So schreibt der Verfasser des Hebräerbriefes: [Jesus] wurde ja genau wie wir auf die Probe gestellt – aber er blieb ohne Sünde (Hebräer 4,15). Jesus wurde genauso versucht wie Adam und Eva, wie das Volk Gottes im Alten Testament und wie die Gläubigen im Neuen Testament.
Es ist wichtig, dass wir aus der Geschichte des Sündenfalls lernen, was dieses Ereignis uns über Gott und seine Welt lehrt (und was nicht).
• Gott schuf eine gute Welt, aber diese Welt blieb nicht gut. Es gibt zwar noch viel Gutes, aber auch Böses und Zerstörendes, das die Güte Gottes blockiert.
• Wir wurden beauftragt, Verwalter Gottes zu sein, Miterschaffende und Mitgestaltende der Geschichte. Diese Texte lehren uns, warum das notwendig ist, und auch, warum es so schwierig ist: Es ist notwendig, weil auf dieser Erde nicht alles im Einklang mit dem Willen Gottes geschieht. Und es ist schwierig, weil auch wir damit zu kämpfen haben, nach seinem Willen zu leben.
• Die Versuchung, den Willen Gottes zu missachten, kam von außerhalb des Menschen. In 1. Mose 3 ist die Rede von einer Schlange. An anderen Stellen lesen wir