Der Gartenpavillon - Skandinavien-Krimi. Elsebeth Egholm
und unerwartet jemanden zu verlieren, Panik hervorpeitschen konnte. Vielleicht war es ein Naturgesetz, dass alle einen früher oder später im Stich ließen. Vielleicht war es Teil des Mensenseins, dass Liebe plötzlich vergehen und verschwinden konnte, sich verändern konnte, wie wenn sie einen Mund oder eine Nase umgestaltete und das vorher bekannte und geliebte Gesicht fremd und beunruhigend wurde.
Sie wollte sich zusammenreißen und glitt dann doch ab ins Selbstmitleid, sie war sich dessen bewusst. Sie wünschte, dass es anders wäre. Dass sie stärker wäre. Aber ihr fehlte die Kraft, und sie wusste nicht, woher sie sie nehmen sollten.
Er schenkte sich noch einen Portwein ein. Das konnte nicht schaden.
Erik stieß heftig den Stuhl zurück. Dachte einen Augenblick an die Jahre in Hongkong und das Büro im St. George-Gebäude. Die Zeiten waren vorbei, als er nur die Beine auf den Tisch schwingen musste und die Welt allein dadurch steuern konnte, dass er aus dem Fenster sah und die Ideen aufmarschieren ließ. Sie einließ, wenn sie Schlange standen. Genau das hatten sie getan. Waren nahezu auf ihn eingestürmt, dass er Schwierigkeiten hatte eine Wahl zu treffen.
Aber das war vorbei. Heute würde er viel für eine einzige brauchbare Idee geben, an wen er sich jetzt wenden sollte.
Er seufzte. Beugte sich mühevoll hinunter und hob das Schachspiel auf. Das elektronische, das Kit ihm geschenkt hatte, als Henrik die Familie verlassen hatte. Weil er ihr Leid getan hatte, das wusste er, und es irritierte ihn. Lieber sollte sie ihre ganze Nervosität über Bord werfen und anfangen, ihr Leben zu leben. Aber so war sie nun einmal, Kit. Kaum zu glauben, dass sie seine Tochter war, aber er liebte sie so sehr. Kit war vorsichtig und nervös veranlagt wie ihre Mutter, hatte jedoch sein dunkles Aussehen. Karen-Lis war es, die sein Draufgängertum geerbt hatte. Seinen Mut. Kit hingegen konnte manchmal Angst vor ihrem eigenen Schatten haben, und für Stress und Druck war sie vollkommen ungeeignet. Aber das hatte er immer gewusst. Und darauf Rücksicht genommen, nicht zu vergessen. Manchmal vielleicht zu sehr.
Er stellte das Spiel auf. Warum auch nicht. Wenn niemand anderer da war, musste man eben gegen einen Computer spielen. Wenn es kein Gesicht gab, auf dem man lesen, keinen Feind, den man studieren konnte, musste man sich mit dem Nächstbesten begnügen.
Das Wort Feind ging ihm im Kopf herum, während er seinen Zug überlegte. Genau das war das Schwierige an dieser verdammten Situation. Der Feind hatte kein Gesicht. Der Feind war feige und versteckte sich hinter der Maske der Anonymität. Genau wie der Computer, weiß Gott.
Er hatte das Spiel ein paar Tage stehen gelassen. Konnte nur ein paar Züge durchführen, bevor es ihn zu langweilen begann. Er musste einräumen, dass er das Gesicht vermisste. Henrik vermisste, warum den Gedanken nicht denken. Aber trotzdem war er nicht wie Kit, die sich im Stich gelassen fühlte und sich in sich selbst zurückzog. Das war nicht seine Art. Wäre da nicht das Alter, hätte er die Schultern gezuckt. Herrgott noch mal, man verliert jemanden, und man gewinnt jemanden. So war das Spiel. Aber das Alter schien ihn zu verändern. Schien ihn auf den verkehrten Weg zu ziehen und weich zu machen. Er musste aufpassen. Bevor er sich versah, würde er womöglich noch seine Sünden bereuen. Gott bewahre! Vor solchen Menschen hatte er nie Respekt gehabt. Man sollte mit den Stiefeln an den Füßen sterben, hatte er immer gesagt. Mit Reue hatte er sich nie abgegeben. Er hatte damit gerechnet, die ganze Strecke durchzuhalten, auch wenn das Alter herannahte. Was es ja rein faktisch bereits getan hatte. Aber er hatte überlebt, als das Herz ihn gewarnt hatte.
Er machte seinen Zug mit einem der Läufer. Trank von dem Portwein und dachte ärgerlich, dass es eigentlich egal war. Nicht wie damals, als er über Kraft und Schnelligkeit verfügte. In Wirklichkeit war das hier nicht er. Es war eine Hülse von ihm, die hier saß und mit einem verdammten Computer Schach spielte.
Eine Weile dachte er über die Reue nach. Vielleicht gab es doch etwas, das er gerne aus dem inneren Strafregister gelöscht hätte. Nur eine einzige Sache. Keine schlechte Bilanz für ein ganzes Leben. Aber es war unmöglich, und er war Manns genug, damit zu leben.
Der Computer piepte und machte seinen Zug. Wie vorauszusehen, bewegte er den Turm auf seinen Läufer zu. Vielleicht hatte er doch eine Chance.
Er richtete sich auf. Noch war nicht alles verloren. Es war lange her, und seitdem hatte er nichts mehr gehört. Lange her, dass die Drohung aufgetaucht war, sein Leben zu zerstören und ihn schachmatt zu setzen. Vielleicht war es jetzt vorbei. Vielleicht war alles nur eine Täuschung, oder vielleicht konnte er sich freikaufen, das war auch eine Möglichkeit. Wenn er den Feind nur sehen könnte.
Er dachte eine Weile nach. Versuchte in die Zukunft zu denken. Drei Züge oder weiter. Aber er war nicht wie in den alten Tagen, vor drei Monaten, als Henrik und er stundenlang vor Zimmermanns antikem chinesischem Schachspiel mit den geschnitzten Figuren aus Elfenbein und Ebenholz sitzen konnten. Damals hatte er geglaubt, auf dem Gesicht seines Gegners lesen zu können.
Nun ja, vielleicht hatte er Henrik beim Schach besiegt. Aber er musste zugeben, dass Henrik zuletzt auf seinem Gesicht besser lesen zu können schien als er auf Henriks. Als wüsste er etwas, das ihm nicht zustand.
Erik Bennett seufzte. Versuchte noch einmal, nach vorn zu schauen. Drei Züge voraus zu sein. Aber vor seiner Nase schien eine Mauer zu stehen. Und hinter der Mauer lauerte der Feind.
Er packte das Spiel zusammen und leerte sein Glas.
2
»Gut siehst du aus, Mutter. Da in dem Licht gleichst du einem Engel.«
Ihre Mutter lächelte. Wehmütig, dachte Kit.
»Einem Weihnachtsengel? Hoffentlich keinem von den fetten.«
Kit schüttelte den Kopf. Suchte nach Worten. »Dem Engel des Lichts«, sagte sie schließlich. »Du siehst aus wie der Engel des Lichts, von Glanz umgeben.«
Es stimmte ja, dass die Sonne an diesem Morgen, an dem Tag nach dem Portweinritual, kurz ins Fenster hineinspähte und eine Art Glorienschein um das honigfarbene Haar ihrer Mutter bildete. Es hatte diese Farbe, so lange Kit zurückdenken konnte. Der Frisör hatte gute Arbeit geleistet, aber darüber sprach man nicht. Gott bewahre, ihre eigenen dunklen Locken wurden ja auch hin und wieder gefärbt. Der vornehmen Gestalt am Fenster konnte sowieso niemand ihre Schönheit nehmen.
»Der Engel des Lichts hat gerade eine fertige Leberpastete im Ofen«, sagte ihre Mutter, während sie die Form aus dem Ofen nahm.
Das vorvorletzte Türchen des selbst gebastelten Adventskalenders war geöffnet worden. Der Kalender hing an der Wand unter der Küchenuhr und erinnerte Kit daran, dass sie heute die restlichen Geschenke kaufen musste. Die Mitarbeiter von Kaliki hatten glücklicherweise immer am letzten Werktag frei. Der Adventskalender war eine Tradition, genau wie das Menü am Vorweihnachtsabend: Roggenbrot mit selbst gemachter Leberpastete und anschließend Milchreis. Auch in diesem Jahr, obwohl die Familie halbiert worden war.
Kit atmete den Duft der Leberpastete ein. Es war der Duft von Weihnachten. Der Duft von Familie.
Sie ließ sich auf der Küchenbank nieder und schenkte sich aus der Thermoskanne einen Morgenkaffee ein. Sie beobachtete ihre Mutter. Hellhäutig, groß und nordisch, in einer Schürze, die eine schöne Taille sichtbar machte. Sie war ihr Stolz, mehr noch als ihre Größe und die Grübchen. Mehr als das mädchenhaft lange Haar. Die Taille, die es mit jeder Taille in einem Brigitte-Bardot-Film hätte aufnehmen können. Karen-Lis hatte das Aussehen ihrer Mutter geerbt, doch ohne die Zartheit ihres Gesichts, dachte Kit, während sie ein Brötchen mit Butter bestrich. Sie wusste, dass ihre Mutter nur ihr zuliebe gelächelt hatte und auf die Bemerkung eingegangen war. Sie konnte es an der Stimme hören und an ihrer Haltung sehen. Ihre Mutter, die sonst immer gut gelaunt und frohen Sinnes war. Sie hatte die Traurigkeit nicht verdient, die in ihren Blick gekrochen war und die Kits Wut wieder unkontrolliert hochkommen ließ.
»Das kann sie doch nicht machen.«
Sie sah die Schultern ihrer Mutter, die sich verkrampften, als wäre die Kritik gegen sie gerichtet.
»Dieses eine Mal im Jahr«, fuhr Kit fort. »Ich könnte es ja verstehen, wenn sie Mann und Kinder und kein Geld hätte. Aber sie ist ungebunden.