Geteilt durch Null. Ted Chiang
Beinen der Bergarbeiter noch nicht nachgelassen, und Hillalum kam sich vor wie ein verkrüppelter alter Mann. Erst am vierten Tag fühlten sich ihre Beine besser an, und so zogen sie wieder ihre ursprüngliche Last. Ihr Aufstieg setzte sich bis zum Abend fort, als sie auf die zweite Zugmannschaft trafen, die ihnen mit leeren Karren auf der abwärts führenden Rampe raschen Schrittes entgegenkam. Die auf- und absteigenden Rampen wanden sich umeinander, ohne sich zu berühren, waren aber durch Korridore, die durch den Turm führten, miteinander verbunden. Nachdem die beiden Kolonnen in etwa auf gleicher Höhe waren, durchquerten sie den Turm, um die Wagen zu wechseln.
Die Bergarbeiter wurden den Karrenziehern der zweiten Etappe vorgestellt, und in dieser Nacht aßen sie zusammen und unterhielten sich miteinander. Am nächsten Morgen machte die erste Mannschaft die Karren für den Rückweg nach Babylon fertig, und Lugatum verabschiedete sich von Hillalum und Nanni.
»Gebt auf euren Wagen acht. Er ist den gesamten Turm öfter hinauf- und hinabgestiegen als irgendein Mensch.«
»Beneidest du auch den Karren?«, fragte Nanni.
»Nein, denn jedes Mal, wenn er die Spitze erreicht, muss er den ganzen Weg nach unten zurückkehren. Ich könnte das nicht aushalten.«
Als die zweite Mannschaft am Ende des Tages anhielt, kam der Karrenzieher hinter Hillalum und Nanni zu ihnen, um ihnen etwas zu zeigen. Sein Name war Kudda.
»Ihr habt noch nie die Sonne aus solcher Höhe gesehen. Kommt und schaut.« Der Karrenzieher ging zum Rand, setzte sich und ließ die Beine über die Kante baumeln. Er bemerkte, dass die beiden zögerten. »Kommt. Ihr könnt euch hinlegen und über den Rand blicken, wenn ihr wollt.« Hillalum wollte nicht wie ein ängstliches Kind wirken, konnte sich aber nicht überwinden, sich an den Rand eines Abgrunds zu setzen, der sich Tausende von Ellen unter seinen Füßen erstreckte. Er legte sich auf den Bauch, nur mit dem Kopf an der Kante. Nanni gesellte sich zu ihm.
»Wenn die Sonne untergeht, dann schaut an der Seite des Turmes hinunter.« Hillalum warf einen Blick nach unten und schaute dann schnell zum Horizont.
»Was ist hier am Sonnenuntergang anders?«
»Ihr müsst bedenken, dass es, wenn die Sonne hinter die Bergspitzen im Westen sinkt, in der Ebene von Shinar dunkel wird. Hier jedoch sind wir höher als die Berggipfel und können also die Sonne immer noch sehen. Die Sonne muss für uns noch weiter untergehen, bis wir Nacht haben.«
Hillalum war fassungslos. »Die Schatten der Berge markieren den Beginn der Nacht. Auf der Erde dort unten wird es früher Nacht als hier oben.«
Kudda nickte. »Ihr könnt zuschauen, wie die Nacht den Turm emporklettert, vom Boden zum Himmel. Sie bewegt sich rasch, aber ihr solltet sie sehen können.«
Er beobachtete den roten Feuerball für eine Weile, schaute dann hinab und streckte den Finger aus. »Jetzt!«
Hillalum und Nanni blickten hinunter. Am Fuße der gewaltigen Säule lag das kleine Babylon im Dunkeln. Dann kletterte die Schwärze den Turm hinauf, wie ein Vorhang, der zugezogen wurde. Sie bewegte sich so langsam, dass Hillalum glaubte, die Augenblicke zählen zu können, doch dann, als sie näher kam, beschleunigte sich die Finsternis, bis sie schneller, als er blinzeln konnte, an ihnen vorüberraste, und dann befanden sie sich im Zwielicht.
Hillalum drehte sich um und blickte nach oben, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die Dunkelheit den Rest des Turmes verschlang. Allmählich wurde der Himmel dunkler, während die Sonne in weiter Ferne hinter dem Rand der Welt versank.
»Ein beeindruckender Anblick, nicht wahr?«, sagte Kudda.
Hillalum blieb ihm die Antwort schuldig. Zum ersten Mal verstand er, was die Nacht war: der Schatten der Erde selbst, der wider den Himmel geworfen wurde.
Nachdem sie zwei weitere Tage hinaufgestiegen waren, hatte sich Hillalum etwas mehr an die Höhe gewöhnt. Obwohl sie sich fast fünftausend Schritt senkrecht über dem Erdboden befanden, war er in der Lage, am Rand der Rampe zu stehen und hinaufzuschauen. Allerdings hielt er sich an einer der Säulen fest und lehnte sich vorsichtig nach hinten. Da bemerkte er, dass der Turm nicht mehr wie eine glatte Säule aussah.
Er fragte Kudda: »Es hat den Anschein, dass sich der Turm verbreitert. Wie kann das sein?«
»Sieh genauer hin. Dort oben sind hölzerne Balkone an den Seiten befestigt. Sie sind aus Zypressen gemacht und werden von Flachsseilen gehalten.«
Hillalum kniff die Augen zusammen. »Balkone? Wozu?«
»Auf ihnen wird Erde ausgebreitet, sodass man dort Gemüse anbauen kann. Wasser ist knapp in jener Höhe, weshalb Zwiebeln am weitesten verbreitet sind. Weiter oben, wo es öfter regnet, gibt es auch Bohnen.«
»Wie kann es dort oben Regen geben«, fragte Nanni, »der nicht hier unten fällt?«
Kudda sah ihn überrascht an. »Er verdunstet in der Luft, ehe er ankommt, was sonst?«
»Oh, natürlich.« Nanni zuckte mit der Schulter.
Am Ende des darauffolgenden Tages erreichten sie die ersten Balkone. Dabei handelte es sich um flache, dicht mit Zwiebeln bepflanzte Vorbauten, die an Seilen befestigt waren, welche an der Turmmauer knapp unter den nächsthöheren Balkonen festgemacht waren. In jeder Etage barg das Innere des Turmes mehrere enge Räume, in denen die Familien der Zugmannschaften lebten. Frauen saßen in den Türöffnungen und nähten Tunikas oder gruben draußen Knollen aus. Kinder spielten Fangen und jagten einander über die Rampen und zwischen den Wagen der Karrenzieher auf der Rampe hindurch; der Abgrund, der neben ihnen gähnte, schien ihnen nicht die geringste Angst zu machen. Die Turmbewohner erkannten die Bergarbeiter gleich, und alle winkten und lächelten.
Als es Zeit für das Abendessen war, wurden alle Karren abgestellt und Essen und andere Güter für die hier Wohnenden abgeladen. Die Karrenzieher begrüßten ihre Familien und luden die Bergarbeiter zum Essen ein. Hillalum und Nanni aßen bei Kuddas Familie und genossen ein Mahl aus getrocknetem Fisch, Brot, Dattelwein und Früchten.
Hillalum bemerkte, dass dieser Abschnitt des Turmes einer kleinen Stadt glich, die sich zwischen zwei Straßen erstreckte – den auf- und abwärts verlaufenden Rampen. Es gab einen Tempel, in dem die Festtage begangen wurden; es gab Richter, die Streitigkeiten regelten; es gab Geschäfte, die von den Karawanen beliefert wurden. Stadt und Karawane waren aufeinander angewiesen: Keines konnte ohne das andere bestehen. Und doch war jede Karawane im Grunde eine Reise, etwas, das an einem Ort begann und an einem anderen endete. Diese Stadt war niemals als feste Einrichtung gedacht gewesen, sie war lediglich Teil einer Jahrhunderte währenden Reise.
Nach dem Essen fragte Hillalum Kudda und seine Familie: »Hat einer von euch jemals Babylon besucht?«
Kuddas Frau, Alitum, antwortete: »Nein, warum sollten wir? Es ist ein langer Weg, und alles, was wir brauchen, haben wir hier.«
»Wollt ihr nicht einmal euren Fuß auf den Erdboden setzen?«
Kudda zuckte mit den Schultern. »Wir leben an der Straße zum Himmel; unsere ganze Arbeit dient dazu, sie auszubauen. Wenn wir den Turm verlassen, dann über die Rampe nach oben, nicht nach unten.«
Während die Bergarbeiter ihren Aufstieg fortsetzten, kam schließlich der Tag, an dem der Turm denselben Anblick bot, ob man über den Rand der Rampe nun nach oben blickte oder nach unten. Nach unten hin verlor sich der Rumpf des Turmes im Nichts, lange bevor er die Ebene zu erreichen schien. Umgekehrt waren die Bergarbeiter allerdings auch noch weit davon entfernt, die Spitze des Turmes erkennen zu können. Alles, was zu sehen war, war ein Teilstück des Turmes. Hinauf- oder hinabzublicken war furchterregend, denn sie hatten jeglichen Bezug verloren; sie waren nicht länger ein Teil des Erdbodens. Der Turm hätte ein Faden in der Luft sein können, weder mit Erde noch Himmel verbunden.
Während jener Zeit gab es Augenblicke, in denen Hillalum verzagte, sich fehl am Platze und der Welt entfremdet fühlte; es kam ihm vor, als hätte die Erde ihn aufgrund seines Unglaubens zurückgewiesen, während der Himmel sich weigerte, ihn aufzunehmen. Er sehnte sich nach einem Zeichen Jahwes, auf dass er die Menschen wissen lasse, dass er ihr Unternehmen guthieß; wie sonst könnten sie an einem