Die Ritter der Elfenkönigin 6 - Das weiße Reh. Peter Gotthardt
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Peter Gotthardt
Das
weiße Reh
Die Ritter der Elfenkönigin
Sechstes Buch
Illustrationen von Jan Kjær
aus dem Dänischen von Julia Pfeiffer
Das Reich der Elfenkönigin
Weit hinter dunklen Bergen und dichten Wäldern liegt das Reich der Elfen. Hier regiert die Elfenkönigin Veronica. Mitten auf einer der grünen Wiesen ragt ein mächtiger Felsen hervor. Dort liegt das Schloss der Königin.
Im Schlossgarten wächst eine große Eiche, die ihre Zweige in alle Richtungen ausbreitet. Hier, im Schatten des Baumes, pflegt Königin Veronica zu sitzen, wenn sie gerade Hof hält. Vor ihrem Thron stehen Hofmänner und vornehme Damen, Ritter und Diener.
Die Königin ist für alle da, die ein Anliegen haben. Wenn jemandem Unrecht getan wurde, versucht sie es wieder gut zu machen. Wenn jemand in Not ist, wird ihm geholfen. Wenn ein Ungeheuer irgendwo im Königreich auftaucht, entsendet sie sogleich einen ihrer Ritter um die Gefahr aufzuhalten.
Das Königreich wird von Rittern bewacht, denn den Elfen drohen viele Gefahren. Außerhalb des Landes liegt das Reich der Schatten und dort treiben dunkle Kräfte ihr Unwesen.
Es war ein wunderschöner Herbsttag und die Königin und ihre Elfen waren in den Wald gegangen, um Nüsse zu sammeln. Am Waldrand leuchteten die reifen Hagebutten rot und unter den Bäumen wuchsen die Pilze zu tausenden.
Als die Körbe gefüllt waren, setzten sie sich ins Gras um ein Picknick zu machen. Der Troll Grobkorn hatte für das Essen gesorgt. Er war der Knappe des Ritters Juglans und er liebte es, sich für die Elfen nützlich zu machen. Im Picknickkorb befanden sich Brote und Butter, Käse und Zwiebelauflauf sowie Kuchen und Früchte. Natürlich hatte er auch daran gedacht, ein paar Flaschen des leckeren Hagebuttenweines der Elfen mitzunehmen.
„Mmmh!“, sagte Grobkorn mit vollem Mund. „Ich bin so hungrig wie ein Wolf, der seit Tagen nichts mehr gefressen hat.“
Ritter Aculeus konnte mit Grobkorns Tempo gut mithalten. Er lebte nach dem Motto: Ohne einen Happen Essen, kann man Helden gleich vergessen.
Unweit der anderen Elfen saß Aculeus’ Knappe Corilus zusammen mit seiner Freundin Nelike. Sie war vor einiger Zeit die Kammerzofe der Königin geworden. Corilus und Nelike waren unsterblich ineinander verliebt und konnten sich nichts Schöneres vorstellen, als einander tief in die Augen zu sehen.
Die Königin nahm einen großen Bissen einer goldenen Frucht aus dem Picknickkorb.
„Schmeckt nach Sonne und Sommer“, sagte sie. „So eine Frucht habe ich noch nie gesehen. Wo hast du sie gefunden, Grobkorn?“
„Die heißen Sonnenfrüchte“, wusste Grobkorn. „Ich habe sie ein paar alten Freunden abgekauft, die ich neulich im Wald getroffen habe.“
„Welche Freunde?“, fragte sie neugierig.
„Waldtrolle“, antwortete er. „Als sie den Wein aus meiner Feldflasche gekostet hatten, wollten sie mehr davon haben. Viel mehr. Ich habe ihnen gesagt, dass sie ihn kaufen könnten und wollte wissen, mit was sie bezahlen würden. Sie füllten mir also einen Wagen mit Sonnenfrüchten, Pelzen und Edelsteinen aus den Bergen. Ich dachte mir, dass wir das auf dem Schloss gut gebrauchen können und fuhr mit dem Wagen hierher.“
„Das können wir bestimmt“, sagte sie. „Was wollen sie als Gegenleistung?“
„Gemüse und Getreide“, antwortete er. „ Sie bauen nämlich selbst nichts an. Außerdem wollen sie Trommeln und Flöten, weil sie Musik lieben und gerne tanzen. Hagebuttenwein lieben sie natürlich auch. In ein paar Tagen werde ich den Wagen füllen und mit den Tauschwaren zu ihnen fahren.“
Während die anderen damit beschäftigt waren, Grobkorns Erzählungen zu lauschen, legte Corilus seine Arme um Nelike. Das war ein guter Zeitpunkt für einen langen, ungestörten Kuss.
Aber gerade als sich ihre Lippen berührten, stürmte ein großes Tier in die Lichtung, wo sie saßen. Es war ein weißes Reh, das mitten durch die verblüffte Menge sprang und auf der anderen Seite wieder im tiefen Wald verschwand.
„Aber he!“, rief Aculeus entsetzt. „Es hat meinen Honigkuchen geklaut!“
Die anderen konnten sich das Schmunzeln kaum verkneifen, doch Aculeus sprang auf und lief dem Tier nach.
„Schnell, hol unsere Pferde!“, rief er seinem Knappen zu. „Ich muss diesem Reh folgen!“
In aller Eile schnappte sich Corilus ein paar Stücke Brot, Honigkuchen und einige Flaschen des Weines aus dem Korb. Er schwang sich auf sein eigenes Pferd, das auf der Wiese graste und ritt mit dem anderen Pferd am Zaumzeug dem Ritter nach.
„Ein wundersamer Anblick“, sagte die Königin. „Ein Reh, so weiß wie Schnee. Ich meine gesehen zu haben, dass es um den Hals eine Kette trug. Was das wohl bedeutet?“
Corilus holte den Ritter schnell ein. Ohne zu überlegen sprang Aculeus in den Sattel und jagte dem Reh hinterher. In der Ferne konnte man sein weißes Fell noch glänzen sehen.
„Ist dir der Honigkuchen denn so wichtig?“ fragte Corilus nach einiger Zeit. „Ich habe frischen Kuchen hier, den das Reh noch nicht angesabbert hat.“
Der Ritter lachte laut und sagte: „Ich weiß schon, dass man mir nachsagt, ich sei verfressen, aber es ist nicht der Kuchen, hinter dem ich her bin. Es ist mein Schicksal, das mir befiehlt, diesem weißen Reh zu folgen.“
„Wie denn das?“, fragte Corilus.
„Wenn ich nachts manchmal nicht schlafen kann, dann höre ich oft eine Stimme, die von weit her zu kommen scheint“, erzählte Aculeus. „Diese Stimme flüstert mir, dass mich ein weißes Reh zu einem Ort führen wird, wo ich mein Schicksal vollziehen kann. Darum dürfen wir es jetzt keinesfalls aus den Augen verlieren.“
Das Reh hatte immer noch ein gutes Stück Vorsprung. Es sprang mit Leichtigkeit über umgestürzte Baumstämme und glitt ohne Beschwerden durch das dichteste Geäst.
Nur mit Mühe und Not konnten die beiden Reiter mithalten, doch das Reh schaffte es nicht sie nicht abzuhängen. Im Gegenteil: Mehrmals schien es fast so, als würde es seine Geschwindigkeit senken und darauf warten, das seine Verfolger ein Stück näher kamen.
„Das hier gefällt mir ganz und gar nicht“, sagte Corilus. „Man könnte ja fast glauben, dass uns das Reh bewusst lockt. Könnte es nicht sein, dass der König der Schatten versucht uns eine Falle zu stellen?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Aculeus. „Ich weiß nur, dass ich diesem Abenteuer folgen will – koste es, was es wolle. Aber du brauchst dein Leben nicht aufs Spiel setzen. Du kannst gerne nach Hause reiten, wenn du das lieber möchtest.“
„Umkehren?“, fragte Corilus. „Niemals! Ein Knappe geht mit seinem Herren durch dick und dünn.“
Corilus’ Traum war es, eines Tages selbst einmal Ritter zu werden, doch um den Ritterschlag zu erhalten, musste man erst beweisen, dass man ein guter Knappe war.
Sie folgten