Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte. Roy Jacobsen

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      Roy Jacobsen

      Der Sommer, in dem Linda schwimmen lernte

      Roman

      Aus dem Norwegischen von

      Gabriele Haefs

      Saga

      1

      Es fing damit an, dass meine Mutter und ich renovieren wollten. Das heißt, ich strich den untersten Teil der Wand, weil ich ziemlich klein war, es war ganz schön anstrengend, und Mutter stand auf einem Küchenstuhl und konzentrierte sich auf das, was oben unter die Decke gehörte. In Echtzeit dauerte es Monate, die eine Wand fertigzukriegen. Aber eines Abends kam Frau Syversen herein und sah unser Werk, verschränkte die Arme über ihrem gewaltigen Busen und fragte:

      »Willstes nich ma mit ner Tapete versuchen, Gerd?«

      »Tapete?«

      »Ja, komma mit rüber.«

      Wir gingen hinüber zu Frau Syversen in die Wohnung gegenüber, ich war noch nie dort gewesen, obwohl wir seit Jahren auf demselben Gang wohnten und auch Anne-Berit dort wohnte, ein Mädchen in meinem Alter, das in die Parallelklasse ging, und ihre beiden kleinen Schwestern, sechs Jahre alte Zwillinge, von denen gern die Rede war, wenn Mutter an mir irgendetwas auszusetzen hatte.

      »Sieh dir mal Reidun und Mona an«, hieß es dann. Oder sie verwies auf Anne-Berit, die es laut Frau Syversen witziger fand, im Haus zu sein, wo Bett und Essen sich befanden, als draußen auf der Straße, wo das Leben alle Möglichkeiten bot, mit seinem riesigen Vorrat an Verschalungsbrettern und Steinhaufen und Ziegeln, die zwischen den Wohnblocks herumlagen, oder auf den Wiesen mit Baumstümpfen und Baumstämmen und offenen Bächen und dickem Gestrüpp und unsichtbaren Lehmwegen, wo man aus Teerpappe und Pech und Bretterresten Feuer machen oder Hütten in zwei Etagen oder noch mehr bauen konnte, um die berühmte Schlachten ausgefochten wurden, von den Großen und Unbesiegbaren, Bauten, die einstürzten, wenn man sie scharf ansah, und die am Tag danach neu errichtet werden mussten, immer von anderen als denen, die sie zerstört hatten. Es sind nie dieselben, die bauen und die zerstören, und ich erwähne das, weil ich zu den Erbauern gehörte, obwohl ich klein war, und ich habe viele Tränen vergossen, wenn ich unsere Schlösser als Ruinen vorfand; es war die Rede von Repressalien und grausamer Rache, aber die Vandalen hatten nichts zu verlieren außer ihrer guten Laune und ihrem breiten Grinsen; schon hier war die übliche Arbeitsteilung zu ahnen, zwischen denen, die etwas zu verlieren haben, und denen, die das nie hatten und die auch nicht vorhaben, sich so etwas zuzulegen. Und diese Welt war nichts für Anne-Berit und ihre Schwestern, sie bauten nicht und sie rissen nicht ein, sie saßen rund um den Küchentisch und aßen zu Abend, rund um die Uhr, wie es mir schien, jetzt, wo Herr Syversen anwesend war; er thronte oben am Tisch, in Netzunterhemd und Hosenträgern, die über seinen beeindruckenden Bulldozeroberschenkeln hingen, während die Schenkel über den schmalen Stuhlsitz quollen.

      An den Wohnzimmerwänden von Familie Syversen sahen wir zum ersten Mal die großgeblümte Tapete, die in den sechziger Jahren norwegische Arbeiterwohnungen in kleine tropische Dschungel verwandeln sollte, mit schmalen Bücherregalen zwischen den Lianen, aus Teak und mit feschen Messingbügeln, und einem braun-, beige- und weißgestreiften Ecksofa, beleuchtet von unsichtbaren Lampen, die wie funkelnde Himmelskörper unter den Regalen angebracht waren. Ich konnte die ein wenig kühle Ferne in Mutters Blick sehen, zuerst eine mädchenhafte Begeisterung, die drei, vier Sekunden vorhalten mochte, das wusste ich, ehe sie in natürliche Verzagtheit umschlug, die wiederum in eine realistische Grundhaltung münden würde: »Nein, WIR können uns das nicht leisten. WIR nicht.« Oder: »Das ist nichts für uns«, usw. Und es gab damals ganz schön viel, das »nichts für uns« war, für Mutter und mich, da sie nur halbtags in dem Schuhladen in Vaterland arbeitete, um zu Hause zu sein, wenn ich aus der Schule kam, und die es deshalb nicht schaffte, ihren Jungen in Ferien zu schicken, wie sie es nannte, wenn der Frühling näherrückte, als ob ich irgendwohin geschickt werden wollte, ich wollte zu Hause sein, bei Mutter, auch im Sommer. Viele aus der Wohnsiedlung waren im Sommer zu Hause, auch wenn es galt, so zu tun, als sei man das nicht, oder jedenfalls, als ob man gar nicht in Ferien fahren wollte. »Ist das denn nicht sehr kostspielig?«, fragte sie, ein Wort, das wir nur verwenden, wenn wir mit anderen zusammen sind, unter vier Augen sagen wir teuer und meinen das auch.

      »Nicht doch«, sagte Frau Syversen, die schwedische Damenzeitschriften hielt, anders als Mutter, die nur norwegische las – und holte einen Stapel Damenzeitschriften aus einem Fach in dem tropischen Regenwald und schlug eine Reportage aus Malmö auf, während sie zugleich zu Herrn Syversen in die Küche rief, er solle kommen und die Quittungen hervorsuchen und sie Gerd zeigen.

      Ich sah den großen Mann an, der zustimmend schmunzelte und der das Wohlwollen in Person war, als er zum Teakgerüst watschelte und eine Schublade hervorzog, in der wohl kaum für viel mehr als für eine Ansichtskarte Platz war, und ich merkte, wie der seltsame Geruch nach erwachsenem und hart arbeitendem Mann in meinen Nasenlöchern scheuerte, und ich dachte, wie immer, wenn ich diesen riesigen Menschen zu dicht am Leib hatte, in Treppenhäusern und Hobbykellern, dass es vielleicht doch nicht so schlimm sei, dass ich keinen Vater hatte, auch wenn Herr Syversen freundlich und harmlos war und immer eine nette Bemerkung über Dinge auf Lager hatte, die mich nicht interessierten. Mit anderen Worten war seine Frau in dieser Familie für die gelungene Erziehung zuständig, der drei Mädchen, die immer in der Küche saßen und mit großen stummen Bewegungen kauten, während sie verstohlene Blicke zu uns herüber warfen.

      Das Interessante war, dass Mutter diese Quittungen nicht mit ihren üblichen Schlagwörtern abtun konnte, die Tapete war nämlich nicht sonderlich »kostspielig«, und sie war auch nicht in Schweden gekauft worden, sondern im Eisen- und Farbgeschäft im Årvollsenter, neben Sparkasse, Agda Manufaktur und Myklebust, wo wir unsere Lebensmittel besorgten, wenn wir aus irgendeinem Grund nicht zu Lien in den Travervei oder zu Omar Hansen in der Refstad allé gingen, und wo Mutter bis im vergangenen Jahr auch eine Gefriertruhe gemietet hatte, bis das zu teuer wurde, oder bis uns aufging, dass wir nicht wussten, was wir damit anfangen sollten; es war doch im Jahr der Berliner Mauer und Präsident Kennedys, vor allem war es wohl die Epoche von Juri Gagarin, dem Russen, der eine ganze Welt verblüffte, weil er vom sicheren Tod lebend nach Hause kam. Ansonsten war es auch zu jener Zeit, als ein Jaguar vom Typ Mark II 49300 norwegische Kronen kostete, eine Information, die ich hier nicht nur als Kuriosität aufnehme, sondern auch, weil ich diesen Preis und das Auto gesehen hatte, auf einer Autoausstellung in der Trabrennbahn von Bjerke, und weil ich beides nie mehr vergessen konnte, möglicherweise gefördert von dem Wissen, dass wir für unsere Wohnung 3200 Kronen als Depositum bezahlt hatten, und das bedeutete, dass der Jaguar so viel wert war wie sechzehn Wohnungen, wie ein ganzer Wohnblock mit anderen Worten. Und ein System, das ein Auto auf dieselbe Ebene stellt wie ein Zuhause für 76 quicklebendige Menschen jeden Alters, wie zum Beispiel im Dreier wohnten, das ist die Art von Wissen, von der man in der Kindheit getroffen wird wie von einem Güterzug und das man später nicht einfach loswird; denkt nur an all die Gerüche, jede Familie hat ihren Geruch, der sie von allen anderen unterscheidet, und an all die Gesichter und Stimmen, an den ungestimmten Chor der Wohnsiedlung, seht euch ihre Körper an, ihre Kleidung und ihre Bewegungen, wenn sie mit aufgekrempelten Hemdsärmeln beim Essen sitzen und sich streiten oder lachen oder jammern oder die Klappe halten und auf jeder Seite zweiunddreißigmal kauen. Was hat ein Jaguar gegen das alles zu bieten? Einen Revolver im Handschuhfach? Bestenfalls. Ich habe viel an dieses Auto gedacht, vermutlich zu viel, es war flaschengrün.

      »Aber dann kommt ja noch der Kleister dazu«, sagte Frau Syversen, als ob sie sich plötzlich in den Kopf gesetzt hätte, dass alles zu einfach klänge.

      »Nicht doch«, fiel Herr Syversen ihr ins Wort, er hieß Frank, wie sich nun herausstellte.

      »Was sagst du da, Frank«, sagte nämlich Frau Syversen spitz und nahm ihm die Quittungen ab und musterte sie mit kritischem Blick durch ihre rußschwarze sechseckige Brille, die nicht so leicht zu finden war zwischen hellblauen Porzellanfiguren und ovalen Zinnaschenbechern in einem Regalfach nach dem anderen, wo meiner Ansicht nach Bücher hingehört hätten; hatten sie in dieser Familie denn keine Bücher? Aber Frank zuckte nur gleichgültig mit den Schultern und lächelte Mutter an und legte mir eine bleischwere Pranke auf den kurzgeschorenen Kopf und sagte:

      »Na, Finn, bist du jetzt zu Hause


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