Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte. Roy Jacobsen

Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte - Roy Jacobsen


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war nachdenklicher denn je, als sie sich ans Kochen machte.

      »Wird sie nicht hier wohnen?«, fragte ich.

      »Nein, das kann ich dir sagen«, sagte sie. »Die hat ja keine fünf Öre. Und nix im Griff. Und Ingrid Olaussen heißt sie auch nicht ...«

      Ich wollte fragen, woher Mutter das alles wusste. Oder mich erkundigen, wieso eine Wildfremde ihr das alles anvertraut hatte? Aber im Laufe der halben Stunde, die ich im anderen Zimmer verbracht hatte, hatte mich ein seltsames Unbehagen überkommen, und die Antwort auf die beiden Fragen musste doch sein, dass Mutter sie von früher her kannte oder dass sie sich in ihr wiedererkannte. Und ich wollte nichts davon bestätigt haben, und deshalb konzentrierte ich mich auf das Essen, hatte aber trotzdem ein ziemlich klares Gefühl, dass es an Mutter Seiten gab, über die ich keinen Überblick hatte, nicht nur ihr plötzliches Ausbleiben am Vortag, für das es trotz allem eine Erklärung gab, ein Sofa, sondern die Tatsache, dass eine Wildfremde unser früher so ereignisloses, jetzt aber allzu renoviertes Zuhause betreten und auf dem frisch gekauften Sofa zusammenbrechen und alle Geheimnisse von sich geben durfte, um dann gleich vor die Tür gesetzt zu werden, ich sah mich nicht nur einem unlösbaren Rätsel gegenüber, sondern einem Rätsel, auf das ich vielleicht keine Antwort haben wollte.

      Ich blieb sitzen und musterte sie verstohlen, die nervöse, sich vor der Dunkelheit fürchtende, normalerweise aber so stabile und immerwährende Mutter, der Fels auf Erden und der Elefant im Himmel, jetzt jedoch mit einem Gesicht, das nicht wiederzuerkennen war.

      3

      Nun wurde das Untermietprojekt glücklicherweise für einige Wochen stillgelegt, so, als fürchte meine Mutter, dass ein neues Mysterium vor der Tür stehen könnte. Aber wie gesagt hatten wir ja abgemacht, dass wir rückwärts sparen wollten, und deshalb führte kein Weg an einer neuen Anzeige in Arbeiderbladet vorbei, zu fünfzig Öre das Wort. Und noch immer war meine Mutter reizbar und unkonzentriert, ich bekam den falschen Belag auf meine Brote, sie hörte nicht zu, wenn ich etwas erzählte, und sie verhaspelte sich, wenn sie uns abends vorlesen wollte.

      »Du kannst jetzt doch besser lesen als ich«, sagte sie zu ihrer Verteidigung, wenn ich sie darauf hinwies. Aber nicht deshalb hatte ich lesen gelernt, wir hatten eine Menge Bücher und wir würden sie alle lesen, Kinderbücher und Margit Söderholm und »Die Familie auf Jalna« und Kapitän Marryats »Sigismund Rüstig«, sowie das einzige von meinem Vater hinterlassene Buch, es hieß »Der unbekannte Soldat«, wir hatten es noch nicht gelesen, und laut meiner Mutter hatten wir auch nicht vor, es zu lesen, und alle Bücher waren in einem Karton im Schlafzimmer untergebracht, in Erwartung des Bücherregals, das wir vom Wohnkredit kaufen würden, wenn wir nur erst diesen verflixten Untermieter an Land gezogen hätten. Und als sie mir einmal nicht zuhörte, setzte ich mir plötzlich in den Kopf, ich sei ein anderer geworden. Es war kein klares und konkretes Gefühl, aber doch so eindringlich, dass ich fragte:

      »Mit welchem von uns redest du jetzt, mit mir oder mit dem da drüben?«

      Das kam gar nicht gut an.

      »Wie meinst du das?«, fragte sie verärgert und hielt mir einen Vortrag darüber, dass ich ab und zu reichlich unverständlich sein könne, was sie schon mehrmals erwähnt habe, es hing vielleicht damit zusammen, dass ich ein Junge war und dass sie glaubte, der Umgang mit einer Tochter wäre leichter gewesen.

      »Ich begreife nicht, was du da redest«, sagte ich sauer und ging in das Zimmer, das noch immer meins war, und legte mich aufs Bett, um allein zu lesen, in einer Jungen-Zeitschrift. Aber es war wie zumeist beim Protestlesen, ich konnte mich nicht konzentrieren, wurde nur noch wütender, als ich dort vollständig angezogen lag und mich fragte, wie lange ein kleiner Junge so liegen und darauf warten müsste, dass seine Mutter zur Besinnung kommen und ihm versichern würde, dass alles beim Alten sei, egal, ob Juri Gagarin uns alle in die Luft gehen ließ. Es dauert normalerweise nicht sehr lange, jedenfalls nicht hier in diesem Haus, aber jetzt geschah jedenfalls das Wunder, dass ich mitten in meiner Wut einschlief.

      Erst am nächsten Morgen entdeckte ich, dass sie dort gewesen war, ich trug nämlich meinen Schlafanzug und lag unter der Decke. Ich stand auf, zog mich an und ging in die Küche. Wir frühstückten, wie immer, und lachten über irgendeinen Dussel im Radio, der Wörter benutzte wie Bariton und U Thant. Aber sie war doch noch immer aufreizend abwesend, und deshalb wurden wir nicht gänzlich versöhnt, so kam es mir vor, als die Tür gegenüber zuschlug und ich meine Knautschsamtjacke anzog und den Ranzen auf die Schulter nahm, um zusammen mit Anne-Berit zur Schule zu gehen.

      Also war ich vielleicht doch ein anderer geworden?

      Anne-Berit war jedenfalls dieselbe. Ich habe nie einen Menschen gekannt, der so weitgehend jede Möglichkeit nutzte, er selbst zu sein, hübsch, selbstsicher und phantasielos; bei ihr war keine Spur ihrer riesigen Eltern zu finden, niemals kam sie auf irgendeine ausgefallene Idee und sie lachte immer erst, wenn sie sicher war, dass es einen Grund zum Lachen gab, und den gab es in der Regel nicht. Aber das alles war an diesem Morgen eben in Ordnung, bis auf weiteres, denn während normalerweise ich derjenige bin, der etwas sagt, sagten wir jetzt beide nichts, und das Schweigen wurde nach und nach so drückend, dass sie fragte:

      »Wassn los mit dir?«

      Ich hatte noch immer keine besonders gute Antwort, wir konnten nur weiter über die grauen Lehmwege von Muselunden gehen, die laut Mutter und Frau Syversen viel weniger gefährlich waren als der Bürgersteig am Trondhjemsvei, auch wenn sich hier am Hang unterhalb der Straße die Stadtstreicher aufhielten, in kleinen schiefen Hütten, die in der schwarzen blattlosen Wildnis des Spätherbstes von allen Seiten her zu sehen waren und aussahen wie blutüberströmte Flugzeugunglücke. Hier hausten beängstigende Männer, die wir Gelb, Rot und Blau nannten, weil Gelb an einer Krankheit litt, die ihn gelb machte, Rot, weil er immer eine rote Visage hatte und Blau, weil er schwarz wie ein Zigeuner war, wie man sagte. Wir durften auf keinen Fall in ihre Hütten gehen, wenn sie riefen, denn dann würden sie uns in eine Mühle stecken und uns zu einer dünnen braunen Suppe zermahlen und uns zu Suppenwürfeln pressen, aber an diesem Tag war das kein Thema, sie waren nicht einmal zu sehen, und deshalb lieferten sie mir auch kein Gesprächsthema, und ich wäre gern auf irgendwen wütend gewesen.

      »Meine Fresse, du bist ja öde«, sagte ich zu Anne-Berit, als wir den Schulhof betraten. Darauf antwortete sie nur:

      »Kacke.«

      Das war keine normale Aussage ihrerseits, auch wenn sie zu ihrem Temperament passte, und deshalb trennten wir uns im Unfrieden, sie ging zu ihrer Mädchenklasse und ich zu meiner gemischten Klasse, die eingerichtet worden war, um festzustellen, ob Jungen und Mädchen nebeneinander sitzen und zugleich etwas lernen könnten.

      Es machte Spaß, in die gemischte Klasse zu gehen, auch wenn die hübschesten Mädchen in den reinen Mädchenklassen saßen, denn es ist ja oft so, je besser du andere kennenlernst, um so mehr Fehler haben sie. Aber hier konnte ich meinen Blick auf den schwarzen wallenden Haaren von Tanja ruhen lassen, die noch immer ein ziemliches Mysterium war, weil sie niemals etwas sagte und auf Fragen in einer Tonlage antwortete, bei der selbst Lehrerin Henriksen den Versuch aufgegeben hatte, sie lauter zu drehen. Aber sie drehte sich doch immer um, wenn ich etwas sagte, und bedachte mich dann mit einem kleinen Lächeln, das dafür sorgte, dass ich eigentlich nicht mehr zu leben brauchte; angeblich war sie Zigeunerin und wohnte in einem Zirkuswagen beim botanischen Garten in Tøyen, und das machte die Sache nicht einfacher, denn was ist verlockender als ein Volk, das mit der Gitarre um den ganzen Erdball zieht und stiehlt und Karussells laufen lässt?

      Deshalb war es so gekommen, dass ich vor allem aufzeigte, damit Tanja sich umdrehte, und das versuchte ich auch an diesem Tag, zudem wollte ich das ganze Gewusel loswerden, das noch immer in meinem Kopf herumblubberte. Aber statt mit irgendeinem Witz zu brillieren, erkannte ich zu spät, dass ich dieses eine Mal meine Aufgaben nicht gemacht hatte, und ich brach in heftiges und unbegreifliches Weinen aus. Als das erst angefangen hatte, konnte ich es auch nicht in den Griff bekommen, ich hing wie ein Witz über meinem Tisch und heulte wie blöd, seltsamerweise bereits jetzt in dem vollen Bewusstsein, dass diese Sache mich teuer zu stehen kommen würde, und das machte die Sache ja auch nicht besser.

      »Aber Finn, Lieber, was ist denn


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