Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte. Roy Jacobsen

Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte - Roy Jacobsen


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doch, morgen ist ja auch noch ein Tag. Gute Nacht.«

      Er ging in sein Zimmer, kam aber wieder heraus und sagte, »danke für das Essen, das habe ich wohl vergessen«, und legte ein schwarzes Fünf-Öre-Stück auf den Fernseher, damit ich es mir nehmen könnte, ein Fünf-Öre-Stück aus Kriegszeiten, er erzählte, er habe selbst einmal Münzen gesammelt, ich machte das sicher auch.

      Mutter und ich konnten endlich ins Badezimmer gehen, zur Abendtoilette, die umfassender geworden war, seit wir den Untermieter hatten, denn sie musste bis zum letzten Moment damit warten, ihre Schuhladenschminke zu entfernen, während ich mit der Zahnbürste in der einen und dem Fünf-Öre-Stück in der anderen Hand auf der Badewannenkante saß.

      »Was sagst du?«, fragte sie und schaute mich im Spiegel an.

      »In Ordnung«, sagte ich, über den Fernseher, auch wenn der – wegen des Programmprofils vermutlich – meinen Erwartungen nicht ganz entsprochen hatte, aber das wäre auch nicht so leicht gewesen und ich würde am nächsten Tag in der Schule immerhin etwas zu erzählen haben.

      »Seltsam«, sagte sie.

      »Was denn?«

      »Ich hoffe bloß, wir haben keine Dummheit begangen.«

      »Hä?«

      »Hast du die Hände nicht gesehen, nie im Leben arbeitet der auf dem Bau.«

      »Wie meinst du das?«

      »Du hast doch die Hände von Frank gesehen ... äh, von Herrn Syversen.«

      Ich begriff nicht, worauf sie hinauswollte, aber ich schaute auf meine linke Hand, die mit dem Fünf-Öre-Stück, daran war nichts auszusetzen.

      »Hoffentlich ist der kein Snob«, sagte Mutter.

      Ich wusste nicht, was ein Snob war, und fand auch nicht, dass dieses Wort sonderlich gut zu Kristian passte, nachdem sie es erklärt hatte.

      An den folgenden Tagen stellte es sich heraus, dass der neue Untermieter allerlei Dinge hatte, die jeder sich hätte denken können, ein Bajonett aus seiner Soldatenzeit, ein Mikroskop in einem mit Messing beschlagenen Holzbehälter, einen Lederbeutel mit achtundzwanzig Stahlkugeln, die in den Kugellagern von gelben Baggern gesteckt hatten und die man als Klicker nehmen oder einfach in der Hand halten konnte – was für unvergleichlich herrliche Gegenstände zum In-der-Hand-Halten. In einem weiteren Holzkasten hatte er einen kleinen Kreisel aus Messing, mit einem aufgemalten grünen Spiralmuster, von dem einem beim Hinsehen schon schwindlig wurde. Dazu kam noch ein Schachspiel mit Stahlfiguren, das er angeblich selbst hergestellt hatte, wie auch den Kreisel, er sei nämlich gelernter Werkzeugmacher. Aber er habe sich als Werkzeugmacher nicht wohlgefühlt, aus Ursachen, die er erklärte, von denen ich aber nichts verstand. Dann war er also Seemann geworden, und das hatte ihm gut gefallen, bis sein Schiff westlich von Irland untergegangen war. Dann hatte er nicht mehr zur See fahren wollen und war zu seinem alten Beruf zurückgekehrt, der sich inzwischen aber nicht verändert hatte, und deshalb war er schließlich auf dem Bau gelandet.

      Wir kamen also nicht weiter mit dieser Unternehmung, die Mutter zufolge nicht zu seinen Händen passte, bis sie ihn eines Abends ganz offen fragte, nachdem er – pünktlich – die Miete für den ersten Monat bezahlt hatte.

      »Ich bin vor allem mit Gewerkschaftsarbeit beschäftigt«, sagte er kurz und ging auf sein Zimmer, und Mutter und ich blieben stehen und sahen einander fragend an.

      »Himmel«, sagte meine Mutter.

      Damit wurde dieses Mysterium von einem anderen abgelöst. Warum konnte Kristian nicht so wie wir die Karten auf den Tisch legen, wo er schon bei uns wohnte und auf eine Weise sympathisch wirkte, die uns dazu brachte, ihn zu mögen?

      Jetzt war es Mutter, die sich ängstigte. Ich hatte mich längst mit Kristian dem Seemann und Werkzeugmacher abgefunden, so sehr, dass auch das zum Problem wurde, nämlich, weil Mutter mir untersagte, zu ihm zu gehen, wann ich wollte, und das war so gut wie jeden Abend. Ich klopfte an, er sagte »herein«, und ich ging hinein und starrte ihn an, bis er von seiner Zeitung aufschaute und zu dem Stuhl hinübernickte, für den Platz neben dem Sessel war, in dem er selbst saß. Dann las er noch ein oder zwei Minuten, während ich mit den Händen zwischen den Knien dasaß und seine Bücher ansah, den Beutel mit den Stahlkugeln, der an einem Haken in der Wand hing, das Schachbrett, bis er mit Lesen fertig war und fragte, ob ich meine Hausaufgaben gemacht hätte.

      »Ja«, sagte ich.

      »Ich habe nie Hausaufgaben gemacht«, sagte er.

      Das beeindruckte mich nicht sonderlich. Ich hatte eine Menge Freunde, die keine Aufgaben machten, und das brachte ihnen nur Ärger ein; Wörter und Zahlen waren außerdem witzig, und das sah er mir wohl an.

      »Du bist ein komischer Vogel«, sagte er.

      »Du auch«, sagte ich. »Können wir durchs Mikroskop schauen?«

      »Ja, ja, nimm es nur heraus.«

      Ich nahm das Mikroskop aus dem Kasten und brachte Spiegel und Gläser an, und wir betrachteten die Oberfläche eines Kronenstückes; sie sah unmöglich aus, kreuz und quer Kratzer so tief wie Gebirgsschluchten, alles, wofür man mit bloßem Auge blind ist.

      »Weißt du, was das da ist?«, fragte Kristian.

      »Nein.«

      »Das ist die Geschichte dieser Münze, schau her, die Jahreszahl 1948; seit damals ist sie durch Tausende von Händen gegangen, hat in Spardosen und Kassen und Taschen und Automaten geklappert und ist vielleicht aus einem Taxi gefallen und durch die Storgata getanzt, in einer Nacht, voller Regen, und ein Bus hat sie überfahren, ehe ein kleines Mädchen sie am nächsten Morgen auf dem Schulweg gefunden und in die Sparbüchse gesteckt hat. Das alles sind Spuren, es ist die Geschichte der Münze, weißt du, was Geschichte ist, Junge? Geschichte ist Abnutzung. Sieh zum Beispiel her, schau mir in die Visage, die ist voller Falten, obwohl ich erst achtunddreißig bin, und sieh dir deine eigene an, glatt wie ein Kinderpopo, und der Unterschied zwischen uns besteht nur aus Abnutzung, knapp dreißig Jahren Abnutzung, wie der Unterschied zwischen dieser Münze dort und einer Krone, die gestern erst geprägt worden ist, wie diese hier, zum Beispiel«, er zog eine ganz neue Münze hervor, mit einem Pferd, wo auf den früheren die Krone gewesen war, und die durfte ich unter das Mikroskop legen. Und sie war wirklich so glatt wie ein Meer ohne Wind. Bis wir das Objektiv austauschten und sie noch genauer ansahen, nun stellte es sich heraus, dass sogar die Oberfläche einer neuen Münze matt ist, bedeckt von Milliarden von winzigen Partikeln, die Kristian »kristalline Späne« nannte und die von der Abnutzung entfernt werden sollten – eine neue Münze hat mit anderen Worten ihren glattesten Zustand noch nicht erreicht, mit anderen Worten, ihren Höhepunkt als Münze, wenn sie vom Prägestock ausgespuckt wird, sondern dann, wenn so in etwa der sechsundzwanzigste oder dreiundvierzigste Besitzer sie aus der Tasche fischt und damit bei Åsbua in Bjerke für eine Wurst mit Fladen und Senf bezahlt – das ist der Höhepunkt in der Geschichte der Münze, wenn sie aus der Hand eines hungrigen Kunden gleitet und auf dem Tresen eines satten Würstchenverkäufers landet. Von nun an geht es bergab mit ihr, unerbittlich, auch wenn es seine Zeit dauert, hast du je eine total verschlissene Münze gesehen?

      »Nein.«

      »Dann geh ins Wohnzimmer und hol den Lexikonband mit dem S auf dem Rücken.«

      Ich gehorchte und wir schlugen König Sverre nach, ein Höhepunkt an sich, was die Abnutzung unseres Landes angeht, aber Sverre war nicht nur Krieger und König gewesen und hatte die Nation vollständig auf den Kopf gestellt, er hatte auch Münzen prägen lassen, die im Lexikon abgebildet waren. Darauf stand Suerus Magnus Rex, was Latein war; sie waren hauchdünn, so schimmernd zart, dass, wenn man sie in den Himmel hielt, die Sonne hindurchscheinen könnte. Aber hier war natürlich auch die Rede von nicht weniger als achthundert Jahren Abnutzung, wir können also ganz beruhigt sein, wenn es um Münzen geht, meine ich, endete Kristian überaus vielsagend.

      Ich blickte ihn verständnislos an.

      »Und wann würdest du, nachdem du das hier gehört hast«, sagte er philosophisch, »den Höhepunkt für einen Menschen ansetzen?«


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