Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte. Roy Jacobsen

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Lächeln.

      Am selben Abend ging ich mit dem Lexikon ins Bett und las den ganzen Artikel über König Sverre, und obwohl es dort etliche Wörter gab, die nicht einmal Kristian benutzte, war mir doch klar, dass er vollkommen recht hatte.

      5

      Aber Mutter gefielen meine Besuche im Untermieterzimmer nicht. Ich solle den Untermieter nicht stören, hieß es, und außerdem gefiel es ihr nicht, dass ich so lange dort drinnen blieb, wenn ich angeklopft und wenn er dann »herein« gesagt hatte – es kam vor, dass er nicht »herein«, sagte, und dann ging ich nicht hinein. Vor allem war es schlimm, dass ich mit allen möglichen Informationen wieder herauskam, über die Durchschnittstemperatur auf Spitzbergen, darüber, dass die norwegische Bevölkerung pro Jahr drei komma drei Millionen Liter Schnaps trank, aber nicht einmal ein Zehntel so viel Rotwein pichelte, denn das sei nichts, womit man den Kopf eines kleinen Kindes vollstopft.

      »Ich bin kein kleines Kind.«

      Außerdem konnte ich erzählen, dass das, was wir immer Plockwurst genannt hatten, eigentlich Salami hieß, und dass auf Gerhardsen kein Verlass war, selbst wenn wir bei jeder Wahl für ihn stimmten. Also wurde diesen Abendbesuchen ein Ende gesetzt. Ich durfte nicht einmal hineingehen und das Mikroskop zurückbringen, das ich hatte leihen dürfen, um die Maschen in Mutters Nylonstrümpfen zu betrachten. Das übernahm sie. Aber als sie wieder herauskam, waren ihre Wangen rot und sie wollte wissen, ob der Untermieter immer seine Unterwäsche zum Trocknen über die Gardinenstange hängte.

      Das wusste ich nun wirklich nicht. Doch sie raffte sich zu einem neuen Vorstoß auf und lief wieder hinein und sagte, das wolle sie sich verbeten haben, Unterwäsche im Fenster, sichtbar für die ganze Wohnungsgenossenschaft.

      »Dann nicht«, sagte Kristian gleichgültig. »Aber wo soll ich sie dann trocknen? Und waschen?«

      Und so bekam er einen eigenen Korb für seine schmutzige Wäsche, den er dann in die Waschküche tragen konnte, wenn Mutter Wäsche hatte, wo er die Wäsche in die Trommel warf, während sie dieselbe für ihn aufhängte, in der Trockenkammer. Mir war klar, dass es bei dieser Abmachung darum ging, dass sie seine schmutzige Wäsche nicht anfassen wollte. Das war auch Kristian klar. Und zwischen uns gab es in den folgenden Wochen keinen besonderen Kontakt.

      Aber in diesem Herbst kam es zum Verkaufsstreik. Omar Hansen hatte so gut wie keine Waren mehr, und Mutter verbrachte unendlich viel Zeit auf dem Weg vom Schuhgeschäft nach Hause damit, alles aufzutreiben, was wir brauchten. Eines Nachmittags jedoch stand in der Diele ein großer Karton, mit Margarine, Brot, Kartoffeln, Fischklößen, einer Tube Kaviar, Leberwurst, zwei Flaschen Limonade, drei Tafeln Freia Milchschokolade und ganz unten zwei Hefte Wilder Westen, für mich.

      »Das hättest du nicht tun dürfen«, sagte Mutter.

      »Warum nicht?«, fragte Kristian, der wie Frank »Beziehungen« hatte, bei der Gewerkschaft, sagte er, und Mutter hatte keine, im Gegenteil, es war ihre Gewerkschaft, die streikte. »Dann kannst du die doch zumindest für mich im Kühlschrank aufbewahren?«

      Es war ungefähr so wie mit dem Fernseher, vor dem Mutter und ich jetzt jeden Abend saßen, autorisiert durch die Tatsache, dass sie ihn angemeldet hatte, auf ihren Namen. Kristian kam uns immer näher, egal, was sie auch tat.

      »Was willst du dafür haben?«, fragte sie.

      »Was ist eigentlich los mit dir?«, gab er ärgerlich zurück und ging auf sein Zimmer und schloss die Tür. Und da stand nun der Karton für ein oder zwei Stunden, bis Mutter zur Vernunft kam und die Waren in den Kühlschrank räumte.

      »Es ist fast ein bisschen unangenehm«, sagte sie. Aber dann sagte sie auch: »Ja, ja.« Und gab mir die eine Limonade. Schon wieder Solo mitten in der Woche.

      Danach aßen wir auch die eine Tafel Milchschokolade und schalteten den Fernseher ein und sahen die Schlagerparade und einen langen Dokumentarfilm über ein Pferd, das Bierkästen von einer Brauerei zu den Läden in der Stadt zog. Es hieß Teddy und war zweiunddreißig Jahre alt, was für ein Pferd ein ansehnliches Alter ist. Es ging darum, dass Teddys Zeit jetzt zu Ende war, nicht nur seine, sondern die seiner gesamten melancholischen Rasse, die den Autos und dem Asphalt und nicht zuletzt der Geschwindigkeit weichen musste. Die Sendung wurde immer trauriger und immer nutzloser, je länger wir dort saßen und glotzten, wir hatten beide Tränen in den Augen. Aber es endete dann zum Glück damit, dass Teddy und sein steinalter Besitzer auf einem großen Bauernhof über eine Wiese stapften und ihren Lebensabend genossen, während die Sonne schien und die Blumen zitterten und die Lerchen sangen.

      »Gott sei Dank«, sagte Mutter und schaltete ganz schnell aus. Wir blieben sitzen und blinzelten mit dem Licht des Fernsehers in den Augen, bis sie plötzlich rief:

      »Ich zieh es von seiner Miete ab!«

      6

      Dann kam Linda. Sie kam mit dem Bus. Allein. Weil meine Mutter ihre Mutter nicht wiedersehen wollte, wie ich vermutete.

      Es war ein Samstag. Wir schlenderten rechtzeitig hinunter zur Haltestelle beim Aker Sykehus und warteten auf den Bus nach Grorud, der um vier vor halb zwei kommen sollte, ich war in der Schule gewesen und hatte nur schnell meinen Ranzen nach Hause bringen können, und ich hatte keiner Menschenseele von der Sache erzählt, von Linda, weil mir die Worte fehlten. Aber ich hatte auf eine überaus indirekte Weise einem meiner Kumpels gegenüber das Thema gestreift, Rogern, der zwei ältere Brüder hatte, ich hatte gefragt, wie es eigentlich sei, Geschwister zu haben, ein Problem, das er nicht so recht erfasste, ehe er dann doch etwas kapierte und grinsend sagte:

      »Einzelkind.«

      Es klang wie eine Diagnose, auf derselben Ebene wie Hinkefuß. Ich hatte mir ja auch einige vage Gedanken über dieses und jenes gemacht, als wir das neue Bett montiert hatten – ich hatte sogar eine Nacht darin geschlafen –, vor allem, wenn Mutter in der Zeit zwischen dem Beschluss, Linda aufzunehmen, und dem heutigen Tag in Gedanken versunken war, oder als sie auf den Dachboden gegangen und mit dem riesigen Koffer voller Aufkleber aus Lom und Dombås wieder heruntergekommen war, als es sich herausgestellt hatte, dass der Koffer mit Kleidern aus ihrer eigenen Kindheit gefüllt war, die sie getragen hatte, als sie unter anderem in Lindas Alter gewesen war, sechs, und nun saß sie da und sah die Kleider durch und nahm sie in die Hand und dachte nach und murmelte, sieh an, o Gott, nein, was ist das denn, und das ist sicher alles nicht mehr zu gebrauchen, abgesehen von dem hier, vielleicht? Eine Puppe, der die Füllung aus einem Riss im Bauch quoll, weil Mutters Brüder, wie ich nun erfuhr, sie am Blinddarm operiert hatten, die schlaff herunterhängende Beine und einen lockeren kugelrunden Kopf mit matten Perlaugen hatte, die Amalie hieß und unmöglich aussah.

      »Ist die nicht wunderschön?«

      »Doch.«

      Sie legte Amalie in Lindas Bett, und dort hatte sie in der vergangenen Woche geschlafen, aber dann war sie wieder verschwunden, das war am Morgen geschehen.

      »Wo ist Amalie?«, fragte ich, als ich aufwachte. Aber Mutter hatte keine Antwort. »Sie kommt doch heute – Linda?«

      »Ja, ja«, sagte Mutter und tat so, als sei gerade das der Grund, aus dem Amalie sich nun wieder auf dem Dachboden befand, weil es keine Missverständnisse zwischen Mutter und Linda geben sollte, was weiß denn ich; das Bett war eigentlich ganz frisch gemacht, es war zum dritten Mal neu bezogen, und nichts lag darin, es wartete.

      Dann kam endlich der Bus. Er blieb auch stehen. Aber niemand stieg aus. Stattdessen stiegen etliche Fahrgäste ein, und Mutter und ich standen da und sahen einander an. Die Luftbremsen keuchten und die Ziehharmonikatüren knallten und stöhnten und drohten sich zu schließen. Mutter stürzte im letzten Moment vor und rief, »halt«, und der Schaffner sprang von seinem Sitz auf und kam und packte ihren Arm und konnte bei derselben Bewegung die Tür mit dem Knie wieder aufzwängen.

      »Sie müssen vorsichtig sein, gnädige Frau.«

      Mutter sagte irgendetwas, und der Bus blieb immerhin stehen, als sie hinter den verdreckten Fensterscheiben verschwand. Es dauerte und dauerte. Von drinnen waren laute Rufe zu hören, dann kam sie endlich wieder heraus, knallrot


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