Der Reiter auf dem Regenbogen. Georg Engel

Der Reiter auf dem Regenbogen - Georg Engel


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haben könnte, „komm, die da drin sind ja doch noch nicht fertig; wollen ein Stück gehen. Bis zu Kükeweih. Wenn du dabei bist, fürchte ich mich nicht.“

      Dies letzte sagte sie ihm zur Versöhnung. Denn sie war sonst ein geschmeidiges, furchtloses Mädchen.

      „Nun gut,“ entgegnete Gust geschmeichelt.

      Sie gingen.

      Unter dem braunen Bollwerk, an dem sie entlang wanderten, tauchten bei jedem Schritt die schwarzen Umrisse von Schiffen auf. Starr und skelettartig ragten auf Augenblicke ihre kahlen Rahen aus der Finsternis, um gleich darauf wieder im Nebel zu verschwinden. Von Zeit zu Zeit mussten die Wandrer straff ausgespannten eisernen Ketten aus dem Wege gehen, mit denen die schweren Jachten ans Ufer geschlossen waren. Dicht über der murmelnden Wasserfläche, die man nicht sehen, nur hören konnte, zuckte zuweilen ein irrender Schimmer, gleich einem grossen Leuchtkäfer auf, der in den Nebeln sterbend mit den Wassern kämpfte. Das waren aber nur die verschwimmenden Lichter, die tief aus den Höhlen der Schiffe drangen, von wo man auch undeutliche Menschenstimmen vernahm.

      So waren die beiden Freunde eine Strecke weit gegangen, als Toni sich keck zu ihrem Begleiter wandte.

      „Du, Gust, warum gibst du mir eigentlich nicht den Arm?“ begann sie. „Oder fürchtest du dich, weil es von der Schule verboten ist?“ setzte sie spöttisch hinzu.

      „Ich fürchte mich nicht.“

      Gust erschrak.

      Dann blickte er sehr betroffen auf seine Bedrängerin.

      Toni betrug sich heute wirklich höchst merkwürdig. Es wurde Zeit, sie in die gebührenden Schranken zurückzuweisen.

      „Lass das,“ wies er sie deshalb ärgerlich ab. Und um eine Erklärung zu geben, stotterte er noch hinzu: „Das sind alles überlebte Formen.“

      Da zog sie den bereits erhobenen Arm entrüstet von ihm.

      „Du hast keine Idee, wie man mit jungen Damen umgeht,“ war ihre ganze Erwiderung. „Du kennst die Welt noch nicht.“

      „O, ich kenne die Welt,“ versetzte Gust siegessicher. Und er dachte im Moment an den dunklen, goldgeschmückten arabischen Hengst. Nur seltsam, dass zur gleichen Zeit sein Herz laut und ängstlich zu pochen begann.

      „Na, nu kommt man rein,“ forderte der alte Kükeweih die beiden an der Schwelle Stehenden auf. „Aber erst will ich hier noch ein bisschen Licht machen, sonst fallt ihr hin.“

      Damit erhob sich aus dem Halbdunkel der engen hölzernen Hütte, die vor Zeiten ein Anbau eines Räucherhauses gewesen war, eine riesige Gestalt. Im Scheine des Lichtstümpfchens erschien sie von so phantastischen Dimensionen, dass man garnicht begriff, wie sich dieser Hüne in einem derartig niedrigen Raume vom Platze bewegen könne, ohne sich an den Deckenbalken den Schädel zu zerschmettern.

      Auch sonst gab es hier Dinge, die verwunderlich waren.

      Da war zunächst die Ausstattung des schwarzbraunen Loches.

      Befand man sich in der Arbeitsstätte eines Musikinstrumentenmachers, oder blickte man in das Heim eines Spielwarenschnitzers?

      Beides konnte für wahrscheinlich gelten.

      Überall an den Nägeln, Holzklötzen und Pfosten hingen und standen Violinen, Flöten, alte zerbeulte Trompeten, ja sogar eine bejahrte Kesselpauke herum, während auf dem Tisch und auf kleinen Eckbrettern allerlei halbfertige Holzfiguren, bewegliche Soldaten, schnappende Krokodile von lächerlichen Formen, sowie alle möglichen Papphampelmänner ihrer farbigen Vollendung harrten. Und wenn durch all den Leimgeruch hindurch, den ein blauer, auf zuckendem Holzfeuer stehender Tiegel von seinem Backsteinherde aus verbreitete, wenn durch diesen fetten Brodem sich nicht noch ein ätzender Trangeruch gedrängt und man nicht aus den dunklen Ecken Ruder und Netze wahrgenommen hätte, man würde niemandem auf sein Wort geglaubt haben, dass man sich bei dem Fischer Jeremias Kükeweih befinde, dem die Stadtverwaltung das vielbegehrte und feierliche Amt eines Leichenfischers anvertraut hatte.

      Auf diesem kleinen Gebiete jedoch leistete Jeremias Nieerreichtes.

      Wer vermochte, wie er, wenige Stunden, nachdem ein Unglücklicher sich und sein Schicksal in den Wassern geborgen, die irdische Hülle still und unbemerkt in seinem langen schwarzen Kahne wieder zurückzubringen?

      Keiner.

      Wer tröstete, wie er, die ernsten, hingestreckten Gestalten, wenn sie zur Nachtzeit unter dem braunen Segeltuch verborgen lagen, heimlich durch passend ausgewählte Flöten- und Geigenstücke?

      Hört zu:

      „Freut euch des Lebens,

      Weil noch das Lämpchen glüht,

      Pflücket die Rose,

      Eh’ sie verblüht.“

      Das wusste er besonders neckisch vorzutragen.

      Was konnte Jeremias dafür, dass er nicht sah, wie die Toten, die es nun besser wussten, zu dieser Ansicht meistens still die Köpfe schüttelten?

      Denn erstens lagen sie der Nacht wegen verdeckt und zweitens besass Jeremias überhaupt nur ein Auge — das zweite war ihm bei einem Fall ausgelaufen — und dieses einzige lag unter ungeheuren grauen Büschen verborgen, so dass ihm beinahe jede Aussicht versperrt wurde.

      Aber dies beeinträchtigte die Achtung, die man dem Führer der Toten entgegenbrachte, keineswegs, und wenn die fremden Matrosen ihn in der Frühstunde mit seiner Ladung still und lautlos an den Flussufern entlang gleiten sahen, dann sagten sie:

      „Jimm hat wieder seinen Walfisch.“

      Denn diese Abkürzung hatten sie seinem Namen beigelegt.

      Und dann wurde über den guten Witz gelacht.

      „Na, nu kommt man,“ lud Jimm ein und strich sich seinen gewaltigen grauschwarzen Bart, der ihm wirr und weit über die Brust herunter fiel, und als Gust und Toni etwas verschüchtert in den Leim- und Tranduft eingedrungen waren, packte Jimm mit seinen gewaltigen Schaufelhänden Gust um den Leib, als gedächte er ihn zu seinen Holzsoldaten auf den Tisch zu heben, um ihm dort die fehlende rote Farbe zu verleihen, und brummte mit seiner alten, verrosteten Stimme:

      „Na, willst nu Professer werden, mein Jünging?“

      „Ja, ich hoffe,“ versetzte Gust und hustete ein wenig verlegen.

      „Das ist nichts,“ stellte Jimm nachdenklich fest, wobei er seinem Besuch auf dem Kopf herumpätschelte. „Das ist garnichts.“

      „Weshalb nicht?“ rief Gust verletzt.

      „Na, sag’ eins, sitzt du da nicht den ganzen Tag hinter Büchern?“

      Gust nickte.

      „Na und was lernst du daraus?“

      Gust dachte nach, blickte auf Toni, die sich kaum das Lachen verbiss, und gab endlich kurz zurück:

      „Wozu soll ich dir das erklären? Das verstehst du doch nicht, Jimm Kükeweih.“

      „Na nu aber doch,“ forderte der Alte und stiess ungeduldig mit dem mächtigen Transtiefel auf den Estrich.

      Alles zitterte.

      Selbst die Holzsoldaten fielen um, und die Krokodile schnappten.

      „So sag’ doch,“ warf Toni schnippisch dazwischen.

      „Ja, aber er begreift es doch nicht,“ ärgerte sich Gust, der sich plötzlich stark in die Enge getrieben sah. Dann platzte er plötzlich heraus:

      „Aus den Büchern lernt man zum Schluss — die — die grossen Zusammenhänge. — Ja, die grossen Zusammenhänge,“ wiederholte er jetzt ganz stolz und erleichtert.

      Der Leichenfischer liess sich auf seinen Schemel nieder und schüttelte das mächtige Haupt. „Das ist nichts,“ stellte er endlich fest und schlug sich schallend aufs Knie. „Zusammenhänge? — Das ist allens dummes Zeug. Was nicht zusammenhängen


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