Brunos Dankeschön. Uwe Heimowski

Brunos Dankeschön - Uwe Heimowski


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will den Blick weglenken vom St. Pauli der Medien, weg vom gleißenden Licht der Leuchtfassaden, vom schummerigen Halbdunkel der Hinterzimmer, hin zu einzelnen Menschen. Zu unscheinbar besonderen Menschen: Bruno und Regina, Heinrich und Kuddel.

      Ihre Namen musste ich – zu ihrem Schutz – ändern, auch ihre Charaktere sind gestaltet: Ich habe verfremdet, indem ich manchmal mehrere wirkliche Personen zu einer hier beschriebenen zusammenzog. Weiterhin habe ich frei nacherzählt. Und doch ist keine Person oder Situation rein fiktiv – alle sind wahr.

      Gewidmet ist dieses Buch Bruno und den Menschen am Rand der Gesellschaft.

       Uwe Heimowski Gera, im Frühjahr 2005

      Einklang: Gegenüber

      Du kennst es nicht.

      Niemand steht dir näher,

      für einen Augenblick.

      Doch du kennst es nicht.

      Im Bus, im Zug, am Schalter:

      ein Gegenüber.

      Mann, Frau, jung, alt.

      Für dich: ein Es,

      neutral,

      noch.

      Dann siehst du:

      Kleidung,

      Haare,

      Augen,

      Hautfarbe.

      Du magst Es nicht.

      Auf zwei Meter Entfernung ein Wort,

      ein Lächeln vielleicht,

      und

      das Etwas wird Person,

      atmet, lebt,

      ein Mensch entsteht.

      Dir ganz nah.

      Zu weit der Weg,

      zu groß das Wort.

      Das Gegenüber

      bleibt gegenüber

      und du kennst es nicht.

      Brunos Dankeschön

      Es war gegen zehn Uhr abends; ich hatte Dienst in der Atempause, einem alkohol- und nikotinfreien Café, das die Heilsarmee in St. Pauli als „Alternativkneipe“ unterhielt, und es gab wenig zu tun.

      „Uwe, komm doch bitte mal mit mir nach draußen.“

      Bruno, der mich angesprochen hatte, suchte meinen Blick und sah mich eindringlich an. Seine kleinen wachen Augen mit dem leichten Schielen, das sie so lebhaft machte und ihnen etwas Listiges verlieh, fixierten mich erwartungsvoll. Kleine Sternchen blitzten auf im blassen Blaugrau der Pupillen. Ein helles fröhliches Feuerwerk, das den Schalk verriet, der diesem Mann im Nacken saß, und der jetzt wieder einmal etwas ausgeheckt zu haben schien.

      Wären da nur die fröhlichen Äuglein gewesen und nicht das bleiche Gesicht mit den schweren Tränensäcken, dem die Jahre ihre Spuren eingegraben hatten, nicht die dünnen, akkurat zurückgekämmten weißen Haare, nackenlang und feinsäuberlich hinter die leicht abstehenden Ohren gelegt, nicht der starke Moschus-Duft dieses namenlosen Rasierwassers, das ich so oft bei älteren Männern rieche und das mich jedesmal aufs neue schnuppern, rätseln und undeutlich an jemanden denken lässt, der mir partout nicht einfallen will: mein Opa oder ein Onkel, ein Nachbar vielleicht? – wären es nur diese lächelnden Augen gewesen, die mich nach wie vor fest im Blick hatten, ich hätte gemeint, vor einem jungen Burschen zu stehen und nicht vor einem über sechzigjährigen Mann.

      Etwas verlegen rückte Bruno sein graues, aus grober Wolle gewobenes Jackett zurecht. Beide Händen packten das Revers und zogen daran; zwei, drei schnelle Rucke, unterstützt von einer leichten Wippbewegung vorwärts, so dass sich die Jacke im Rücken heben und in den schmalen Schultern etwas vorrutschen konnte. Er räusperte sich, begutachtete den Sitz der Anzugjacke, kontrollierte den obersten Hemdknopf, besah auch Hose und Schuhe und nickte zufrieden. Darauf sah er mich noch einmal an, zwinkerte mir zu und machte auf dem Absatz kehrt. Leicht gebückt, das eine Bein ein wenig nachziehend, ging er durch den langen Schlauch der Atempause hindurch. Ohne sich noch einmal umzusehen, trat er hinaus ins Freie, auf die Talstraße, eine Seitenstraße der Reeperbahn.

      Wie geheißen, folgte ich ihm. Bruno stand vor dem Nachbarhaus und musterte dessen spärlich beleuchtete Auslage. Mit dem Finger fuhr er über die Scheibe, sein Gesicht daran gepresst, halblaut und stockend lesend. Es war die Sun-Bar, ein Nachtclub. Ich blieb in der Tür stehen, eine Schattenlänge von Bruno entfernt. Er winkte mich zu sich.

      „Du, ich sehe doch so schlecht.“

      Bruno schielte verstohlen zu mir herüber, rieb sich mit den Handknöcheln die Augen und blinzelte ein paarmal; wobei er seine Lider übertrieben zusammenkniff, um mir seine Kurzsichtigkeit zu demonstrieren.

      Dieses leichte Aufflackern im Hintergrund seiner Pupillen – war das das vertraute schelmische Flackern, wie ich im Café gemeint hatte? Oder verriet es eine Spur von Unsicherheit? Er wusste, dass mir sein Interesse an dem zwielichtigen Etablissement nicht behagte. Der kurze Blickkontakt mit Bruno reichte nicht aus, um das Funkeln mit Sicherheit zu deuten.

      „Würdest du mir behilflich sein?“, fragte Bruno.

      Er winkte mich noch näher zu sich heran – sein Rasierwasser stieg mir in die Nase – und klopfte mit seiner nikotingelben Fingerspitze auf das Glas des Schaukastens. Eine aufgeklappte Getränkekarte, beleuchtet von einer trüben Neonröhre.

      „Bitte, schau mal hier in die Preisliste hinein. Es ist so furchtbar klein geschrieben, dass ich einfach die Preise nicht erkennen kann“, schimpfte er. „Und verblasst ist sie auch noch!“

      Ich sah nach. Tatsächlich, die Tinte war verlaufen und die von Hand geschriebenen Preise kaum mehr zu erkennen.

      Bruno sah mich an, stellte seinen kleinen Kopf leicht schief, wodurch er noch listiger aussah, ein wenig wie ein junger Fuchs, und fragte: „Wieviel kostet ein Bier?“

      Uff. Ein Bier. Er erkundigte sich nach einem Bier. Ich war völlig perplex. Was wollte Bruno mit der Preisliste ausgerechnet in diesem Laden? Und dann auch noch mit einem Bier? Es war die allerletzte Frage, die ich erwartet hätte. Am wenigsten von Bruno. Was fragte er gerade mich – er wusste doch, dass ich nicht trank, wie alle Heilssoldaten. Und überhaupt: Was wollte er mit einem Bier?

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      Bruno hatte getrunken. Und das nicht zu knapp, sondern jahrelang und literweise. Viel zu viel. Bis zum Exzess – immer dann, wenn die Durstphasen ihn überfallen hatten, und das war nicht eben selten gewesen. Bruno war, wie man das landläufig nennt, ein Quartalssäufer.

      Als Jugendlicher hatte er die Wochenenden durchgezecht, später mehrere Tage am Stück, in immer kürzer werdenden Abständen.

      Der Suff hatte ihm einige kleine Vorstrafen und zuletzt sogar eine längere Gefängnishaft eingebracht. Er hatte Bruno auf der sozialen Leiter langsam, aber beharrlich Stufe für Stufe absteigen lassen.

      Zuerst verlor er die Arbeit. Anfangs, als er abends nur gelegentlich in Kneipen versackte und morgens mit schwerem Kopf und lahmen Gliedern nicht aus dem Bett kam, hatte ihn sein Arzt krankgeschrieben. Befund: Magenverstimmung oder Migräne. Später fehlte er unentschuldigt und wurde entlassen. Dann verlor Bruno seine Wohnung – binnen weniger Monate war der Mietrückstand zu einer unbezahlbaren Summe geworden. Die Möbel wurden gepfändet, Bruno musste gehen. Irgendwann zerstritt er sich mit den letzten Freunden, die ihm Unterschlupf gewährt hatten. Schließlich fand er sich auf der sprichwörtlichen Parkbank wieder.

      Die Phasen, in denen Bruno nüchtern anzutreffen war, wurden selten. Äußerst selten. Was früher noch Eskapaden waren, war nun Dauerzustand.

      Er tat sich mit anderen wohnungslosen


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