Perlhuhnfedern. Walther von Hollander
hätte eigentlich vom Wittenbergsplatz nach Dahlen fahren müssen. Professor Reinicke, der Sinologe, erwartete mich. Er wollte mir seine Frau vorstellen, eine Chinesin, die unter unsäglichen Schwierigkeiten in sechs Monaten von Peking nach Berlin gekommen war. ‹Ein wahres Wunder›, hatte Reinicke am Telefon gesagt. ‹Fünfundachtzig Vorschriften und zwölfhundert Grenzen. Aber sie ist doch gekommen.› Ich war sehr neugierig gewesen auf diese kleine, tapfere Chinesin, die um des bärtigen 60jährigen Professors willen viele tausend Kilometer gereist war, die alle Mächte der Welt nicht hatten hindern können, dorthin zu fahren, wohin sie wollte ...
Ich erzählte Gesine diese Geschichte, und sie meinte, eine so tapfere Frau dürfe ich nun nicht enttäuschen und müsse unbedingt hinfahren. Aber sie sah so einsam aus in diesem Augenblick, daß ich sagte: «Die Perlhuhnfedern müssen wir zwischen Löschpapier trocknen. Sonst schimmeln sie.»
Sie lächelte. «Ja, komm mit. Ein bißchen Tee hab’ ich noch. Und Nudeln. Ißt du gerne Nudeln?»
«Ja, natürlich. Ich glaube, es gibt keinen Menschen, der heutzutage nicht gerne Nudeln ißt.»
«Ob du gerne Nudeln ißt, will ich wissen.»
Lachend gingen wir weiter.
Gesine wohnte in der Brandenburgischen Straße. Das Vorderhaus war ausgebrannt. Man ging über einen Hinterhof, in dem ein alter Springbrunnen war, vollgefüllt mit Mörtel und zerschossenen Mauerbrocken, so als hätte das verrostete Rohr Trümmer ausgespien statt Wasser. Das Zimmer war winzig mit einem einzigen Fenster, und die Hälfte des Zimmers war noch dazu mit Holz verschalt und von innen mit Pappe verklebt. Eine recht harte, schmale Couchette, ein altmodisches Möbel aus der Zeit der Vatermörder, schien als Bett zu dienen, ein wackliger Nachttisch in der dunkelsten Ecke vertrat den Waschtisch.
An einer roten Seidenkordel hing ein kleines Büchergestell mit häßlichen Mahagonistützen, und an dem halbblinden Fenster stand der kleine, zierliche Biedermeiersekretär, das einzige hübsche Stück des Zimmers. Ein bißchen Holz war neben dem kanadischen Holzfällerofen geschichtet.
Frau Mandler, die pompöse Zimmerwirtin, kniete vor dem Öfchen, pustete aus dicken Wangen in das schlecht glimmende Holz und schwabbelte dazwischen wirres Zeug über Gesine, die in die Küche gegangen war, um die Nudeln zu kochen. Es ginge nicht, sagte sie pustend, hustend und redend zugleich, daß so ein junges Mädchen immer zu Hause säße. «Unsereiner», krächzte sie und sah mich mit dem schnellen gierigen Blick einer fetten Ratte an, «unsereiner hat ja auch was vom Leben gehabt, nicht wahr?»
Merkwürdig, daß Frau Mandler glaubte, ich hätte das gleiche vom Leben gehabt wie sie selbst. «Es muß jeder nach seiner Fasson selig werden», sagte ich abwehrend.
«Das ist keine Fasson, überhaupt keine», pustete die Mandler, «den Tag über im Bücherladen, und abends sitzt sie hier im Stuhl und sagt gar nichts, und nachts träumt sie, daß ich’s in meinem Zimmer höre.»
Das Feuer flammte auf. Frau Mandler erhob sich stöhnend. Sie beugte sich zu mir und flüsterte: «Sie ruft nach wem. Aber was hat das für’n Zweck? Tot ist tot. Damit muß sich nun mal jeder abfinden.»
Endlich ging sie. Ich nahm Gesines nasses Hütchen, um die Perlhuhnfedern zwischen Löschpapier zu legen, wie ich es ihr versprochen hatte. Ich nahm zwei Blätter vom Löscher, dabei fiel mein Blick auf Carlos Bild. Ja ... das war er. Lachend saß er auf der Bank irgendeiner Strandpromenade. Der Seewind hatte ihm die Haare in die Luft geweht. Er trug Shorts, weiße Leinenschuhe, ein weißes Hemd mit offenem Kragen. Er war das sehr anziehende Bild eines lustigen, jungen Mannes. Ich hatte ihn nicht sehr gut gekannt. Er war eigentlich Anwalt und schrieb seltsame, kleine Geschichten, witzig, pointiert und etwas grausam. Sagen wir besser, unmenschlich. Er schrieb so, wie das Leben schon damals war und wie es sich immer mehr entwickelte. Völlig gefühllos. Ich glaube nicht, daß er erwartet hatte, daß irgend jemand um ihn trauern würde.
Ich legte die Perlhuhnfedern zwischen die Löschblätter. Ich saß neben dem Ofen und tat bedächtig Sägespäne aufs Feuer. Stück für Stück, wie sich das für einen winzigen Berliner Zimmerofen gehört. Endlich kam Gesine. Sie deckte den kleinen Kacheltisch, den sie ‹meine Möbel› nannte. Es war das einzige Stück, das sie sich gekauft hatte. «Nicht übermäßig hübsch, aber sehr teuer», sagte sie.
Bevor sie sich setzte, legte sie Carlos Bild um. Ich weiß nicht, ob ich es nicht ansehen sollte oder ob Carlos uns nicht sehen sollte. Ich persönlich habe Angst vor Fotografien und mag nicht, daß sie mir immer zusehen. Ich kannte eine sehr nette Frau, die ihren Mann oft betrog. Sie hängte immer das Bild des Mannes zu, wenn sie einen Liebhaber empfing. Ich kann das sehr gut verstehen.
Gesine redete während des Essens ziemlich viel. Wie es immer ist, wenn man sich lange nicht gesehen hat, sprachen wir zuerst von dem, was gerade um uns war. Die Lebensgeschichte von Frau Mandler erzählte sie, deren Mann Gemüsegroßhändler war, in den letzten Kriegstagen als Volkssturmmann verwundet wurde und langsam einging. Von der Buchhandlung dann, in der sie arbeitete, schließlich von ihrem Vater, der nun zwei Jahre tot war. Acht Tage nach Hitler war er gestorben. Aber dessen Tod hatte er noch ‹mitnehmen› wollen. Er wollte es noch erleben, daß der zugrunde ging, wie er es immer prophezeit hatte in all den Jahren der Verfolgung und des Kummers.
«Es muß doch für ihn furchtbar gewesen sein», sagte ich, «so aus dem Beruf herausgeworfen, nichts zu tun und dann der plötzliche Tod deiner Mutter.»
Gesine lächelte. «Er hatte viel zu tun. Er haßte den Hitler. Hassen, das ist eine Beschäftigung, tagesfüllend und nachtfüllend, meinst du nicht?» Ich zuckte die Achseln. Ich wußte es nicht. Gesine sagte: «Ich glaube, er war eigentlich ganz glücklich. Wer hassen kann, hat’s gut.»
«Ja ... hassen», sagte ich. «Wenn man so denkt, was die uns alles gestohlen haben. Die nicht allein. Schon die 1914er Knaben. Damals fing’s an, daß sie den Menschen einfach alles unter dem Hintern wegzogen. Alles, was sie gebrauchen konnten für ihren verdammten Krieg. Na ... nun werden sie sich ja bald beruhigen müssen. Ist einfach nichts mehr da.»
«Und die sind auch nicht mehr da», lächelte Gesine.
«Ach ... irgend jemand ist immer da, der den Menschen alles wegnimmt», sagte ich.
«Du kriegst es ja auch nicht ’raus», sagte Gesine.
«Was?»
«Das Hassen. Ich dachte, ihr ... von der alten Generation. Ihr macht das alle gleich. Wie verrückt lieben und wie verrückt hassen. Das ist natürlich bequem.»
Ich war ein bißchen gekränkt. Wer gehört schon gern zur alten Generation? Zur älteren ..., das hilft ja nichts. Aber gleich zur alten? Ich sagte: «Die Perlhuhnfedern müssen nun eigentlich trokken sein.»
Sie stand auf und holte sie zwischen den Löschblättern heraus. Sie behielt die Federn in der Hand und pustete spielerisch hinein. «Seltsam», sagte sie, «man kann hindurchsehen und doch nicht hindurchsehen. Ich sehe dein Gesicht mit Schwarz überzogen und mit weißen Punkten drin. Aber zu erkennen bist du nicht.»
«Die Perlhühner sind flink, scheu und schlank. Das Männchen lärmte den halben Tag vor dem Stall, bis Brödersdorff das Weibchen herausgelassen hatte. Scheußliche Stimmen haben sie. Man sagt, daß sogar die Ratten sich vor ihren Stimmen fürchten.»
Gesine starrte immer noch durch die Federn.
«Wie Nacht», sagte sie versunken. «Durchsichtig. Aber man kann nichts sehen. Wie dunkle Luft, wenn die weißen Pünktchen nicht wären.» Mit einer mutlosen Bewegung warf sie die Federn auf den Tisch und trug das Geschirr hinaus. «Man müßte heute was trinken», sagte sie, «es ist so hübsch, daß ich dich getroffen habe.»
«Geh’n wir doch, ich weiß ganz in der Nähe eine Kneipe, da gibt’s einen guten Wodka.»
«Nein, ich gehe nie aus», sagte sie merkwürdig verbissen.
«Die Mandler sieht so aus, als handelte sie mit Schnaps.»
«Die handelt mit allem. Aber Geld.»
Ich gab ihr Geld, und sie kam gleich