Leben im Stadtstaat. Dian Schefold
Situation als in mancher Hinsicht vergleichbar empfunden. In Bremen erschien und erscheint mir die Stadtstaatlichkeit noch eindeutiger bestimmend. Was haben die drei Stadtstaaten für Gemeinsamkeiten und Unterschiede? Inwiefern prägen sie das Leben der Bewohner, mit besonderen Chancen, aber auch besonderen Belastungen?
Ich möchte das nicht generell und von einem vorgegebenen Typus des Stadtstaats her beantworten. Der Begriff des Stadtstaats ist schillernd und wird unterschiedlich verwendet, von der griechischen Polis über die mittelalterlichen, im Reichstag des Heiligen Römischen Reichs vertretenen Städte und die Gegensätze zwischen städtischen und ländlichen Orten in der Alten Eidgenossenschaft bis zu den modernen staatlichen und gliedstaatlichen Städten ohne Umland. Da mag die Thematik uferlos erscheinen.1 Insgesamt hätte sie heute in Deutschland jedenfalls auch Hamburg, in Europa etwa Stadtstaaten wie Wien und Brüssel, vielleicht auch die Zwergstaaten in der Art von San Marino oder Monaco einzubeziehen, weltweit etwa Washington, Singapur und Hongkong. Größenordnungen, Rahmenbedingungen – Unabhängigkeit, unterschiedliche Typen von Bundes- oder Regionalstaatlichkeit – und Fragestellungen wären insofern zu heterogen. Daher beschränke ich mich auf die Bereiche, die ich aus eigener Erfahrung kenne, und versuche einen Überblick über Chancen und Risiken des Lebens in den drei Stadtstaaten Basel, Berlin und Bremen zu geben. Ich wähle acht Fragenkreise aus2 und behandle sie aufgrund dessen, was ich dazu mitbekommen habe.
Insofern sind auch die drei hier interessierenden Stadtstaaten freilich sehr verschieden: Historisch durch die Position Bremens als Freie Reichsstadt, deren Reichsfreiheit bis auf die Barbarossa-Urkunde von 1.186 zurückgeführt werden kann und im Linzer Diplom 1.640 bestätigt worden ist.3 Berlin genoss eine Sonderstellung als Hauptstadt Preußens und später des Reichs. Als eigentlicher Stadtstaat wurde es erst nach dem Zweiten Weltkrieg und durch das Besatzungsregime ausgestaltet, und nach der Wiedervereinigung Deutschlands hat es als Hauptstadt eine Sonderstellung.4 Meine Heimatstadt Basel, der 1.833 von seinem Landgebiet, dem heutigen Kanton Baselland, getrennte Kanton Basel-Stadt,5 hat ein Gebiet von nur 37 km2 und hatte in meiner Jugendzeit und heute etwa 190.000 Einwohner – eine Zahl, die sich, wegen Raummangels, kaum erhöht hat. Das Berlin in der Zeit der Teilung, West-Berlin, hatte auf etwa 480 km2 damals knapp 2,2 Mio. Einwohner, das Land Bremen auf 404 km2 etwa 660.000 Einwohner. Basel-Stadt ist daher nicht nur bei weitem der kleinste, sondern auch der mit über 5.100 Einwohnern pro km2 am dichtesten bevölkerte Stadtstaat, dichter als das von Werner Hegemann als das „steinerne“ bezeichnete Berlin,6 das im Westen knapp 4.600 Einwohner pro km2 aufweist, vor allem im Osten aber noch große Freiflächen besitzt. In Bremen dagegen entfallen nur ca. 1.620 Einwohner auf einen km2, so dass von einer grünen Stadt gesprochen werden, eine erhebliche Landreserve konstatiert werden kann.
Die Enge Basels beruht auf der Kantonstrennung von 1833 und ist ein Trauma, nicht nur gegen Süden, wo die Stadt nahtlos in den Speckgürtel der basellandschaftlichen Nachbargemeinden – mit kantonal geregelten, niedrigeren Steuersätzen – übergeht, sondern auch gegenüber der deutschen und französischen Grenze. Ich vergesse den hohen Stacheldrahtzaun zu Nazi-Deutschland nicht, und ebenso wenig die seit den 1950er-Jahren kaum mehr kontrollierte Freizügigkeit zu den badischen und elsässischen Nachbarn, die ein Stück Europa vorweggenommen und mich geprägt hat, schweizerische Absage an die EWG hin oder her. Der Stadtstaat an der Grenze gehört in sein Umland.
Andererseits aber ist er sich seiner Eigenart bewusst. Er hat sein eigenes Bildungssystem, das wir 1960 mit der damals 500-jährigen Universität gefeiert haben, und das auch auf das Humanistische Gymnasium ausstrahlte, das mich zunächst geprägt hat. Waren die Lehrer an dessen Oberstufe, damals „Paedagogium“ genannt, bis weit ins 19. Jahrhundert die Professoren der Philosophischen Fakultät der Universität – was Friedrich Nietzsche, als ganz junger Mann 1869 als Griechisch-Professor nach Basel berufen, vor Probleme stellte und in Konflikte brachte7 –, so hatte ich auch in meiner Schulzeit etliche Universitätsprofessoren als Lehrer. Der Historiker Adolf Gasser, der 1943 mit seinem Buch „Gemeindefreiheit als Rettung Europas“8 die kleinräumige Demokratie verteidigte – eine Parallele zu Leopold Kohr und E.F. Schumacher liegt nahe – weckte mein Interesse für die lokale Selbstverwaltung und damit für eine Grundlage der Stadtstaatlichkeit. Ich begann Jean-Jacques Rousseau zu lesen und nahm den „citoyen de Genève“ als solchen wahr. Die griechische und zunächst auch römische Geschichte lernten wir anhand der Polis kennen – dem Ort der Entfaltung lokaler (noch so unvollkommener) Demokratie und zugleich, für Platon, Modell zur Explikation der Politeia, des gerechten Gemeinwesens. Der große Basler Historiker Jacob Burckhardt hatte diese Polis beschrieben und in Verbindung zu seiner Heimatstadt gebracht.9 Der „Städtegeist“, den der aus Basel stammende Historiker und Diplomat Carl Jacob Burckhardt damals (1952) in seinem Nürnberger Vortrag rühmte,10 hatte hier seine Grundlage. Direkt daran schloss mein Jura-Studium in Basel an, mit der Vermittlung einerseits der gemeindlichen Selbstverwaltung, andererseits des Aufbaus des Bundesstaats auf unterschiedlich strukturierte Gliedkörperschaften, den Stadtkanton zwischen den Flächen-Kantonen. So präzis mein Lehrer Max Imboden die Struktur des demokratischen Bundesstaats erfasste, er ließ, ebenso wie sein Lehrer Zaccaria Giacometti,11 den unterschiedlichen Ausgestaltungen der Kantonsverfassungen Raum. Dabei bot für Basel damals auch eine eigenständige Presse Diskussionsforen.
Daher nahm ich auch Berlin als Stadtstaat wahr, erst 1957 als Student, dann seit 1964 als Assistent und seit 1970 als Hochschullehrer. Früh interessierte ich mich für die Zweistufigkeit der Zentral- und der Bezirksebene und begann zu ahnen, dass hier der damalige ehrenamtliche Stadtrat Hugo Preuß aus seinem Konzept städtischer Selbstverwaltung und städtischen Amtsrechts eine für die Reichshauptstadt passende Verfassungsform zu entwickeln versucht hatte.12 Allerdings schreckte mich schon damals die bürokratische Aufblähung des Verwaltungsapparats, und nach den politisch spannungsreichen Jahren, im weltpolitischen wie im universitären Bereich, lockte ein Wechsel.
In der Tat wirkte Bremen auf mich als besser funktionierendes städtisches Gemeinwesen. Ich nahm die jahrhundertealte reichsstädtische und die – vielleicht, auch unter dem Eindruck von 1848, zu optimistisch gesehene – republikanische Tradition im Deutschen Bund und Deutschen Reich wahr,13 erfuhr von deren Entwicklung zur Räterepublik, aber auch zu deren Unterdrückung durch die an sich doch auch die Republik bejahende Reichsregierung, schließlich von der bis 1933 standhaften Verteidigung gegen den Nationalsozialismus.14 Insofern sah ich im heutigen Bundesland Bremen weniger die Neugründung, als die Anknüpfung an die Tradition, und dass diese jetzt mit einer Universität verbunden wurde, betonte die Verwandtschaft mit Basel und erleichterte mir, heimisch zu werden.
1Begründet deshalb das Desiderat bei Peter Häberle, Die Zukunft der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen im Kontext Deutschlands und Europas, JZ 1998, S. 57 (65 mit Fn. 61), nach einer Stadtstaaten-Theorie; zu den dort gegebenen Literaturhinweisen ist namentlich Konrad Hummler/Franz Jaeger (Hrsg.), Stadtstaat – Utopie oder realistisches Modell?, Zürich 2011 nachzutragen.
2Dabei versteht sich, dass weitere Vergleichsgesichtspunkte von Interesse sind, etwa das Staatskirchenrecht und das städtische Baurecht.
3Dazu Peter Kalmbach/Christoph Schminck-Gustavus, in: Fischer-Lescano/Rinken u.a. (Hrsg.), Verfassung der Freien Hansestadt Bremen, Baden-Baden 2016, E 1 Rdnr. 4, 10, S. 77, 81. Aufschlussreich auch die Beiträge in Konrad Elmshäuser (Hrsg.), Der Stadtstaat. Bremen als Paradigma, Bremen 2005.
4Dazu Ernst R. Zivier, Berlin: Stadtstaat, kreisfreie Stadt oder Bundesbezirk? Recht und Politik 39, 2003, S. 81 ff. und dann die Neufassung des Art. 22 GG durch die Föderalismusreform, Gesetz vom 28.8.2006 (BGBl. I, S. 2034) und die daran anschließenden Überlegungen, dazu Wolfgang Bey/Thomas Flierl (Hrsg.), Die neue Hauptstadtdebatte, Berlin 2007 (mein Beitrag S. 40 ff.).
5Dazu Kurt